Elke Langhammer (Freiburg) macht auf ein neues gesellschaftliches Phänomen aufmerksam: Bürgerbühnen. Und sie fragt, was die katholische Kirche unter anderem davon lernen kann.
Beim Blick über den kirchlichen Tellerrand hinaus zeigt sich ein interessantes Phänomen: Firmen, Universitäten oder Staatstheater interessieren sich mittlerweile aktiv für das Expertenwissen außerhalb der eigenen Organisation oder Institution. Firmen identifizieren Konsument/innen als kokreative Entwickler/innen innovativer Produkte, wissenschaftliche Forschungsinstitutionen entdecken die Citizen Science und interessieren sich für das ‚unterschätzte Wissen der Laien‘, Staatstheater etablieren Bürgerbühnen und bitten ‚Experten des Alltags‘ auf die Bühne.
Im Wirtschaftsbereich: Interaktive Wertschöpfung
Bei Procter&Gamble entstehen Putzmittel, Gesichtspflegeprodukte, Schallzahnbürsten nicht mehr länger nur hinter den verschlossenen Türen der Innovations- und Entwicklungsabteilungen. Das Unternehmen setzt seit Jahren in seinem Innovationsprogramm ‚connect + develop‘ auf unternehmensexterne Ideengeber/innen bei der Entwicklung neuer Produkte. Auch Adidas, BMW, Flickr, LEGO, Linux, Loewe, Swarowski u.a. haben begonnen, Wertschöpfung neu zu denken.
Alle diese Firmen setzen auf ‚interaktive Wertschöpfung‘, ein Konzept, das von den Wirtschaftswissenschaftlern Ralf Reichwald und Frank Piller wissenschaftlich reflektiert, systematisiert und weiterentwickelt wurde. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei die aktive Rolle externer Akteur/innen – insbesondere der Kund/innen – an der Peripherie des Unternehmens. Kund/innen werden nicht mehr nur als „passive Empfänger und Konsumenten einer von Herstellern autonom geleisteten Wertschöpfung“ begriffen, sondern als „Wertschöpfungspartner von Unternehmen“ entdeckt, die an der Entwicklung, Herstellung und Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen aktiv beteiligt werden. Kund/innen – insbesondere die sog. ‚lead users‘ – werden als Innovationsquelle begriffen.
Ein solches Vorgehen impliziert eine neue Vorstellung und Organisation von Arbeitsteilung im Produktentstehungsprozess. „Eine hierarchische Aufgabenverteilung und Kontrolle wird durch Selbstmotivation und Selbstselektion der Akteure ersetzt.“ Interaktive Wertschöpfung beruht zudem auf einer veränderten Vorstellung davon, wie Innovation geschieht: eben nicht mehr im Wesentlichen innerhalb eines Unternehmens, sondern als vielschichtiger und offener „Such- und Lösungsprozess, der zwischen mehreren Akteuren über die Unternehmensgrenzen hinweg abläuft“ (Open Innovation).
Was bringt interaktive Wertschöpfung den Kund/innen? Was bringt sie dem Unternehmen? Und wer profitiert in einem höheren Maß? Kund/innen – so die betriebswirtschaftliche Argumentation – profitieren durch ein besseres Produkt, durch soziale Anerkennung und Bestätigung und durch das bestätigende, lohnenswerte Erlebnis, eine Aufgabe gut absolviert zu haben und stolz auf das Ergebnis sein zu können. Sie sind in der Folge mit dem Produkt in höherem Maße identifiziert.
Wertschöpfungspartner
Dem Unternehmen kommt interaktive Wertschöpfung in seinem Bestreben nach Effizienz- und Effektivitätssteigerung entgegen. Interaktive Wertschöpfung erschließt dem Unternehmen „neue Potentiale zur effizienten Differenzierung im Wettbewerb durch individualisierte und/oder innovative Produkte“ . Ein solches Vorgehen verschafft dem Unternehmen Zugang zu Bedürfnisinformationen, die über die klassische Marktforschung nicht zu erreichen wären. Und das wiederum garantiert höhere Marktakzeptanz der Produkte, ein geringeres Floprisiko bei der Einführung von Produktinnovationen und neue Möglichkeiten der Kundenbindung.
Sind Kosten und Nutzen für Kund/innen und für das Unternehmen ausgewogen verteilt? – So könnte man aus der Perspektive der Konsumsoziologie fragen. Auch Reichwald/Piller/Ihl räumen als eine der Grenzen des Konzepts ein: Ohne klare Anreizstrukturen „werden die Nutzer nach einer Phase der Euphorie (‚Das Unternehmen hört mir endlich mal zu.‘) schnell in eine Ernüchterung verfallen (‚Die saugen ja nur mein Wissen ab.‘).“
Das ‚Not-invented-here-Problem‘
Als andere Grenze benennen sie das sog. ‚Not-invented-here-Problem‘: Widerstände gegen externes Wissen können unter Umständen im Unternehmen noch größer sein als die Widerstände gegenüber Inputs von (neuen) Kolleg/innen.
Kann die Kirche in ihrer Suche nach tragfähigen Wegen in die Zukunft von betriebswirtschaftlichen Open-Innovation-Konzepten lernen? Was passiert, wenn man kirchliches ehrenamtliches Engagement unter der Perspektive interaktiver Wertschöpfung neu buchstabiert wird? – Andreas Fritsch, Florian Sobetzko und Matthias Sellmann bieten dazu lesenswerte Überlegungen.
Im Wissenschaftsbereich: Citizen Science
Bürgerinnen und Bürger forschen und schaffen Wissen: Über das Leben von Wildschweinen in der Großstadt, die motorische Entwicklung im Kleinkindalter, die steigende nächtliche Lichtverschmutzung, den Landschaftswandel in der sächsischen Schweiz u.v.m. Während Citizen Science in den USA schon länger das Interesse der etablierten Forschungsinstitutionen geweckt hat, ist Bürgerwissenschaft im deutschsprachigen Bereich eine relativ junge Entdeckung.
Neben den derzeit dominierenden kollaborativen Projekten, in denen Bürger/innen Daten erheben, geht es bei der Ko-Produktion z.B. um die gemeinsame Auswertung von Datenmaterial durch Citizen Scientists und Wissenschaftsprofis. Auf Augenhöhe ist die Kooperation im Bereich des Ko-Designs, wo z.B. gemeinsam an der Generierung von Forschungsfragen gearbeitet wird.
Rückkehr in die Mitte der Gesellschaft
Für den Wissenschaftstheoretiker Peter Finke verbindet sich mit der Citizen Science die „Vision der teilweisen Befreiung der Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm und ihrer Rückkehr in die Mitte der Gesellschaft“ . Er betrachtet Citizen Science als „eine der stärksten, zugleich traditionsreichsten und modernsten Ausdrucksformen bürgerschaftlichen Engagements in der Zivilgesellschaft“ . Laien seien eben nicht dumm und das Wissen gehe auch vom Volk aus.
Als Stärken der Citizen Science benennt Peter Finke Anschaulichkeit, Lebensnähe, die Generierung von Handlungswissen, das bei der Bewältigung von Alltagsentscheidungen hilft, das besondere Interesse an lokalen und regionalen Aspekten des Wissens, der realistischere Umgang mit Ungenauigkeit, eine besondere Begabung für das Erkennen von Zusammenhängen (als Kehrseite der beschränkten Spezial- und Tiefenkenntnis). Im Hinblick auf den etablierten Wissenschaftsbetrieb an den Universitäten hat Citizen Science eine Ergänzungs- und Kompensationsfunktion, eine Übersetzungsfunktion, eine Orientierungs- und Zusammenhangsfunktion und eine Kontrollfunktion und ist mithin unverzichtbar.
Bürgerinnen und Bürger als Forschende
Warum werden Bürgerinnen und Bürger zu werden zu Forschenden? – Aus vielfältigen intrinsischen Motiven: Weil sie neugierig und intelligent sind, weil sie entdecken und bewahren wollen, weil sie sammeln und spielen.
Citizen Science geschieht ehrenamtlich. Bürger/innen forschen freiwillig und unentgeltlich, oft auch unter Einsatz erheblicher Eigenmittel. Angesichts der angespannten Finanzsituation in manchen Forschungsbereichen sind das von Bürger/innen generierte Datenmaterial und Wissen begehrt. – Doch wie ist es um den Schutz der Rechte an diesen Daten bestellt?
Im Kulturbereich: Bürgerbühnen
„Bürger, führt euch auf!“ und „Verschwende deine Zeit!“ – Mit Slogans wie diesen wirbt die Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden. Auf dem Titelblatt des Spielplans 2014/15 liest man: ‚Wenn es die Bürgerbühne nicht gäbe, wüssten viele gar nicht, dass es mich gibt.‘ (Darsteller der Bürgerbühne)
Seit der Spielzeit 2009/10 gibt es in Dresden die neue Sparte ‚Bürgerbühne‘; andere Theater, wie z.B. das Nationaltheater Mannheim, sind inzwischen gefolgt. In diversen Spielclubs, in regulären Inszenierungen und bei Bürgerdinners bringen Bürger/innen sich und ihr Leben als ‚Experten des Alltags‘ auf die Bühne. Sie bieten ihre Themen und ihre Expertise an, sie stellen ihr Leben zur Verfügung. Den Menschen zu sehen und ihm viel zuzutrauen, das mache das Theater nützlich für die Stadt, meint Intendant Wilfried Schulz. Für die Darsteller/innen bedeutet die Bürgerbühne Teilhabe, für die Institution Theater Öffnung zur Stadt und zur Gesellschaft.
Öffnung zur Gesellschaft
Über ihre Rolle als Regisseurin schreibt Miriam Tscholl, Leiterin der Dresdner Bürgerbühne: „Der Regisseur muss zulassen, dass die Darsteller die Experten der Geschichte sind, die sie auf der Bühne zeigen und dass sie sich der Bühne und der Inhalte und Formen ihrer Darstellung ermächtigen. Seine Arbeit ist es, Fragen zu stellen, zuzuhören, zu beobachten, das Gesehene zu beschreiben und zu bestärken. […] Die Tatsache, dass ‚die nicht können, was man gerne zeigen würde‘, wird entschädigt durch Momente, die man sich so nicht hätte ausdenken können, weil sich plötzlich Erfahrungen körperlich und sprachlich veräußerlichen, die weit über mein Vorstellungsvermögen hinausgehen.“
Im Regelfall sind klassische Kulturangebote wenig individualisiert und in geringem Maß kundenintegrierend; Angebotsformen wie Bürgerbühnen versuchen das Gegenteil: Hier geht es um ein hohes Maß an aktiver künstlerischer Teilhabe und das unter professioneller Anleitung. Man kann Bürgerbühnen unter dem Aspekt des ‚Audiance Development‘, der strategischen Entwicklung neuen Publikums mit Hilfe unterschiedlicher Vermittlungsfunktionen, subsumieren. Denn in der Tat, ähnlich wie die christlichen Kirchen, steht auch die etablierte Kulturinstitution Theater unter einem nicht geringen gesellschaftlichen Legitimierungsdruck: Angesichts eines alternden, weniger werdenden Publikums – für wen oder was ist ein Theater (noch) nützlich? Was bringt es einer Stadt, eine solche Institution zu fördern und erhalten?
„Im normalen Leben wären wir uns nicht begegnet.“
Man kann die Bürgerbühne auch unter der Perspektive des Sozialen betrachten: „Teilnehmer, die erleben, dass die Angebote der Bürgerbühne für sie von Wert sind, entwickeln voraussichtlich Zufriedenheit, Vertrauen und Engagement.“ In den Bürgerbühnenprojekten entstehen Sozialkontakte unterschiedlichster Art. ‚Im normalen Leben wären wir uns nicht begegnet‘, meinen viele. Und auch auf die Theaterprofis kommen plötzlich ungewohnte soziale Verpflichtungen zu (Konfrontation mit dem drohenden Ablauf einer Aufenthaltsgenehmigung, Kontakte mit dem Jugendamt, Selbstmord einer Darstellerin).
Schließlich kann man über Bürgerbühnen aber auch unter dem Aspekt der kulturellen Innovation nachdenken: Entsteht hier eine vitale, zukunftsträchtige neue Form des Theaters? – Hajo Kurzenberger sieht die Stärken der Bürgerbühne darin, dass sie „bodenständig und ortskundig“ sei, die „Neuentdeckung der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ betreibe und „einen phantasievollen Umgang mit der Wirklichkeit“ propagiere und praktiziere.
Das Wissen der Bürgerinnen und Bürger des Gottesvolks
Wie kann das Expertenwissen der Getauften und Gefirmten in der Kirche (besser) zur Entfaltung kommen? Lernend aus den Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Teilsegmenten (Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur) ist festzuhalten:
• Grundlegend ist, dass die Organisation Kirche und deren hauptberufliche Repräsentant/Innen (an-)erkennen: Menschen, die sich in der Kirche engagieren, sind auf vielfältige Weise kompetent und wissend, sie sind Expert/innen des Alltags, Expert/innen des Lebens und Expert/innen des Glaubens.
• Lebensnähe, Konkretheit, Authentizität und Erfahrungssättigung, Handlungsorientierung, Fähigkeit zum vernetzten Denken zeichnen dieses Wissen aus.
• Dem ‚Not-invented-here-Phänomen‘ gegenüber dem Wissen der ehrenamtlich Engagierten ist entschieden gegenzusteuern; ein verantwortlicher und respektvoller Umgang mit dem freiwillig und unentgeltlich zur Verfügung gestellten Wissen muss selbstverständlicher Bestandteil der kirchlichen Organisationskultur werden.
• Im Wissen der ‚Bürgerinnen und Bürger des Gottesvolkes‘ liegt ein entscheidender Schlüssel für einen guten Weg der Kirche in die Zukunft:
„Die Kirche braucht alle, die zu ihr gehören. Sie muss sie hören und respektieren. Sie muss ihnen Raum geben und Aufmerksamkeit. Sie braucht sie um ihres Lebens willen, das sie verkörpern, um ihres Glaubens willen, für den sie stehen, und um ihrer Liebe willen, zu der sie fähig sind. Die Kirche braucht sie, um zu entdecken, wo sie ist und was ihre Aufgabe als Kirche hier und heute ist. Sie braucht sie, um zu werden, was sie sein soll: Gottes Volk.“
Elke Langhammer
Gekürzte, überarbeitete Fassung von: Elke Langhammer, Das Wissen der Bürgerinnen und Bürger des Gottesvolk, in: Gabriele Denner (Hg.), Hoffnungsträger nicht Lückenbüßer. Ehrenamtliche in der Kirche, Ostfildern 2015, 60-68.