Welche Ekklesiologie kommt auf einer Projektpfarrstelle für Kirche im Kontext von Stadtentwicklung und Sozialraumorientierung zum Vorschein? Lüder Laskowski zieht am Ende von vier Jahren in der Stadt Leipzig Bilanz.
Gibt es eine Szene, die deine Arbeit der letzten Jahre auf den Punkt bringt?
An einem milden Sonntagnachmittag ragt der rote Kirchturm hoch in den blauen Himmel. Auf dem Platz vor der Kirche steht eine Gruppe Frauen und Männer, Junge und Ältere. Hier findet ein Spaziergang statt, zu dem ein kleiner Kreis von Akteuren rund um den Platz, auf dem die Kirche steht, eingeladen hat. Aus einer Kunstgalerie in einem unsanierten Haus gegenüber. Aus einem Stadtteilzentrum, dass einem linken Kulturprojekt entsprang und inzwischen fest etabliert ist. Aus der Flipsidee dreier Studenten, die einen Eckladen innen quietschgelb gemalt und mit Fundsachen eingerichtet haben – als „Raum der Zeit“ zum öffentlichen Wohnzimmer erklärt. Vom Bürgerverein, der noch aus der Aufbruchstimmung der Wendezeit heraus mitgestalten will. Aus dem Lesezimmer des Vereins, der sich vorgenommen hat, Kindern Bücher nahe zu bringen. Dazu Anwohnerinnen und Interessierte. Heute gehen sie all die Orte des Engagements ab. Es dauert nicht lange, da ergeben sich erste Gespräche über gemeinsame Projekte im Viertel.
von Orten des Engagements zu gemeinsamen Projekten
Solche schönen Ereignisse waren mein Lernfeld in den letzten vier Jahren. In einer Projektpfarrstelle der sächsischen Landeskirche bin ich mit dem Auftrag unterwegs gewesen, bewusst nach Kontaktflächen zwischen Kirche und Zivilgesellschaft zu suchen und sie zu gestalten. Als Überschrift standen die Schlagworte „Stadtentwicklung – Öffentlichkeit – Sozialraum“. Am Ende ist ein Netzwerk entstanden, das Menschen aus sehr unterschiedlichen kirchlichen und gesellschaftlichen Bereichen zusammenführt.
Kirche im Kontext von Stadtentwicklung: Wie würdest du die spezifische Situation in der Stadt der Gegenwart beschreiben?
In der Stadt, auch in Leipzig, werden die Neukonfigurationen der Gesellschaft und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Megatrends zuerst spürbar. Die Stadt ist der Schmelztiegel gesellschaftlicher Veränderung. Einige Schlagworte, die die aktuelle Diskussionslage illustrieren: Säkularität, Pluralität – kulturell, religiös, sozial … – Migration und Internationalität, Digitalität, unbedingtes Freiheitsparadigma, Individualisierung, Mobilitätsideal und Ablösung von Bindekräften, Konsum, Massenhaftigkeit, Beschleunigung, Parallelwelten und Milieugrenzen, Multioptionalität und Komplexität. Was diese Trends meinen und wie sie zueinander stehen wird heiß debattiert. Sie alle verbindet, dass sie zuallererst in der Stadt – exemplarisch in der in den letzten 15 Jahren schnell gewachsenen Stadt Leipzig – überall augenfällig sind. Die sich aus diesen Entwicklungen ergebende städtische Kultur ist hoch dynamisch und hochdifferenziert – und sie ist fragiler, als es auf den ersten Blick scheint.
städtische Kultur ist hoch dynamisch und hochdifferenziert – und fragiler, als es auf den ersten Blick scheint
Kirche hat in der beschriebenen Situation nicht nur ebenso große Anpassungsschwierigkeiten wie viele institutionelle Akteure, sondern verspürt aufgrund ihres weit zurückreichenden historischen Erbes verhältnismäßig starke Schmerzen dabei. Es kann aber auch ein zugewandtes Verhältnis zur spezifischen Kultur in der Stadt geben. Papst Franziskus hat es in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium so auf den Punkt gebracht hat: „Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen“ oder noch prägnanter: „Man kann Jesus nur verkündigen, wenn man die Kultur der eigenen Zeit bewohnt.“[1]
Das ist ja zunächst erst einmal eine theologisch grundierte Absichtserklärung. Wie könnte man diesen Anspruch praktisch fassen?
Wenn die Diagnose zur Situation in der Stadt schon ganz allgemein eine Herausforderung für die Sozialstruktur und das Zusammenleben auch in Leipzig ist, so ist sie es umso mehr für die Kirchgemeinden. Mich hat in den letzten Jahren die Frage umgetrieben, wie hier Verbindungslinien, Kontaktflächen geschaffen werden können – zu beiderseitigem Gewinn. Ein Ansatz, in dem die neuen Geschichten und Paradigmen – gelebt von den Menschen in der Stadt – einen Klangraum bekommen, ist die Methode der Sozialraumorientierung.
Urbane Kirchgemeinde verliert sich auf diese Weise nicht, sondern findet sich erst.
Ich bin der festen Überzeugung, dass urbane Kirchgemeinde sich auf diese Weise nicht – wie manchmal unterstellt – im Außen, in der Kultur verliert, sondern sich erst findet, weil dort ihre Aufgabe wartet: die kreative Konfrontation von Evangelium und heutiger Existenz. Denn ein Sozialraum ist keine fest definierte Größe, sondern er wird durch die Menschen, die sich in ihm finden, auf immer wieder neue Weise geformt und beschrieben.
Das hat methodische Konsequenzen, wie wir sie aus der sozialen Arbeit kennen. Der Ansatz am Willen und den Interessen der Menschen. Aktivierung vor Betreuung. Ressourcenorientierung, also zuerst der Blick auf die Potentiale, die die Menschen mitbringen. Und schließlich daraus resultierend ein aktives zielgruppen- und bereichsübergreifendes Denken, das in letzter Konsequenz auf Kooperation und Vernetzung mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren hinausläuft. In diesen Kriterien steckt enormes Potential, wenn man sie sich in Ruhe durch den Kopf gehen lässt.
Aktivierung vor Betreuung – Ressourcenorientierung – Vernetzung
Und wie sah das für dich in Leipzig aus?
Ich habe mich gemeinsam mit anderen darum bemüht, diesen Ansatz in einem gestuften Programm zu entwickeln. Stufung sowohl entlang der Strukturen von Kirche im Kirchenbezirk als auch geografisch in lokalen bzw. regionalen Bezügen. Die Aktivitäten rund um die Themenkreise „Sozialraumorientierung“, „Gemeinwesendiakonie“ oder „Gemeindediakonie“ haben wir in Gremien, Ausschüssen und Arbeitsgruppen des Kirchenbezirks sowie in einzelnen Kirchgemeinden entsprechend ihres regionalen oder lokalen Auftrages eigespielt. Lokal war der erste Schritt immer die Wahrnehmung des Stadtraumes. Was gibt es hier? Wer wohnt hier? Welche Partner:innen bieten sich an? In kleinen Schritten änderte sich so zunächst die Wahrnehmung, dann verdichteten sich Netzwerke. Die übergeordnete Idee ist eine „Initiative Kirche im Quartier“ für Leipzig.
Man bekommt in einer säkularen Stadt wie Leipzig ohne Scheu sehr klar gesagt, wie man als Kirche gesehen wird.
Alle diese Aktionen haben eine Idee gemeinsam: sie wollten oder wollen Begegnung ermöglichen, Engagement freisetzen, die Fülle der Stadt und den Reichtum der Menschen in ihr würdigen. Wobei Kirche sich selbst als Teil des Sozialraums versteht und sich auch so einbringt. Der Lohn ist eine Schärfung der Selbstwahrnehmung, denn man bekommt in einer säkularen Stadt wie Leipzig ohne Scheu sehr klar gesagt, wie man als Kirche gesehen wird. So kommt Kirchgemeinde aus der Selbstbespiegelung hinaus ins Umfeld, ins Quartier und dessen gemeinsame Entwicklung – es klingt bereits der Gedanke des Gemeinwohls durch – wird zur kirchlichen Aufgabe. Es besteht die Chance, sich durch diesen Zugang in der Großstadt neu zu orientieren. Teilhabe einmal anders gedacht – als Teilhabe von Kirche an der Stadt.
Teilhabe einmal anders gedacht – als Teilhabe von Kirche an der Stadt.
Was bringt Kirche nun im Sinne dessen, was der Stadt Bestes ist, besonders und unverwechselbar ein?
Natürlich sind das zunächst ihre Aktivitäten, die in die Quartiere, in die Stadt ausstrahlen und die allgemein anerkannt werden. Bildungsarbeit, Diakonie, kulturelle Angebote, Gemeinschaft, ihre Räume und weiteres. Das sind wertvolle und wichtige Beiträge. Hier in der Stadt ist Kirche nach wie vor der größte zivilgesellschaftliche Einzelakteur. In diesen Bereichen geht sie in die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, die ebenfalls breit gefächert Engagement zeigen – und ich habe den Eindruck, das tut der Stadt gut.
Doch dabei kann es, so meine Überzeugung, nicht bleiben. Kirche trägt etwas zum Gemeinwohl bei, das so kein anderer kann – etwas, wodurch sie zugleich erst ganz sie selbst ist. Dafür ist es nötig, Rolle, Wirkung und Möglichkeit von Religion auszuloten. Denn diese führen sie hinaus über die gesellschaftlichen Anforderungen, mit denen „Stadt“ sich an Kirche wendet. Denn da spielt eine religiöse Dimension zumindest keine reflektierte, keine explizite Rolle. Wie kann sie nun aber – über die projizierte rein funktionale oder instrumentelle Beauftragung hinaus – etwas eintragen, das nur Religion eintragen kann?
Kirche kann dem stets Unvollendeten konstruktiv Ausdruck geben.
Kirchgemeinden vor Ort vermögen etwas zu „zeigen“, das sonst unsagbar bliebe. Sie können dem stets Unvollendeten konstruktiv Ausdruck geben, die Vorläufigkeit allen menschlichen Tuns integrieren. In der Auseinandersetzung um ein Verkehrskonzept oder unterschiedliche Ansichten von Migrantengruppen und Alteingesessenen verändert sich etwas, wenn die Kirchgemeinde dabei ist. Ihr wird anders zugehört, weil sie auf einen Horizont jenseits von persönlicher Betroffenheit oder ideologischer Verhärtung verweisen kann.
Noch deutlicher wird das in Momenten, in denen die lokale Gemeinschaft emotionalisiert ist – in Freude wie Leid. Kirchgemeinden wissen das zu fassen, wobei ihre Räume oft eine besondere Bedeutung gewinnen. So findet Kirche eben Zeichen bis hinein ins Wort – für sonst Unsagbares. In manchen migrantischen Milieus werden kirchliche Vertreter akzeptiert, wo man sich von kommunalen abgrenzt. Denn sie weiß ja wenigstens noch von Gott zu sprechen, kann religiöse und spirituelle Grundierung von Lebensformen und ‑entscheidungen sehen und anerkennen.
Das heißt, sie bringt eine Kompetenz ein, die grundlegender ist als das konkrete Tun?
Noch vor dem jeweiligen sozialen Handeln, dem Engagement in Bildung oder der Beteiligung an kommunalpolitischen Initiativen bringt sie eine unverwechselbare hermeneutische Kompetenz ein. Sodann auch eine Deutungskompetenz. Und nicht zuletzt eine spezifische Gestaltungs- und Sprachkompetenz. Ehrenamtlichengruppen, die sich sozial vor Ort im kirchlichen Kontext engagieren, können in Leipzig inzwischen vollständig aus Menschen bestehen, die vorher keine Berührung mit Kirche hatten, die erstmal einfach nur „was Gutes“ tun wollen. Das sind vor allem junge Erwachsene. Es ist erstaunlich was geschieht, wenn man ihnen ganz unverstellt zusagt: „Ihr seid ein Gottesgeschenk.“ Wir wissen, was in diesem Satz alles steckt, sie aber spüren es unmittelbar.
Die Kraft, Welt zu entschlüsseln, schöpft Kirche – und das ist eine sehr spezifische Stärke – daraus, dass sie angesprochen, ja gerufen ist. Durch ihren expliziten Transzendenzbezug hindurch, der in Erzählungen, Formen, Ritualen geronnen ist, verändert sich der Blick auf die Stadt und die Menschen in ihr. Weil die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit, der Fülle ihrer Träume und Sehnsüchte als wertvoll begriffen werden, wird es auch die Stadt. Kirche setzt diese Kompetenz letztlich um in performativer Sprache – als Würdigung, Stärkung, Rechtfertigung, als Zuspruch eines weiten Horizontes. Das gibt Festigkeit im Fluss und lehrreiche Sensibilität für die „Logik der Stadt“ und ist die Voraussetzung für Vertrauen, Zuversicht, mithin Diskurs- und Beziehungsfähigkeit.
Würdigung, Stärkung, Rechtfertigung, Zuspruch eines weiten Horizontes
Im Zusammenhang mit der gemeinsamen Entwicklung des Umfeldes durch verschiedene Akteure, unter denen Kirche ein besonderer sein kann, fiel eben das Wort „Gemeinwohl“?
Aus diesem spezifischen Beitrag heraus, den Kirche in die Stadt einträgt, prägt sie auch mit, was wir alle in der Bürgerschaft unter Gemeinwohl verstehen. Eine besonderen Chance, die Kirche hat, liegt denn auch in ihrer Stimme im gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozessen, die gerade deutlicher vernehmbar im Gange sind und die sich meiner Beobachtung nach im Kern oft um das Verhältnis von Funktion bzw. Auftrag und Sinn drehen – letztlich um die Frage nach der geistigen Grundlage kreisen, auf der wir Gemeinschaft bauen und Verantwortung wahrnehmen. In der Stadt unter den Bedingungen, die ich oben beschrieben habe. Dynamisch und plural.
In Leipzig war Kirche beispielsweise als Initiatorin und Moderatorin an der Gründung eines „Runden Tisches Gemeinwohl“ beteiligt. Hier trafen und treffen sich jetzt die Leiter:innen der großen Institutionen in der Stadt. Vom Jobcenter bis zur Feuerwehr. Von BMW bis DGB. Vom Gewandhaus bis zur Wohnungsbaugesellschaft. In Summe könnten über die Hälfte aller Arbeitnehmer:innen in der Stadt mittelbar mit diesen Akteuren verbunden sein.
Kirche als Initiatorin und Moderatorin bei der Gründung eines „Runden Tisches Gemeinwohl“
Ausgangspunkt war der Versuch, einen diskursiven Gemeinwohlbegriff mit Leben zu füllen. Um etwas an die Stadt zurückzugeben, in der und von der man lebt, aber auch um den Begriff harten Politisierungen von ganz rechts und ganz links zu entwinden. Wir haben gemerkt: Wenn man das tut, dann kommt man zwangsläufig zu einem Gemeinwohlverständnis, in dem der Begriff immer einen Horizont meint, der uns voraus liegt, und der damit letztlich transzendenten, wahrscheinlich sogar eschatologischen Charakter hat.
ein Gemeinwohlbegriff, der einen eschatologischen Charakter hat
Und wieder war es erstaunlich, dass Kirche sich gelassen und geduldig in solch einem Setting bewegen kann, wie keine andere gesellschaftliche Größe. Sie konnte Raum für Gemeinschaft über Sprachspiele hinweg eröffnen, offenen Denkraum, Raum für Freiheit jenseits funktionaler Zuschreibungen. Es ist dann eben die Hoffnung auf etwas mit im Raum, das man vielleicht ahnt, aber das man noch nicht sieht, obwohl es das immer schon gibt. Hier ist dann letztlich die Idee einer Initiative „Kirche im Quartier“ auch zur Verpflichtung der Stadt gegenüber geworden. Damit schließt sich der Kreis. Erst in der Begegnung mit der Stadt erkennt Kirche ihren Auftrag heute.
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[1]https://www.osservatoreromano.va/de/news/2023-12/ted-049/dorthin-gelangen-wo-neue-geschichten-und-paradigmen-entstehen.html, abgerufen am 5. März 2024
Lüder Laskowski hat in Leipzig und Berlin evangelische Theologie studiert und war nach einer Zeit in der Kulturwirtschaft zehn Jahre Pfarrer in und bei Freiberg/Sachsen. Von März 2020 bis Februar 2024 hatte er eine landeskirchliche Projektpfarrstelle „Stadtentwicklung – Öffentlichkeit – Sozialraum“ beim Ev.-Luth. Kirchenbezirk Leipzig inne.
Interview: Kerstin Menzel
Bild: Lüder Laskowski