Als Theologe im Berliner Wissenschaftskolleg: Georg Essen berichtet über seine Erfahrungen.
Auf vielfältige Weise hat Papst Franziskus die Katholikinnen und Katholiken aufgefordert, um des Evangeliums willen an die geographischen und existentiellen „Ränder“ und „Grenzen“ zu gehen. In der apostolischen Konstitution „Veritatis gaudium“ von 2017, die die kirchlich-theologischen Studien regelt, findet sich, was die Zunft der Theologinnen und Theologen betrifft, diese Aussage: „Der Theologe, der sich an seinem vollständigen und abgeschlossenen Denken ergötzt, ist mittelmäßig. Der gute Theologe und Philosoph hat ein offenes Denken, das heißt es ist nicht abgeschlossen, immer offen für das ‚maius‘ Gottes und der Wahrheit, immer in Entwicklung begriffen […].“
Wer für ein akademisches Jahr von allen universitären Pflichten freigestellt ist, um im großbürgerlichen Berliner Stadtteil Grunewald ungestört und frei seiner Forschung nachgehen zu dürfen, scheut sich, die Rede von den „Rändern“ und „Grenzen“ auf seine wohlbehütete Existenz im dortigen Wissenschaftskolleg zu beziehen. Es besteht aus einem Ensemble herrschaftlicher Villen, das Unterkünften und Bibliothek ebenso Platz bietet wie Tagungs- und Restauranträumen.
Intellektueller Freiraum
Die Grundidee dahinter ist, bis zu 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzuladen, um ein akademisches Jahr lang ihren je individuellen Forschungsthemen nachzugehen. Das WiKo ist anders konzipiert, als dies beispielsweise in Graduiertenkollegs oder Sonderforschungsbereichen der Fall ist, in denen man gemeinsam und ergebnisorientiert an einem übergeordneten Thema arbeitet. Das WiKo schafft und, wichtiger noch, schützt einen intellektuellen Freiraum, und es ist an den Fellows, ihn mit Leben zu füllen und kreativ zu gestalten. Es herrscht der zwanglose Zwang zur Präsenz, mehr aber auch nicht. Wobei ich gestehen darf, dass dies eine recht angenehme Pflicht ist in Berlin, in der meine Frau und ich gerne Flaneure, Verweilende, Neugierige und Vorbeieilende waren.
Ein Fellowjahrgang ist stets international und interdisziplinär konstelliert. So war ich beispielsweise der einzige Theologe, der zusammen mit Historikern, Juristinnen, Naturwissenschaftlern, Literaturwissenschaftlerinnen, Ethnologen und Soziologinnen im WiKo leben und forschen durfte. Das trans- und interdisziplinäre Miteinander gestaltet sich in einem freien Assoziationszusammenhang und offenen Echoraum. Verpflichtend sind allein die regelmäßigen Mahlzeiten, insbesondere jedoch die wöchentlich stattfindenden Kolloquien.
Habitus einer theoretischen Neugierde, intellektuellen Offenheit und echten Aufmerksamkeit
Viele Wissensgebiete und Fachkulturen trafen hier aufeinander. Gleichwohl waren wir Teil einer gemeinsam geteilten Reflexionskultur, die sich weniger über Themen definierte, als vielmehr über den Habitus einer theoretischen Neugierde, intellektuellen Offenheit und echten Aufmerksamkeit. Für einen Theologen, der sich, siehe oben, „an seinem vollständigen und abgeschlossenen Denken“ ergötzen wollte, wäre hier tatsächlich kein Platz. In ungezwungener Atmosphäre begegnete man klugen Köpfen, gebildeten Gelehrten und faszinierenden Menschen. Der Alltag mit ihnen verhalf mir zu allenthalben fälligen Häutungen und Klärungen.
Beides, ein Kantischer Republikanismus und ein aufgeklärter Liberalismus, gehört – lehramtlich wie fachwissenschaftlich – nicht gerade zu den normativen Selbstverständlichkeiten meiner Kirche. Die Entscheidung zu einer solchen Selbstpositionierung dürfte am Ende biographisch wie intellektuell von größerer Bedeutung sein, als das Buch, das man im WiKo zu schreiben gedenkt.
Bedrohung von innerer Liberalität offener Gesellschaften
Im Mittelpunkt meines Projekts stand ursprünglich die Frage nach der Selbstverortung von Religionen im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft. Am Beispiel des Katholizismus wollte ich erforschen, unter welchen politischen und soziokulturellen Bedingungen es Religionen gelingen kann, die ihnen gesellschaftlich vielfach abverlangte Affirmationsleistung zu erbringen, sich die Prinzipien des modernen Religionsverfassungsrechts aus ihrem Glauben heraus zu eigen zu machen.
Aber die bedrohliche politische Gemengelage, die wir heute erleben, forderte mich heraus, mein Thema von Grund auf neu zu überdenken. Die Bedrohung von innerer Liberalität offener Gesellschaften und demokratischer Rechtsstaatlichkeit ist keineswegs eine bloß theoretische Angelegenheit! Das wird einem rasch klar, wenn man ein Jahr lang mit Fellows aus Syrien, Polen, der Türkei oder Pakistan zusammenlebt.
Ein toxisches Gemisch
Dass in politisch aufgeregten Zeiten die Praxis der Theorie Fragen vorgibt, die nach Antworten verlangen, blieb jedenfalls nicht ohne Auswirkungen auf die Konzeption meines Projekts. Die Verfugung von Demokratie- und Souveränitätstheorien mit verfassungskulturellen Vorstellungen über religiös imprägnierte Traditionen und Narrative bedarf, so die Einsicht, dringend der theologischen Reflexion und interdisziplinären Neubegründung. Gegenläufig zu der Bedeutung, die dem Souveränitätsbegriff in staats- und verfassungsrechtlichen Diskursen beigemessen wird, ist er in der katholischen Theologie – anders als dies im 19. Jahrhundert noch der Fall war – gegenwärtig ein blinder Fleck und wird, wenn überhaupt, eher stiefmütterlich behandelt.
Ein toxisches Gemisch aus einer Skepsis der liberalen Demokratie gegenüber, einer gebrochenen, unter Vorbehalt gestellten Identifikation mit modernen Freiheitsrechten sowie einer strikten Negierung des Autonomieprinzips blockiert katholischerseits die theologische Rezeption neuzeitlicher Demokratie- und Souveränitätskonzeptionen. Aufgrund meiner Forschungen komme ich zu dem Schluss, dass die These vom Zweiten Vatikanum als einem Prozess „nachholender Selbstmodernisierung“ nur sehr begrenzt haltbar ist, wenn auf das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum modernen Staat geblickt wird.
Traditionell-vormodernes Konzept einer sakral-religiösen Letztbegründung des Staates
Diese These mag in politisch-theologischer Hinsicht in Ansätzen zu plausibilisieren sein, wenn man enggeführt und mit Scheuklappen allein auf die konziliare Erklärung zur Religionsfreiheit, Dignitatis humanae, schaut. Von der Behauptung einer nachholenden Selbstmodernisierung bleibt jedoch meines Erachtens wenig bis gar nichts übrig, wenn man auf die kirchliche Haltung zur liberalen Demokratie achtet, die sich in der Moderne als Praxis politischer Selbstbestimmung begreift. Autonomiefreiheit als normativer Kern der liberalen Demokratie, der sich im Prinzip der Volkssouveränität verdichtet, wird von der Kirche bis heute strikt zurückgewiesen, da sie an dem traditionell-vormodernen Konzept einer sakral-religiösen Letztbegründung des Staates bis in die Gegenwart hinein festhält.
Die Auffassung, der Staat gehöre zu der „von Gott vorherbestimmte[n] Ordnung“ (Gaudium et spes 74,3), verweist auf sakrale Legitimationsquellen und lässt sich mit dem Grundverständnis eines demokratischen Verfassungsstaates schlechterdings nicht verbinden. Auch die Souveränitätstheorie der nachkonziliaren Staatslehre steht bruchlos in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Es gilt nach wie vor das Axiom, dass die göttliche Welt- und Naturordnung das Fundament der politischen Ordnung bildet und den Grundcharakter der politischen Ordnung des Zusammenlebens festlegt. Und noch immer ist die Doktrin in Geltung, dass die Legitimität des liberal-demokratischen Verfassungsstaates unter dem Vorbehalt steht, mit dem Sittengesetz, wie es die Kirche versteht und letztverbindlich auslegt, übereinstimmen zu müssen.
Nicht länger ausweichen
Spätestens seitdem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán das Ende des Zeitalters der liberalen Demokratie ausgerufen hat und stattdessen die Schaffung einer „christlichen Demokratie“ einfordert, ist vollends deutlich, dass der Konflikt um den politischen Liberalismus unausweichlich zu einem politisch-theologischen Thema auch für die römisch-katholische Kirche geworden ist, dem sie nicht länger ausweichen kann. Ihr noch stets ungeklärtes Verhältnis zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat eröffnet für den Bestand offener Gesellschaften keine Zukunftsperspektiven, weil sie keine konstruktive Antwort zu geben weiß auf hochkomplexe demokratietheoretische Grundlagen unserer Gegenwart und deren Krisenerscheinungen.
Man stößt als katholischer Theologe schon an seine Schmerzgrenzen, wenn man die Gelegenheit nutzt, die lehramtlichen Texte des 19. und 20. Jahrhunderts zur katholischen Staatslehre in der gebotenen Ausführlichkeit vollständig zu lesen. Was für eine Gegenwartsverachtung spricht – man denke nur, pars pro toto, an die Rede von der „Diktatur des Relativismus“ – aus diesen Dokumenten und Verlautbarungen! Als ob eine katholische Lebensform, die nicht bloß privat entweltlicht, sondern öffentlich präsent sein will, diesseits liberaler Bürgerlichkeit und einer Akzeptanz des gesellschaftlichen Pluralismus überhaupt noch lebbar wäre und intellektuell verantwortet werden könnte!
Macht Wahrheit frei oder Freiheit wahr?
Und so stößt man dann doch als Theologe an „Ränder“ und „Grenzen“, wenn man der Frage nicht mehr ausweichen mag: Warum eigentlich traut die Kirche ihrer Wahrheit so wenig Überzeugungskraft zu, die doch frei macht? Und man kommt erst recht ins Grübeln, wenn theologischerseits tatsächlich noch ernsthaft die Frage zur Diskussion vorgelegt wird, ob denn nun die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr mache. Dass hier allen Ernstes eine Alternative bestehen soll, versteht, wohl nicht nur in Berlin, von den Gebildeten unter den Verächtern der Religion wahrlich keiner mehr.
Georg Essen ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Bochum.
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