Über Gebet, Sehnsucht und Begehren. Von Isabella Bruckner.
Der diesjährige August gestaltet sich für viele nicht nur als Freiraum zwischen zwei Arbeits-, Schul- oder Studienjahren, sondern, wie zu befürchten ist, zudem als kurze Phase des Aufatmens zwischen zwei Wellen der Corona-Pandemie. Angesichts der Krise ist in den vergangenen Monaten kirchlicherseits besonders die Diskussion um rechtgefeierte häusliche oder Kleriker-bestückte Gottesdienste laut geworden, ebenso aber die Frage nach der Wirksamkeit des Gebets neu in den Blickpunkt gerückt. In diesem Sinne reagierte etwa der Wiener Moraltheologe Gunter Prüller-Jagenteufel in Aufnahme des protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffers auf pastorale Tendenzen, die in Anbetracht der eingeschränkten öffentlichen Feiermöglichkeiten auf Auffassungen vom Gebet zurückfielen, dessen angerufener Gott dem lückenbüßenden deus ex machina nur allzu ähnlich sah.[1]
„Auf der Suche nach dem Gebet“ betitelte auch Kurt Appel seinen am 16. April 2020 hier auf feinschwarz veröffentlichten Beitrag. In der Tat beschäftigt mich diese Suche nach dem Gebet – die ich, ohne dramatisieren zu wollen, durchaus als eine Suche nach dem „verlorenen Gebet“ bezeichnen würde – schon länger und nicht erst seit den Irritationen, die der Covid-19-Lockdown hervorgerufen hat. Ernsthaft zur Frage wurde es mir durch die Begegnung mit dem Fremden – konkreter: durch das Miterleben des Gebets von Musliminnen und Muslimen.
Es waren deren Gesten, die sich nicht so einfach in der privaten Innerlichkeit verbergen ließen und den profanen Raum plötzlich in einen Ort des Heiligen verwandelten, die mich – als Abkömmling des heute über weite Strecken säkular geprägten Abendlandes – befremdeten und zugleich faszinierten. Seitdem treibt mich die Frage, was es bedeutet, sich an jemanden zu wenden, der nicht unmittelbar da ist, sowie die Frage, was diese Gesten für das Sprechen und die Sprache an sich bedeuten könnten – und was es heißt, wenn diese Gesten (jedenfalls in den expliziten religiös tradierten Formen) eben nicht mehr statthaben.
Am ehesten lässt sich meine Suche wohl als ein Weg beschreiben, der auf den Spuren des französischen Historikers Michel de Certeau (1925–1986) die großen Texte der christlichen Spiritualitätsgeschichte sowie der Philosophie der französischen (Spät-)Moderne durchquert: die östlichen Väter, Augustinus, Ignatius von Loyola, nicht zuletzt die deutsche und spanische Mystik, aber eben auch Denker wie Jacques Lacan, G. W. F. Hegel oder Emmanuel Lévinas, die auf dieses Erbe unter veränderten Vorzeichen und Bedingungen erneut zurückgreifen.
Als leitender Topos begegnet in diesen Texten immer wieder die Bewegung der Sehnsucht bzw. des Begehrens, von der das Gebet in diesen unterschiedlichen Ansätzen wesentlich gekennzeichnet ist. Gebet als Ort des Begehrens also? Als Ort, der das Begehren – welches, gemäß den spirituellen Lehrer*innen, im Tiefsten das Begehren Gottes selbst ist – symbolisiert, zur Sprache kommen lässt, es von seinen unmittelbaren Objekten trennt, es lindert, ohne es je gänzlich zu befriedigen, sowie auf ungeahnte Weise neu ausrichtet? Eine erste Spur.
Neben dem Topos des Begehrens wurde mir auf dem bisherigen Weg im Weiteren Certeaus Übersetzung des Glaubens wichtig, die sich ebenso für das Gebet in Anschlag bringen lässt: Glauben heißt, dem Anderen „Platz zu machen“, sich von dem Gott, der in der Bibel so oft als Fremder, als Dieb oder als Gast überrascht, enteignen, verändern und neu schaffen zu lassen. Schon Hans Urs von Balthasar rekurrierte immer wieder auf das „Ja“ Mariens als Urbild allen Betens. Gebet demnach als Fleischwerdung des schöpferischen Wortes durch die Bejahung der Ankunft und des Wirkens des Anderen?
In der Tat könnte man dann, wie Appel dies in seinem Beitrag tut, das Gebet als generativen Prozess verstehen, „in dem die Welt jeweils neu […] geschaffen wird“; in welchem es um die Neuschöpfung der symbolischen Ordnung geht, in welcher die Nöte, Ängste und Leiden dieser Zeit vielleicht nicht auf direkte oder jedenfalls nicht in der unmittelbar erwarteten Weise gestillt werden, in dem jedoch dem Leben(digen), der Welt, den einzelnen Ereignissen und Beziehungen und nicht zuletzt dem Tod eine neue Bedeutung (und damit eine neue Existenz!) zukommt. Eine zweite Spur.
Gerade in dem von Certeau intensiv erforschten Bereich der Mystik erfährt der betende Gottesbezug jedoch häufig eine regelrechte Universalisierung. Möglicherweise lässt sich daher durch die Beleuchtung jener Orte, die die Kreativität und Generativität der Sprache und der Form auf andere Weise genuin zum Ausdruck bringen, ein tieferes Verständnis für das, was das Gebet ist, generieren, nämlich der Künste, die der erst vor Kurzem verstorbene Grazer Liturgiewissenschaftler Philipp Harnoncourt als „letzte Hüterinnen des Heiligen“ bezeichnete. Wo und welches sind die Übergänge vom Gebet zum Gesang, zur Musik, zur Malerei, zur Poesie, zum Tanz?
Die Suche nach dem Gebet geht weiter; vielleicht nicht mehr durch das direkte Abzielen auf seine Mitte hin, sondern auf Umwegen, durch das Abschreiten und Ausloten seiner Ränder.
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Isabella Bruckner ist Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Fundamentaltheologie der Katholischen Privat-Universität Linz.
[1] Prüller-Jagenteufel, Gunter: „Lehrt Not beten? Glaube und Aberglaube in der Corona-Krise“, in: theocare.network. Theologie im Zeichen von (Post)Corona (27.04.2020): https://theocare.wordpress.com/2020/04/27/lehrt-not-beten-glaube-und-aberglaube-in-der-corona-krise-gunter-pruller-jagenteufel/; sowie Teil 2 (28.04.2020): https://theocare.wordpress.com/2020/04/28/lehrt-not-beten-glauben-und-aberglauben-in-der-corona-krise-gunter-pruller-jagenteufel/ 1
- 07.2020 ↩