Der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad über die mehrdeutige Zeit „zwischen den Jahren“.
Es dürfte zu den Grundfragen menschlichen Suchens gehören, wie sich unser Leben in kosmische Prozesse einschreibt und wie sich diese Prozesse in unserem Leben manifestieren. Spätestens seit der Bronzezeit hat sich daraus ein besonderes Interesse für Bewegungen von Sonne und Mond, aber auch der anderen Sterne herausgebildet, die den Wechsel der Jahreszeiten markieren und uns daran erinnern, dass unser Leben in den Zyklus von Sommer und Winter, von Licht und Dunkelheit eingebunden ist. Gerade die Eckpunkte der Sonnenbahn haben die Menschen seit jeher interessiert. Die Sommersonnenwende und die Wintersonnenwende sind wichtige Elemente für die kalendarische Zeitrechnung in vielen Kulturen, und durch ihre hohe symbolische Bedeutung haben sich auch immer religiöse Feste an diese Punkte angelagert.
Die Lücke zwischen Sonnen- und Mondkalender
Was das alles bedeutet, kann man sehr schön in diesen Wochen in Europa erleben. Nicht nur die Weihnachtstage, sondern auch die Tage „zwischen den Jahren“ sind für viele Menschen besonders herausgehoben. Die Tage zwischen der Wintersonnenwende am 20./21. Dezember und dem orthodoxen Weihnachtsfest („Erscheinung des Herrn“) am 6. Januar sind als „Raunächte“ (in alter deutscher Rechtschreibung auch „Rauhnächte“) bekannt. Die Zahl der Raunächte, die bisweilen auch „Rauchnächte“ heißen, ist lokal unterschiedlich, doch immer geht es um eine Zeitspanne, in der die gewohnte, sichere Ordnung des Lebens herausgefordert wird. Das hat vermutlich damit zu tun, dass der Sonnenkalender, der die „Wiederkehr“ der Sonne nach 365 Tagen als Grundlage hat, mit dem religiös sehr einflussreichen Mondkalender irgendwie in Einklang gebracht werden muss, dessen 12 Monate es nur auf 354 Tage bringen – es ergibt sich eine Lücke von 11 Tagen (also 12 Nächten), die gewissermaßen „aus der Zeit gefallen“ sind und für alle möglichen außergewöhnlichen Einflüsse offen sind.
Offenheit für jenseitige, nichtmenschliche und schwer zu kontrollierende Kräfte
Zur Herkunft der Raunächte gibt es unterschiedliche Theorien, die mit verschiedenen Herleitungen des Wortes zu tun haben. Nach einer Theorie leitet sich der Name vom mittelhochdeutschen rûch ab, das „haarig“ bedeutet und heute noch in der Kürschnerei für Pelzwaren („Rauware“ oder „Rauchware“) verwendet wird. Das würde die Raunächte mit der Anwesenheit von mit Fell bekleideten Dämonen verbinden, oder sich auf bäuerliche Rituale mit Tieren beziehen. Da diese Nächte auch als „Rauchnächte“ bekannt sind, könnte eine andere Theorie ebenfalls einleuchten, die sich auf die seit dem Mittelalter gut belegte Praxis beruft, während dieser Tage die Ställe und Wohnräume mit Weihrauch energetisch zu reinigen.
Wie auch immer man die Herkunft deuten möchte, diesen „Zwischentagen“ kommt in jedem Fall eine Offenheit für jenseitige, nichtmenschliche und schwer zu kontrollierende Kräfte zu, weshalb man sie in der Oberpfalz auch „Raunnächte“ nannte. Kein Wunder, dass sie als besonders geeignet für prophetische Weissagung, Kommunikation mit der Geisterwelt, aber auch für das Wirken mächtiger Dämonen betrachtet wurden.
Bedeutungsverlust christlicher Autoritäten und Dominanz säkularer Wissensordnung
Und heute? Es dürfte wohl nur noch wenige Bäuerinnen und Bauern geben, die ihre Ställe von einem Priester mit Weihrauch und Weihwasser reinigen lassen. Auch die Dienstbarmachung des Teufels – der in diesen Nächten anscheinend besonders zugänglich war – wird vermutlich nur noch wenige interessieren. Der Bedeutungsverlust christlicher Autoritäten und die Dominanz einer säkularen Wissensordnung hat seit dem neunzehnten Jahrhundert dazu geführt, dass die Angst vor Dämonen und der Gefährdung durch unkontrollierbare Kräfte bei den meisten Menschen abgenommen hat. Das heißt aber nicht, dass die Menschen auch ihren Wunsch aufgegeben haben, ihr Leben im Einklang mit kosmischen Rhythmen und in der Offenheit gegenüber nichtmenschlichen Kräften zu gestalten. Die Raunächte sind deshalb für viele Menschen noch immer eine Möglichkeit, solchen Korrelationen und Kräften nachzuspüren, und an entsprechender Literatur zur spirituellen und psychologischen Gestaltung dieser Suche herrscht kein Mangel. Meist werden die Raunächte heutzutage positiv gedeutet, nämlich als Chance zur Einkehr, Entschleunigung und Anbindung an kosmische Energien, die für das nächste Jahr heilend eingebracht werden können.
Angstfreie Durchschreitung der Nacht
In meinem Freundeskreis gibt es viele, die die Zeit „zwischen den Jahren“ für Meditation, für Rückschau und Vorausschau verwenden. Das Weihnachtsfest wird eher als eine christliche Überformung des viel wichtigeren Ereignisses gedeutet, das dieser Zeit unterliegt – die angstfreie Durchschreitung der Nacht und die Vorbereitung der Rückkehr der Sonne. Während der Raunächte scheinen die Grenzen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen Mensch und Mitwelt, durchlässiger. Viele nutzen dies für einen meditativen Gang durch Wälder und Landschaften, legen ein großes Tarot-Orakel fürs neue Jahr oder nehmen sich die Zeit, die astrologischen Konstellationen der kommenden Zeit genau zu betrachten.
Obwohl solche Handlungen in europäischen Gesellschaften sehr weit verbreitet sind, werden sie in den Medien und der Öffentlichkeit gern als „rückständig“ oder sogar als „gefährlich“ abgestempelt. Ich sehe das anders. Die Einsicht, dass unser Leben in größere Zusammenhänge eingebunden ist, die wir nicht kontrollieren können, in die wir uns aber einfügen und „einschwingen“ können, ist ein willkommenes Gegenmittel zur allgegenwärtigen Arroganz menschlichen Selbstverständnisses, das in seiner Allmachtsfantasie den Blick für die Mitwelt verloren hat.
Gelegenheit, unseren Ort im kosmischen Gefüge zu überdenken
Egal, wo wir uns auf dem vielfältigen Feld heutiger spiritueller Optionen bewegen, solange wir die Raunächte als Gelegenheit begreifen, unseren Ort im kosmischen Gefüge zu überdenken und zu prüfen, wie wir unser Leben im Einklang mit größeren Strukturen gestalten können, sind diese Nächte nicht „aus der Zeit gefallen“. Vielmehr bieten sie die Möglichkeit, uns der Rhythmik des Lebens in einer gelingenden Weltbeziehung zu öffnen. Das brauchen wir in dieser Zeit mehr denn je.
__________
Kocku von Stuckrad ist Professor für Religionswissenschaft und Direktor der Graduate School of Religion, Culture and Society an der Universität Groningen (Niederlande)
Bild: Tierschutzpartei Berlin
Bild: Kocku von Stuckrad