Es mehren sich die Zeichen, dass die mangelnde Rollenklärung beim Beteiligungskonzept Betroffener die Konfrontation verschärft und zu neuerlichen Verletzungen auf mehreren Seiten führt. Analysen und ein Lösungsvorschlag von P. Klaus Mertes SJ.
Im Frühling 2010 gründeten Betroffene von sexuellem Missbrauch in Jesuiten-Institutionen den „Eckigen Tisch“. Der Titel legt den Eindruck nahe, dass der Tisch gerade nicht „rund“ sein sollte. Der Weg begann mit der Konfrontation. Mir scheint das tatsächlich die geeignete Anfangs-Konstellation für die Aufarbeitung zu sein, wenn diese in der direkten Begegnung von Betroffenen und der Institution verläuft. Die Konfrontation kann dann, muss aber nicht zur Kooperation führen.
Eckiger Tisch
Es ist für die Gestaltung von Aufarbeitungsprozessen nicht auszuschließen, dass Betroffene sehr unterschiedliche, sogar einander widerstreitende Gefühle haben und entsprechend unterschiedliche Interessen gegenüber der Institution formulieren. Diese Unterschiede können in ihrer Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit auch nach außen treten. Für die Institution entsteht die Versuchung, zwischen „netten“ und „garstigen“ Betroffenen zu unterscheiden – sich sogar bei den einen Betroffenen für den Umgang mit den anderen Betroffenen beraten zu lassen, oder sich auf die einen zu berufen, um sich von den anderen abzugrenzen. Das alles ist dann letztlich wieder Instrumentalisierung. Auch die Institution muss sich also in dem Sinne „eckig“ positionieren, dass sie gerade nicht zwischen Betroffenen und Betroffenen unterscheidet. Das bedeutet zwar nicht, dass die Institution in keinem Falle mit den einen oder anderen Betroffenen Konflikte eingehen oder kooperieren darf, wohl aber, dass sie nicht durch ihr Verhalten Spaltungen verschärft.
Unterschiedliche Schutzbedürfnisse
Betroffene haben in Aufarbeitungsprozessen auch unterschiedliche Schutzbedürfnisse. Bei der Bildung des Betroffenenbeirates für die MHG-Studie etwa wurden diejenigen Betroffenen nicht einbezogen, die sich bewarben, dabei aber die Bedingung stellten, nur unter Anonymitätsschutz mitzuarbeiten. So wurden die unterschiedlichen Schutzbedürfnisse konstitutiv für die Möglichkeiten der Beteiligung – mit welcher Berechtigung? Und es gibt schließlich auch die Schutzbedürfnisse der Betroffenen voreinander. Viele Betroffene wollen nicht, dass andere Betroffene wissen, dass sie Betroffene sind.
Anders gestaltete sich die Ausgangslage beim Modell „Runder Tisch“. Hier kann ein Einstieg funktionieren, wenn und weil die Runde von einer unabhängigen Instanz einberufen wird. Der „Runde Tisch Heimerziehung“ etwa wurde 2009 auf Vorschlag des Petitionsausschusses des Bundestages eingerichtet. Die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer moderierte ihn. Ein ausführlicher Abschlussbericht mit Lösungsvorschlägen wurde am 10.12.2010 vorgelegt. Ähnlich bildete der UBSKM (Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) im Frühjahr 2015 einen Betroffenenbeirat.
Auch in diesem Falle konnte von Anfang an auf das Modell der Kooperation gesetzt werden, mehr noch: Der UBSKM sah es von Anfang an als Teil seines Selbstverständnisses an, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen und ihnen somit das dringend benötigte Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Der UBSKM positionierte sich in den letzten Jahren damit eher an der Seite der Betroffenen und eher „eckig“ gegenüber den Institutionen. Die öffentlich hörbaren Dissonanzen zwischen UBSKM und Bischöfen/Orden, die mehr oder weniger bis zu der Vereinbarung über die Standards der Aufarbeitung vom 8. April 2020 andauerten, haben u.a. auch hierin ihren Grund.
Betroffenenbeiräte in den Diözesen
Auf Grund der Vereinbarung begannen die Diözesen, Betroffenenbeiräte zu bilden. Die Prozesse sind noch nicht abgeschlossen, aber so viel lässt sich sagen: Mit der Bildung von Betroffenenbeiräten in den Diözesen ändert sich deren Ausgangslage im Verhältnis zu den kirchlichen Institutionen im Vergleich etwa zu der Position des Betroffenenbeirates des UBSKM. Betroffene kirchlichen Missbrauchs können einer staatlichen Institution wie dem UBSKM gegenüber mehr Vertrauen entgegenbringen, als dies gegenüber Bischöfen, Orden und Diözesen aus systemischen Gründen möglich ist. Vertrauen kann seitens der Betroffenenbeiräte im kirchlichen Kontext auch nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden. Das macht den Einstieg über das Modell der Kooperation riskant. Schließlich soll der Betroffenenbeirat Vertreter einer Institution beraten, die ihrerseits gerade nicht ein neutrales, unabhängiges Verhältnis zu ihnen hat – und umgekehrt.
Überschätzung der Verantwortung der Betroffenen für die Institution
Instrumentalisierung von Betroffenen, wie sie exemplarisch in der Kölner Krise des vergangenen Winters geschah, ist die Kehrseite einer Überschätzung der Verantwortung der Betroffenen für die Institution – mit riskanten Folgen gerade auch für die Betroffenen. Die Überschätzung wird besonders deutlich, wenn Betroffenen eine in Leitungsfunktionen übergehende Beteiligung an Aufarbeitungsprozessen und damit auch letztlich an der Leitung der Institution angetragen wird. Forderungen dieser Art stehen im Raum, wenn zum Beispiel im Zusammenhang mit Aufarbeitungsprozessen von Machtmissbrauch in Institutionen eine „konsequente Umkehrung der Verhältnisse“ gefordert wird: „Ohnmächtige und zum Opfer von Machtmissbrauch gewordene Personen haben nicht nur im Boot von Organisationsentwicklungs-Prozessen zu sitzen (das tun sie in der systemischen Logik ohnehin), sondern gehören meines Erachtens an das Ruder bzw. Steuer einer ‚lernenden Organisation‘ ‒ vorausgesetzt, sie sind vom Sinn des angestrebten Wandlungsprozesses überzeugt und deshalb bereit, mit in die Sinnstifterrolle zu gehen.“1
Die Schärfe der Sprache beruht auf der Dramatik des Machtkampfes, wie er von der Opferseite erlebt wird.
Was geschieht aber, wenn Opfer von sexuellem Missbrauch diese Rollenzuweisung annehmen? Die Erfahrung des Missbrauchs war eine Erfahrung der absoluten Ohnmacht. Sie stürzte die Opfer in einen Überlebenskampf. Dieser Kampf ist noch nicht zu Ende gekämpft, und er hat notwendigerweise auch den Aspekt eines Machtkampfes, gerade auch von der Opferseite her – um zu überleben. Im Rahmen von Aufarbeitungsprozessen ist es dann nur zu naheliegend, dass dieser Machtkampf fortgeführt wird, insbesondere dann, wenn die ursprüngliche Erfahrung der Ohnmacht wieder angetriggert wird. Daher auch das hoch emotionale Vokabular auf der Opferseite im Kontext von Konflikten mit der Institution: „Wir sind wütend.“ „Die Opfer werden verhöhnt.“ „Die Opfer werden ein zweites Mal viktimisiert.“
Die Schärfe der Sprache beruht auf der Dramatik des Machtkampfes, wie er von der Opferseite her erlebt wird. Daher auch der kategorische Forderungston öffentlicher Erklärungen von Betroffenenorganisationen und Betroffenenbeiräten, die wenig Spielraum für Verhandlung und Kompromiss lassen. Daher auch der Einstieg von Betroffenenbeiräten in innerkirchliche Macht- und Richtungskämpfe. Vulneranz auf der Opferseite (als verletzende Strategie des Selbstschutzes verletzter Personen) vertieft im Fall der Fälle die Spaltung zwischen Betroffenen und Institution.
Die emotionale Wucht wird verstärkt durch die Sympathie, die Betroffene in der medialen Öffentlichkeit haben, zumal sich die Öffentlichkeit als „vierte Gewalt“ eher als kritische Instanz gegenüber den Institutionen versteht denn als kritische Instanz gegenüber Betroffenenäußerungen, die oft genug auch ohne Gegenrecherche übernommen werden. Dies führt wiederum – innerhalb und außerhalb der Institution – zu Instrumentalisierungen von Betroffenenäußerungen je nach Bedarf, und im Fall der Fälle zum definitiven Scheitern der Beteiligung der Betroffenen und der Aufarbeitung selbst. So stehen am Ende wieder alle am Anfang, vielleicht sogar noch mehr als vorher. Eine Echternacher Springprozession in umgekehrter Richtung.
Das kooperative Modell vertieft im Ergebnis die Gräben mehr als das konfrontative Modell
Wohlgemerkt: Betroffenen stehen alle genannten Äußerungen und Äußerungsformen zu. Sie haben allerdings im Rahmen eines Konzepts der Beteiligung durch Beiräte für die Aufarbeitung eine andere Wirkung, als wenn sie von Anfang an in einer unabhängigen, „eckigen“ Konstellation getätigt werden und getätigt werden können. Das kooperative Modell vertieft so im Ergebnis die Gräben mehr als das konfrontative Modell es tut. In der „eckigen“ Konstellation wird die Tiefe des Grabens zunächst einmal respektiert, und dadurch gerade nicht vertieft. Erst wenn der Respekt vor der Tiefe des Grabens auf beiden Seiten gegeben ist, kann die Augenhöhe zwischen Institution und Betroffenen überhaupt erst zu wachsen beginnen.
Beim kooperativen Modell wird die Augenhöhe zwar wortreich behauptet und auch von allen möglichen Beteiligten angemahnt. Aber gerade dadurch wird sie noch weniger erreicht, als wenn man von Anfang zugibt, dass die Augenhöhe in der Ausgangslage noch gar nicht bestehen kann, sondern erst wachsen muss. Es ist ja eine doppelte Asymmetrie, die den Ausgangspunkt im Verhältnis von Betroffenen und Institution ausmacht: Macht und Ohnmacht einerseits, Anklage und Schuld andererseits.
Rollenunsicherheiten und Rollenunklarheiten
Es mehren sich die Zeichen, dass die mangelnde Rollenklärung beim Beteiligungskonzept, wie es zwischen UBSKM und DBK vereinbart worden ist, die Konfrontation verschärft und zu neuerlichen Verletzungen auf mehreren Seiten führt. Die EKD hat die Zusammenarbeit mit dem im Herbst 2020 gebildeten Betroffenenbeirat bereits „ausgesetzt“2. Das Ausmaß der Spannungen wird in den Versuchen einer Wiederaufnahme der Gespräche auf dem Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt/M. im Mai 2021 deutlich.3
Die von Bischof Ackermann jüngst eingeführte Unterscheidung zwischen Betroffenen, die „Aktivisten“ sind, und solchen, die es nicht sind,4 weist gleichfalls auf sehr riskante Rollenunsicherheiten und Rollenunklarheiten hin, deren Klärung im Nachhinein eigentlich zu spät ist: Beiräte sollten nach der Auffassung von Bischof Ackermann nicht „mehrheitlich durch Aktivisten“ besetzt werden. Der Kreislauf von Verletzung und Gegenverletzung, der Strudel von Vulnerabilität und Vulneranz wird hier deutlich.
Schlüssel zur Lösung: die Unabhängigkeit der Aufarbeitungskommission
Gibt es einen Ausweg? Der Schlüssel zur Lösung liegt wieder bei der Unabhängigkeit der Aufarbeitungskommission – einer Unabhängigkeit, die bei den zwischen UBSKM und DBK vereinbarten Standards letztlich nicht gegeben ist. Sollte es jemals zu einer unabhängigen, nicht kirchlichen Aufarbeitungskommission kommen, die seitens der Kirchen (und vergleichbarer Institutionen) durch Selbstbindung der Bischöfe mandatiert ist, ergibt sich aus den genannten Erfahrungen eine weitere, zusätzliche Erkenntnis: Um die Beteiligung der Betroffenen zu sichern, müsste dann die Einrichtung einer unabhängigen Kommission einhergehen mit einem Rahmen, der Betroffenen zur Verfügung gestellt wird und der es ihnen möglich macht, sich selbst zu organisieren, um dann den jeweiligen Institutionen gegenüberzutreten – und auch der unabhängigen Aufarbeitungskommission selbst. Solange es das nicht gibt, steht letztlich nur die eckige Konstellation zur Verfügung.
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Pater Klaus Mertes SJ ist Redaktionsmitglied der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“ und seit dem 1. Januar 2021 Superior des Ignatiushauses in Berlin. Als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin war er eine zentrale Figur bei der Aufdeckung des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche Deutschlands.
Von ihm eben erschienen: Den Kreislauf des Scheiterns durchbrechen. Damit die Aufarbeitung des Missbrauchs am Ende nicht wieder am Anfang steht, Ostfildern (Patmos) 2021
- Ulrich Feeser-Lichterfeld, Kirche und Organisationsberatung. Pastoralpsychologische Überlegungen angesichts von Machtmissbrauch, in: Jochen Sautermeister/Andreas Odenthal (Hrsg.), Ohnmacht. Macht. Missbrauch – Theologische Analyse eines systemischen Problems, Freiburg/Br. 2021, 134-152, 152. ↩
- EKD löst Betroffenenbeirat auf – Mitglieder kritisieren Vorgehen: katholisch.de. ↩
- Katholisch.de, 15.5.2021: Der Kirchentag tut sich mit dem Missbrauchsthema schwer. ↩
- Katholisch.de, 15.5.2021 – Aktivisten? Ackermann für Rollenklarheit in Betroffenenbeiräten. Anmerkung der Redaktion 19.5.: Bischof Ackermann hat inzwischen seine Wortwahl bedauert. ↩