Gregor Dewey ist Architekt, Gregor Maria Hoff ist Theologe. Gemeinsam laden sie zum Besuch einer neugebauten Kirche ein – im Umfeld des Braunkohletagebaus von Lützerath.
Lützerath – ein Ortsname ist zum Fanal der Auseinandersetzungen um den Braunkohletageabbau geworden. Wer sich Luftaufnahmen des Areals ansieht, schreckt vor dem Ausmaß des Eingriffs in einen natürlichen Lebensraum zurück, der auch in kirchlicher Perspektive massive Folgen hat. Nahe Lützerath mussten vier Gemeinden ihre Kirchen aufgeben. In einem neuen Wohngebiet sollte dafür ein eigener Kirchenbau entstehen. Während Kirchen derzeit überall in Deutschland aufgegeben oder umgewidmet werden, stellte sich für die beteiligten Gemeinden und die verantwortlichen Architekten die Aufgabe, einen neuen Ort kirchlichen Lebens zu entwickeln.
Der Entwurf – die architektonische Perspektive
Erinnerung – Hoffnung – Neuanfang.
Ein neuer Ort, ein Umsiedlungsort – dieser Begriff wird bei weitem nicht dem gerecht, was sein Inhalt an Leid und Destruktion auslöst – ein neuer Ort, vor Jahren noch ebenes Ackerland, dann von Straßen und Wegen durchzogen, in dessen Grenzen, ohne erkennbaren Zusammenhang, erste Gebäude entstanden. Wo sollte nun der neue Sakralraum mit Pfarrheim entstehen und wie würde das Umfeld des neuen Begegnungszentrums aussehen? Einen „Genius Loci“ suchte man hier vergebens, die wenigen Ansatzpunkte fanden wir bei den Menschen, ihrem Schicksal und ihrer besonderen Geschichte. Schließlich wollten wir Räume für ihr zukünftiges Miteinander schaffen. Es sollte ein Begegnungsort entstehen, der Platz für Spiritualität, Kontemplation, Erinnerung und einen Neuanfang bieten würde.
Nach Innen konzentrierte Anordnung
Bereits in unserem Wettbewerbsentwurf haben wir uns für eine nach Innen konzentrierte Anordnung der Gebäudeteile, bestehend aus Sakralraum, Pfarrheim und Glockenturm, entschieden. Sie bilden ein mit wechselnden Höhen umgebendes Geviert und umschließen einen geschützten Innenhof, ein Atrium, das sich sowohl zu den jeweiligen Räumen als auch zum Dorfplatz hin öffnet. Über das Atrium und den Haupteingang betritt der Besucher einen, der Typologie eines rheinischen Vierkanthofs und der Wegeführung eines Kreuzgangs entlehnten Ort, der ihn räumlich und inhaltlich umschließt und ihm Einkehr und Ruhe bietet, ohne den Kontakt nach außen zu verlieren. Den Übergang vom Dorfplatz zum Inneren des Neubaus schafft eine offene, überdachte Vorhalle, die räumlich den Sakralbau mit dem Glockenturm verbindet.
Möglichst viele Erinnerungsstücke
Im Zuge der gemeinsamen Überplanung unseres Wettbewerbsentwurfs mit den Vertreter*innen der drei Gemeinden sorgten wir uns zunehmend um die Klarheit und räumliche Ruhe der sakralen Orte des neuen Begegnungszentrums. Den aufkommenden Wünschen der Menschen, aus ihren jeweiligen Kirchen und Kapellen möglichst viele Erinnerungsstücke im neuen Sakralraum „aufzustellen“, galt es eine geeignete Lösung anzubieten, die sich jedoch nicht darauf beschränken sollte, im musealen Sinne, ohne Verbindung zu den sakralen Orten, Ausstellungsräume anzubieten.
Vermissens- und Erinnerungskultur
Durch die Anregung und im Austausch mit Prof. Gregor Maria Hoff, entwickelten wir zusammen mit den Architekturstudent*innen Marie Dewey und Johannes Zerfaß ergänzend zum Gesamtkonzept einen verbindenden, unterirdischen Ort oder auch Weg, unterhalb der Kolonnade zwischen Turm und Kapelle, der den Umsiedlern und Umsiedlerinnen zukünftig Raum für eine, im besten Fall begleitete Vermissens- und Erinnerungskultur bieten wird.
Der Ort der Erinnerung – eine raumtheologische Reflexion
Im Harry Potter-Zyklus von J. K. Rowling gibt es einen geheimnisvollen Ort, verborgen in Hogwarts. Er öffnet sich nur unter einer besonderen Bedingung: wenn man ihn wirklich braucht. Was man findet, hängt an dem, was man nicht einfach haben will, sondern was alles Begehren verortet. Man kann an diesem Ort entdecken, was man zutiefst braucht, wonach man auf der Suche ist. Ein Wechselspiel von Interessen und dem, worüber man nicht verfügt, kommt in Gang. Dahinter verbirgt sich eine tiefe Einsicht: dass Träume und Wünsche, Hoffnungen, aber auch Ängste sich im Begehren spiegeln und eine Eigendynamik auslösen. Sie haben eine Macht über uns. Deshalb braucht es einen Ort, sie freizulegen, um sich ihnen stellen zu können. In allem, was wir begehren, setzt sich unabgefundenes Leben ab. Was nicht gelungen ist. Was sich nicht mit Plänen verrechnen lässt. Es bildet den Untergrund, den Subtext unseres bewussten Lebens.
Mit dem verwoben, was vergangen ist
Wonach wir uns sehnen, weist nicht nur in die unmittelbare Gegenwart von Erfüllungswünschen, sondern darüber hinaus in kommendes Leben, in zukünftige Optionen. Sie zielen auf Glück, auf erfülltes Leben. Dabei sind sie mit dem verwoben, was vergangen ist; was in der Zeit verloren ging; was als Antriebsstoff unserer biographischen, aber auch gesellschaftlichen Energien dient. Und was in Gefahr steht, verbraucht zu werden. Vergangenes Leben steht unter dem tödlichen Druck, dass verloren bleibt, was hinter uns liegt; was in der Zeit unerreichbar bleibt. Das gilt für St. Petrus in Keyenberg in besonderer Weise: für eine Kirche, die gebaut wurde, um einen neuen Glaubensraum zu entwickeln. Ein herausforderndes Projekt, architektonisch wie pastoral. Schließlich müssen sich Menschen aus vier Gemeinden zusammenfinden, die ihre Kirchenheimat wegen des Braunkohletageabbaus verloren haben.
Untergrund der neuen Kirche
Der Ort der Erinnerung bildet deshalb so etwas wie den Untergrund der neuen Kirche. Er ist eingelassen in die Erdschicht eines gemeinsamen Gedächtnisses, das sich aus unterschiedlichen Erinnerungen zusammensetzt – aus Erfahrungen von vier Gemeinden, die nicht eine sind, auch wenn sie die eine Erfahrung eint: dass man den Ort des über Jahrhunderte entwickelten, eingespielten Glaubens verlassen musste. Das ist eine Ohnmachtserfahrung, die Raum im Glauben verlangt – wenn man mit der alten Kirche nicht auch den Glauben aufgeben will.
Erinnerungen greifbar machen
Wie aber geht Glauben an einem neuen Ort, in unbekanntem Terrain, ohne vertrauten Raum, an dem nicht nur Erinnerungen haften, sondern in dem sich die Gegenwart von Generationen gelebten Glaubens hält? In Gegenständen, in Blicken, die sich auf ein Kreuz, auf den Altar, auf Kirchenfenster, auf Kirchenmauern und Gewölbe gerichtet haben. Lässt man das hinter sich? Nicht wenn man glaubt, wie man nur in einer Gemeinschaft glauben kann, die sich als „communio sanctorum“ versteht: als anhaltende Kommunikation über die Todesgrenze hinaus. Allerheiligen, Allerseelen sind kirchliche Feste dafür. Sie machen deutlich, wie sehr im Glauben alle verbunden sind, die geglaubt haben und glauben. Dafür braucht es aber Glaubensräume, denn Glaube ist konkret. Der Ort der Erinnerung nimmt diesen Glauben ernst, indem er ihn verortet: in einem Ort, der nicht nur Reliquien speichert, sondern mit Artefakten und liturgischen Geräten und Bildern Geschichten aufnimmt, die Erinnerungen greifbar machen.
Orientierung für gelingendes Leben
Der Ort der Erinnerung ist ein Ort des Vermissens, das nach vorne gerichtet ist: als ein Ort im Aufbau, der nie fertig wird, so wie man mit dem Glauben nicht einfach fertig wird. Wie der Raum der Wünsche folgt auch der Ort der Erinnerung nicht der Anordnung des abgelegten Materials, sondern der Logik der Empfindungen: dem Spürsinn verlorener Lebensräume, die lebendig bleiben, weil sie von Wert waren und von ihnen ein Richtungssinn ausgeht: Orientierung aus der Vergangenheit für gelingendes Leben mit dem, was hinter uns liegt, aber als Erbe. Auf diese Weise kann ein neuer Glaubensraum entstehen – im Untergrund einer kirchlichen Architektur, die auf dem Glauben derer aufbaut, die vor uns geglaubt haben. Er bildet eine Basis für das, was Christ:innen in der Eucharistie als eingedenkende Vergegenwärtigung feiern. Hier ereignet sich Verwandlung von Tod in Leben.
Mehr als ein Archiv
Der Ort der Erinnerung bietet dafür Anschauungsmaterial. Er ist als ein Ort für Entdeckungen und Überraschungen komponiert. Dem entspricht das Konzept der beiden jungen Architekt*innen, die ihn eingerichtet, nein: komponiert haben: als Passage, mit veränderbaren Stellwänden, mit Videos und Bildzeugnissen, die freilich mehr als ein Archiv bilden. Vielmehr wird hier erfahrbar, wie sich die frühen Christ:innen verstanden: zwischen den Welten zu wandern. Das gilt auch für diese neue, junge Gemeinde mit altem Bodensatz, der umgewühlt, weggegraben wurde, aber so einen neuen Ort zu schaffen erlaubte. Gilt das auch für den Glauben in einer Zeit, die auf Verschwinden von christlichen Lebensformen und kirchlichen Kulturen festgelegt scheint? Oder entsteht hier ein Ort des Aufbruchs? Ohne Erinnerung kann dies nicht gelingen. Ein Ort für sie steht bereit – wenn man den Mut hat, ihn zu entdecken, sprich: sich Freude und Hoffnung, Trauer und Ängsten zu stellen, die Menschen bedrängen, wenn sie einen vertrauten Ort verlassen müssen. Freilich ist diese neue Kirche kein Exil, sondern Abrahams-Land: Ort einer Verheißung, dass Gott mit uns geht und bleibt.
Gregor Dewey ist Architekt in Viersen, Gregor Maria Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie in Salzburg.
Bildrechte: Gregor Dewey