Die Politikwissenschaftlerin Ina Schildbach deckt die rechtspopulistische „Internationale der Nationalisten“ auf und zeigt, was ihr entgegenzusetzen ist. Der Erfolg der Rechtspopulist/innen stellt uns alle vor die Frage: Verstehen wir uns als deutsche oder europäische Bürger/innen? Und bejahen wir die Europäische Union (EU) nur, wenn sie „uns“ von Nutzen ist?
„Es wird auch einen 100. Geburtstag der EU geben“, so Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker anlässlich der Feierlichkeiten zu 60 Jahren Römische Verträge im letzten Jahr. Wie bei derartigen Bekundungen so häufig zeugen sie weniger von der absoluten Gewissheit der bekräftigten Sache, als vielmehr von ihrer prinzipiellen Infragestellung: Wäre der 100. Geburtstag eine Selbstverständlichkeit, erübrigte sich seine Bekräftigung.
EU wird 100!
Die Europäische Union ist bekanntermaßen seit einiger Zeit massiv unter Beschuss. Zum einen existieren zahlreiche Herausforderungen, mit denen sie sozusagen „von außen“ konfrontiert wird. Die globale Finanzkrise hat ihren Ursprung in den USA, traf letztlich jedoch im verheerenden Ausmaß die europäischen Staaten. Ob bei deren Bewältigung die Instrumente gegen eine erneute Staatsschuldenkrise tatsächlich geschaffen wurden, wird seitdem von Ökonomen/innen immer wieder bezweifelt. Noch größer scheint die Bedrohung durch den Machtwechsel im Weißen Haus: Donald Trump kündigte die „regelbasierte Weltordnung“ und stellte damit in Frage, was bis dato als unverbrüchlich angesehen wurde: die wie eine Prämisse in die Staatsräson der westlichen Staaten eingeschriebene Partnerschaft zwischen den USA und der EU, allen voran Deutschlands.
Regelbasierte Weltordnung gekündigt.
Die Schwierigkeiten kommen jedoch auch „von innen“, also den Mitgliedsstaaten selbst: Zerbricht sie an den Angriffen der Rechtspopulist/innen, die sich zu einer „Internationale der Nationalisten“ zusammenfinden? Die Positionierungen der Parteien am rechten Rand zur EU sind durchaus nicht einheitlich, sondern reichen von sehr grundsätzlichen Reformbemühungen – beispielsweise eine angestrebte Begrenzung der Kompetenzen auf den Binnenmarkt – bis zur gänzlichen Destruktion. Eine Einigkeit besteht jedoch: „Polen zuerst“, „Deutschland zuerst“ etc., so das leitende Credo der Parteien. „Das Vaterland zuerst“ – dieser Nationalismus droht zur Sprengkraft des Verbundes zu werden, der seit dem Zweiten Weltkrieg den Frieden auf dem Kontinent garantiert.
Rechte Positionen zwischen Begrenzung und Destruktion.
„Bring back control“ – in der Kampagne für den Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU war dies der entscheidende Schlachtruf: Nigel Farage, ehemaliger Vorsitzender der UK Independence Party (UKIP), postulierte einen Kontrollverlust Großbritanniens durch eine ausgreifende Politik der Europäischen Union, die nicht nur ein Übermaß an Zuständigkeiten habe, sondern – so der Vorwurf – dem/der britische/n Steuerzahler/in viel Geld koste: „We send the EU £ 350 million a week – let`s fund our NHS instead“, so die inzwischen legendäre Aufschrift auf dem Wahlkampfbus der „Vote-Leave-Kampagne“. Dass es zu den Mehrausgaben für das Gesundheitssystem bis heute nicht kam, ist bekannt. Doch warum verfängt eine derartige Agitation bei weiten Teilen der Bevölkerung? Denn schließlich, so scheint es aus distanzierter Perspektive, müsste auch den britischen Wählern/innen deutlich sein, dass sich aus Beitragszahlungen für die EU keineswegs sachzwanghaft Einsparungen auf einem anderen Politikfeld ergeben. Wenn das Gesundheitssystem auf der Insel also reformbedürftig ist, so ist das kein Verschulden der Europäischen Union, sondern eine Folge der Entscheidungen Londoner Machthaber/innen.
Bring back control!
Meine These hierzu: Diese Art der Agitation – bei der die dargelegte nur ein Beispiel für viele ist – fällt auf fruchtbaren Boden, weil Rechtspopulist/innen ihre potentiellen Wähler/innen als Nationalist/innen ansprechen, die den Nutzen des Bündnisses allein an den Vorteilen für ihr eigenes Gemeinwesen messen sollen. Rechtspopulistische Parteien beziehen sich dabei auf die unterschiedlichsten Phänomene: Mal wird das Gesundheitssystem bemüht, um die unnötigen Kosten der EU für die Nation (vermeintlich) aufzuzeigen; in anderen Fällen werden die Geflüchteten zum Kristallisationspunkt dieses Standpunktes gemacht. Kern dessen ist immer ein postulierter Souveränitätsverlust, der dazu geführt habe, dass die nationalen Politiker/innen anti-national bzw. im Interesse der Europäischen Union – oder gar eines „von Deutschland dominierten Europas“ (Nigel Farage) – handeln würden. Die Vorsitzende der Rassemblement National (ehemals Front National) Marine Le Pen brachte es auf den Punkt: Es geht um die „Wiederherstellung von Frankreichs nationaler Souveränität“ (Die Zeit vom 24.02.2017).
Nutzen der EU wird an nationalen Vorteilen gemessen.
Im offensichtlichen Erfolg dieser Art der Argumentation in den meisten Staaten der EU manifestiert sich meines Erachtens ein Mangel an der Weise, wie bislang zumeist auch von den demokratischen Parteien für die Europäische Union geworben wurde: Sie nützt „uns“. Deutschland als exportstärkste Nation der EU profitiert vom Binnenmarkt wie kein anderer Staat; allein durch den Zusammenschluss in der EU sind wir der ökonomischen und strategischen Konkurrenz mit China gewachsen; die EU stärkt Deutschlands Verhandlungsmacht gegenüber Trump. Auch hier kann man erneut die unterschiedlichsten Phänomene zur Bebilderung dieses Argumentationsmusters bemühen. Im Kern wird damit geworben, dass wir als Angehörige unserer jeweiligen Nation einen Vorteil von dem Verbund haben.
Überwindung des nationalen Denkens als zentrale Aufgabe.
Wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot erläutert, wird hierdurch die europäische Idee konterkariert, denn: „In einer demokratischen EU darf es keine unterteilten Wirs geben“ (Die Zeit vom 03.01.2017). National zu denken, impliziert einen prinzipiellen Vorbehalt des eigenen Nutzens gegenüber der EU, womit sie beim Ausbleiben der Vorteile existentiell in Frage gestellt ist. Damit steht jedoch zugleich die Realisierung der europäischen Idee als Friedensgarant auf dem Kontinent unter dieser Bedingung. Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise und ihre Folgen scheinen diesen Konstruktionsfehler nun offenzulegen; auf seiner Basis reüssieren die Rechtspopulist/innen mit ihrer nationalistischen Argumentation in sämtlichen Ländern.
Keine unterteilten Wirs!
Diese Analyse ernst zu nehmen, bedeutet jedoch auch, dass wir dem Erfolg der Rechten nur dann beikommen, wenn wir selbst den nationalen Vorbehalt aufgeben. Die Debatte über den „Handelsbilanzüberschuss“ stellt hierfür ein Beispiel dar: Ist Deutschland bereit, von seinen wirtschaftlichen Erfolgen Abstriche hinzunehmen, um weniger produktive Ökonomien nicht zu beschädigen? Die eingangs angesprochenen Herausforderungen „von außen“ könnten durch eine tatsächlich einige Europäische Union sicherlich besser bewältigt werden.
Ist Deutschland bereit, von seinen wirtschaftlichen Erfolgen Abstriche hinzunehmen, um weniger produktive Ökonomien nicht zu beschädigen?
Sich als Staaten zusammenzuschließen, um als Nation den möglichst größten Nutzen aus dem Verbund zu generieren, stellt eben einen Widerspruch dar, der früher oder später zum Sprengsatz der EU werden musste. Insofern stehen wir an einem Scheideweg: Denken wir weiterhin als Bürger/innen unserer jeweiligen Nation oder entwickeln wir ein Selbstverständnis als europäische Bürger/innen? Sind wir also bereit dazu, tatsächlich als ein „Wir“ zu denken? Der rechten „Internationale der Nationalisten“ wäre dadurch jedenfalls von selbst der nationalistische Boden entzogen.
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Bild und Text: Dr. Ina Schildbach, Politikwissenschaftlerin und Projektleiterin am „Kompetenzzentrum Demokratie und Menschenwürde“, Stiftung Bildungszentrum in Freising.