Im Kontakt mit Menschen treffen Pädagogen und Seelsorgerinnen auch auf Personen mit Traumaerfahrungen. Welche Grundhaltungen ihnen gegenüber aufgrund ihrer Verletzungen hilfreich sind, erläutert Helga Kohler-Spiegel.
In den vergangenen Jahren wurde das Bewusstsein für Trauma-Erfahrungen und Trauma-Verarbeitung deutlich geschärft; Anlässe und Ursachen, Reaktionen und längerfristige Symptome von Traumatisierungen wurden und werden beobachtet, beforscht und begleitet.
Auf dieser Basis entwickelte sich der Begriff „traumasensibel“, um deutlich zu machen, dass in allen Bereichen, in denen mit Menschen bzw. im Kontakt mit Menschen gearbeitet wird, Personen mit Trauma-Erfahrungen dabei sein können, meist ohne dass dies bekannt ist. Deshalb soll eine traumasensible Grundhaltung entwickelt werden, um das Miteinander von Menschen mit und ohne Trauma-Erfahrungen positiv zu gestalten. Dies gilt auch für die Grundvollzüge von Kirche: Bei allem Tun – im Bereich der Diakonie, der Liturgie, der Verkündigung und der Gemeinschaft – soll jedes Tun der verantwortlich handelnden Personen in diesem Sinn „traumasensibel“ sein.
Es sagt sich so leicht… Zum Grundverständnis. Eine Erinnerung
Altgriechisch „Trauma“ bedeutet medizinisch eine Schädigung oder Verletzung lebenden Gewebes, die durch Gewalteinwirkung von außen entsteht, wie z.B. durch einen starken Schlag oder Stoß gegen einen Körperteil. Im übertragenen Sinne werden auch schwere psychische Verletzungen als Traumata bezeichnet. Unter Psychotrauma versteht man also ein (kurzes oder länger andauerndes) unerwartetes dramatisches Ereignis von außen, das beim betroffenen Menschen eine massive, leidvolle seelische Erschütterung nach sich zieht, weil seine Verarbeitungsmöglichkeiten überflutet und damit ausgeschaltet sind. Wenn die extreme Stresssituation andauert oder nicht abgebaut werden kann, besteht die Gefahr einer posttraumatischen Belastung, „Trauma-Folgestörung“ oder „Posttraumatische Belastungsstörung“ genannt.
Psyche im Notprogramm
Wenn also nach einer Traumatisierung keine Beruhigung eintritt, bleibt die Psyche im Notprogramm (d.h. Kampf oder Flucht oder Erstarrung). Der dauerhaft erhöhte Stresslevel im Notprogramm wird Hyperarousal bzw. Übererregung genannt. Van der Kolk spricht von „verkörpertem Schrecken“, zahlreiche körperliche Symptome und Verhaltensweisen können die Schockstarre und/oder die Übererregung sichtbar machen. Hinzu kommen Intrusionen (Wiedererleben), d.h. Erinnerungsbilder, Albträume, Flashbacks, in denen die Erinnerung so überwältigend und intensiv sein kann, dass die betroffene Person sich wieder in der traumatisierenden Situation erlebt. Auch Konstriktion, das (meist unbewusste) Vermeiden von Reizen, Situationen, Szenen oder Menschen, kann auftreten. Dissoziation (Trennen, Abspalten) bzw. dissoziative Zustände sind eine wichtige Möglichkeit der Psyche, durch Abspalten und Wegdriften unerträgliche Belastungen zu überstehen und zu überleben. „Man könnte bildhaft sagen, dass im Gehirn eine Art elektrische Hauptsicherung für Gefühle oder auch Erinnerungen und Gedanken für Momente durchglüht, um Momente später wieder eine ‚Verbindung‘ zu den Geschehnissen herzustellen.“[1]
Traumasensibel
Menschen mit Traumaerfahrungen haben „Strategien“ entwickelt, die zum Überleben hilfreich, im Alltag oft aber einschränkend und sozial behindernd sind. Traumasensibel zu arbeiten ersetzt nicht die psychotherapeutische Arbeit, sondern unterstützt durch sichere Orte und sichere Beziehungen die Alltagsbewältigung und die Selbstheilungskräfte, fördert die Resilienz und ermöglicht ganz konkret im Alltag neue „positive“ Erfahrungen.
fünf Aspekte einer traumasensiblen Grundhaltung
Die folgenden fünf Aspekte bilden die Basis einer „Traumasensiblen Grundhaltung“[2]:
- Annahme des guten Grundes: „Alles was ein Mensch zeigt, macht einen Sinn in seiner Geschichte!“ Verhaltensweisen von traumatisierten Menschen können für alle sehr belastend sein. Diese Verhaltensweisen als Überlebensstrategien zu sehen und zu würdigen, ist oft notwendige Voraussetzung, um sie zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.
- Wertschätzung: „Es ist gut so, wie du bist!“ Um das eigene Tun wieder als sinnvoll und wertvoll zu erleben, braucht es den „sicheren Rahmen“ und „sicheren Ort“, eigene Stärken, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein können wieder wachsen.
- Partizipation: „Ich traue dir was zu und überfordere dich nicht!“ Teilhabe an der Gestaltung eigener Lebensbedingungen ist einer der zentralen Einflussfaktoren, konkret das Erleben von Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit.
- Transparenz: „Jeder hat jederzeit Recht auf Klarheit!“ Berechenbarkeit und Verstehbarkeit von Erlebnissen und Prozessen geben Sicherheit.
- Spaß und Freude: „Viel Freude trägt viel Belastung!“
Ergänzt werden diese traumasensiblen Verhaltensweisen durch die Grundhaltung eines geduldigen Umgangs sowie durch Ressourcenorientierung, womit der Blick also zuerst auf die Stärken und Möglichkeiten eines Menschen gerichtet werden.
Ein doppelter Auftrag
Traumasensibles Arbeiten bedeutet, auch ohne Kenntnis über eventuelle Traumatisierungen eines anderen Menschen traumabewusst, traumalindernd und Retraumatisierung vermeidend zu arbeiten und allen Personen, mit und ohne Traumaerfahrungen, so zu begegnen, in Zusammenarbeit und Dialog zu treten, sie zu begleiten…
gerade im kirchlichen Kontext unverzichtbar
Traumasensibel zu arbeiten, heißt also, so zu arbeiten, dass alle Menschen, mit und ohne Traumaerfahrungen, ihren Platz und ihre Stimme haben. Zugleich muss im Kontext kirchlicher Arbeit das Bewusstsein präsent sein, dass Vertreter von Kirche und kirchliche Strukturen selbst zu Tätern von Gewalt wurden und werden, körperlich, psychisch, spirituell-geistlich. Deshalb scheint mir eine traumasensible Grundhaltung und traumasensibles Arbeiten gerade im kirchlichen Kontext so unverzichtbar.
Traumasensibles Arbeiten konkret
Konkret geht es darum, äußere sichere Ort zu schaffen, an denen Menschen sich nicht nur sicher fühlen, sondern sicher sind. Es geht darum, innere Sicherheit zu ermöglichen, im Umgang miteinander Gefühle wahr- und ernstzunehmen, klar zu reden und zu handeln, Menschen nicht zu verwirren – und vieles mehr. Traumasensibles Arbeiten unterstützt die Entwicklung positiver Selbstbilder, hilft im Umgang mit belastenden Gefühlen und – zusammenfassend gesagt: fördert alles, was die Resilienz von Menschen stärkt. Biblische Erzählungen, christliche Grundüberzeugungen und religiöse Rituale haben ein großes Potential für ein solch stärkendes, traumasensibles Arbeiten. Zugleich achten Menschen, die traumasensibel arbeiten, mit hoher Bewusstheit und Aufmerksamkeit auf eine professionell reflektierte Beziehungsgestaltung und übernehmen Verantwortung für diese, sie reflektieren sich selbst und sind im Austausch über ihr eigenes Erleben und Verhalten.
___
Dr. Helga Kohler-Spiegel, Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und Redakteurin von feinschwarz.net.
Bild: Dandelion / pixabay
[1] Andreas Krüger, Erste Hilfe für traumatisierte Kinder, Ostfildern 5. Aufl. 2015, 39.
[2] Vgl. Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik, 2011.
Von Helga Kohler-Spiegel auf feinschwarz.net erschienen zum Thema auch folgende Beiträge: