Paul Weß, einer der Pioniere der nachkonziliaren römisch-katholischen Gemeindetheologie, reagiert nach Christian Hennecke auf den vielbeachteten Amtsverzicht von Pfarrer Thomas Frings (Münster).
Thomas Frings, Pfarrer der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Münster, hat zu Ostern mit Zustimmung seines Bischofs sein Amt zurückgelegt, um sich in ein Kloster zurückzuziehen und über die Zukunft der Kirche und seines Dienstes als Priester nachzudenken. Die Gründe dafür legte er in einer Erklärung unter dem Titel „Kurskorrektur!“ dar. Er nennt zunächst:
– die schwindende Zahl der Aktiven in der Kirche und die wachsende Zahl der Kirchenaustritte,
– dass die Eintritte in die Priesterseminare mancherorts auf eine Null-Linie zusteuern,
– dass sich die Hoffnung, in Kindergärten und Schulen den Glauben wirksam verkünden zu können, nicht erfüllt hat,
– dass das soziale Engagement der Kirche allein auf Dauer nicht als Argument für die Kirchenmitgliedschaft genügt.
Anschließend geht Pfarrer Frings ausführlich auf die Problematik ein, die ihn am meisten belastet: auf die Unwirksamkeit der Vorbereitung auf Taufe, Erstkommunion, Firmung und Trauung sowie des Empfangs dieser Sakramente. Er verweist dabei auf viele eigene schmerzliche Erfahrungen.
Servicekirche
Wohin könnte und sollte aber eine solche von Pfarrer Frings angestrebte „Kurskorrektur“ führen? Bevor auf diese Frage in einigen Schritten eine Antwort gesucht wird, ist zunächst zu bedenken: Es wäre wohl verfehlt, die volkskirchliche Tradition der Seelsorge, auch wenn sie oft den Eindruck einer Pflege religiösen Brauchtums erweckt, einfach aufzugeben, bevor man eine positive Vorstellung hat, welche Gestalt die Kirche in Zukunft haben soll, und diese zumindest anfanghaft verwirklicht ist. Dies schon deshalb, weil die Kirche die finanziellen Beiträge ihrer Angehörigen, die die Spendung dieser Sakramente erwarten, nach wie vor entgegennimmt. Vor allem aber kann man in einer persönlichen Hinführung zu diesen Feiern, die allerdings in unüberschaubar großen Pfarren kaum möglich ist, immer wieder erfahren, dass die Menschen, die diese Dienste in Anspruch nehmen, nach einem Sinngrund in ihrem Leben suchen, selbst wenn sie nicht an einen solchen glauben können. Und die Kirche muss sich dessen bewusst sein, dass die meisten von ihnen bereits als kleine Kinder in diese „Servicekirche“ aufgenommen wurden, ohne – in den meisten Fällen – zu einer eigenen Glaubensentscheidung geführt worden oder gelangt zu sein. Eine solche wurde fast nur Ordensleuten und Priestern ermöglicht und zugetraut.
Warum es zu dieser Krise kam
Für diese Entwicklung gibt es geschichtliche Gründe, die bis in die Frühzeit der Kirche zurückreichen: Als im dritten Jahrhundert die Christenverfolgungen nachließen, wuchsen die zunächst kleinen Gemeinden auf Grund ihrer Anziehungskraft rasant an, ohne geteilt zu werden; um 250 lebten in Rom ca. 30.000 Christen in einer „Gemeinde“. Das führte zu einer „Vermassung“ und „Anonymisierung“ in der Kirche, weshalb die Geschwisterlichkeit der Gläubigen untereinander nicht mehr gelebt und daher auch nicht erfahren werden konnte. Von da an wurden die Amtspriester nicht mehr „Brüder“, sondern „Väter“ genannt, es bildete sich eine Hierarchie. Das Wachstum dieser „Volkskirche“ verstärkte sich noch, als die Kirche die volle Freiheit erhielt und sogar zur Staatskirche wurde; denn es war nun vorteilhaft, dazuzugehören.
Überschaubare (Basis-)Gemeinden
Damit verbunden war das Ende der vorher üblichen mehrjährigen Hinführung der Erwachsenen zur Taufe, weil diese nun auf Grund des Massenandrangs nicht mehr möglich war und die für das Hineinwachsen in den Glauben nötigen Gemeinden fehlten. Außerdem wurde die Säuglingstaufe immer mehr zum Normalfall der Aufnahme in die Kirche. Das hing auch damit zusammen, dass nach der Erbsündenlehre des „Kirchenvaters“ Augustinus verstorbene ungetaufte Kinder nicht in den Himmel gelangen konnten; dieser hielt es sogar für berechtigt, Ungläubige um ihres Heiles willen unter Zwang zum Glauben zu bringen. Die Konsequenzen der Religionsfreiheit für die Praxis der Kindertaufe hat die Kirche auch heute noch nicht gezogen (vgl. den Beitrag „Taufe von Kleinkindern und Religionsfreiheit“ in: FURCHE 35/2012, Seite 18). Bereits aus diesem Rückblick ergibt sich, dass die Kirche wieder zu ihrer Strukturierung in überschaubare (Basis-)Gemeinden, wie sie an ihrem Anfang standen, zurückfinden müsste, um die von Pfarrer Frings genannten Probleme zu überwinden.
Auch der Glaube steht in Frage
Doch besonders im westlichen Europa spielt noch ein weiterer Tatbestand in der gegenwärtigen Situation der Kirche eine entscheidende Rolle: Religion überhaupt und somit auch der christliche Glaube wurden zutiefst in Frage gestellt, und zwar durch Aufklärung und Religionskritik, die sich in diesen Ländern durch die entsprechende Bildung in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet haben, durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die anscheinend die Welt auch ohne Gott erklären, sowie durch die erfahrbare Pluralität der Weltanschauungen und Religionen im Unterschied zu der früher einheitlich „christentümlichen“ (so Paul Zulehner zur Unterscheidung von einer wirklich christlichen) Gesellschaft. Dazu kommt noch die ungelöste Frage nach der Vereinbarkeit des Glaubens an Gott mit dem Leid in der Welt, die Menschen in ihrem Glauben zutiefst verunsichert und eigentlich eine Korrektur des traditionellen religiösen Weltbilds samt seinen Vorstellungen von göttlicher Allmacht erfordert. Auch die Bibel ist ganz davon geprägt.
Glaubensfrage
Pfarrer Frings geht auf diese Problematik im Hintergrund der derzeitigen Kirchenkrise nicht ein. Manche Bischöfe sagen zunächst durchaus mit Recht, die wichtigste Ursache für die Krise der Kirche sei zumindest in unserem Kulturkreis die Krise des Glaubens. Der Fehler dabei ist aber, dass sie sich diesem Problem nicht wirklich stellen, sondern meinen, die Glaubensfrage auf die bisherige Weise beantworten zu können: durch Rückführung auf eine Offenbarung, die nicht als Weckung eigener Einsicht verstanden wird, sondern deren Wahrheit damit begründet wird, dass es sich um eine Offenbarung Gottes handelt (ein Zirkelschluss); sowie durch die Berufung auf die Bibel als irrtumsloses Wort Gottes oder auf das unfehlbare Lehramt der Kirche, die mit dieser Unfehlbarkeit diese selbst und die Unveränderlichkeit ihrer Lehre begründen will. Das genügt heute nicht mehr als Antwort auf die Glaubensfrage.
Gemeinden als Erfahrungsräume
Aus dieser Krise wird die Kirche nur durch die Einsicht herausfinden, dass der Glaube heute nicht mehr mit überlieferten Lehren begründet werden kann, sondern auf persönlichen Erfahrungen beruhen muss, die das Leben als Geschenk Gottes als des sinngebenden Grundes unseres Lebens deuten lassen. Der ausschlaggebende Raum dafür kann nur die mitmenschliche Liebe sein, in der wir erst unser Leben als sinnvoll und geglückt erleben können. Wenn es nun gelingt, eine solche Praxis als prinzipiell für alle möglich zu realisieren, wäre diese der entscheidende Ort, an dem sich Gott erweisen kann. Dies könnte und sollte vorrangig in den Gemeinden der Kirche geschehen, in denen Menschen nach dem Beispiel Jesu zumindest in einem Vorschuss an Vertrauen auf diesen Gott die Liebe untereinander verwirklichen und so von einem Gott, der „Liebe ist“ (1 Joh 4,8.16), Zeugnis geben; natürlich auch durch ihren gemeinsamen Einsatz für andere.
Lebenteilen
Die entsprechenden Gemeinden können auf Grund der menschlichen Grenzen eine gewisse Größe nicht überschreiten, erfahrungsgemäß von etwa 70 bis 100 Erwachsenen mit den dazugehörigen Kindern. Wenn sie darüber hinaus wachsen, müssen sie bereit sein, sich zu teilen, damit in jeder Gemeinde die Beziehungen zwischen allen möglich bleiben; vgl. Joh 13,35: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ In solchen geschwisterlichen (Basis-)Gemeinden können sich die sakramentalen Zeichen wieder mit dem Leben decken; so auch das „Brotbrechen“ als „Lebenteilen“ von Jesus mit uns und von uns untereinander oder die Taufe als Aufnahme in diese Gemeinschaft als Sakrament einer Geborgenheit in Gott.
Wie die Erfahrung zeigt, ist es aber äußerst schwierig und fast eine Überforderung, in einer Pfarre sowohl auf die Bildung solcher (Basis-)Gemeinden hinzuwirken und diesen Prozess zu begleiten, als auch in verantwortbarer Form die Erwartungen aller Pfarrangehörigen auf eine gute seelsorgliche Betreuung zu erfüllen. Zu dieser gehört es dann auch, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die einzelnen Sakramente eigentlich eine Kirche in Gemeinden als das nötige Grundsakrament voraussetzen, um glaubwürdig gespendet und mitvollzogen werden zu können. Im Verlauf einer solchen Sakramentenvorbereitung sagte ein Vater zum Priester: „Ich habe genau verstanden, was Sie hier wollen. Wenn Kirche für mich je wieder interessant wird, dann nur so. Aber mich sehen Sie noch lange nicht.“ – Vielleicht wird das besser gelingen, wenn die Bildung dieser Gemeinden als der eigentlichen Orte und Träger der Seelsorge nicht nur in einzelnen Pfarren, sondern in ganzen Diözesen – wie jetzt schon in Lateinamerika, in Afrika und auf den Philippinen – zum vorrangigen Ziel der kirchlichen Praxis erklärt und entsprechend gefördert wird.
Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance
Karl Rahner schrieb 1972 in seinem Buch „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“: „Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, die sich von unten her durch Basisgemeinden freier Initiative und Assoziation aufbaut. … Man kann und darf natürlich hier und heute die gleichmäßig sich über das Territorium beinahe im Stil von Polizeirevieren ausgebreiteten Pfarreien nicht einfach abschaffen. … Aber die Pfarreien im Sinn von Verwaltungssprengeln der Amtskirche, die von oben her Menschen betreut, sind nicht die Basisgemeinden, die von unten her die Kirche in der Zukunft aufbauen müssen.“ Dies schließt nach Rahner nicht aus, „dass in sehr vielen, ja vielleicht in den meisten Fällen eine solche morgen notwendige Basisgemeinde durch eine lebendige Fortbildung der bisherigen Pfarreien entstehen wird“. Aber „alles beruht auf der Grundeinsicht, dass konkretes und lebendiges Christentum heute und vor allem morgen … in die Zukunft getragen werden muss durch das Zeugnis und das Leben einer echten christlichen Gemeinde, die konkret vorlebt, was mit Christentum eigentlich gemeint ist“.