Auseinandersetzung und Konflikt gehört zum Leben, auch in der Kirche. Diskurskriterien einer pastoralethischen Praxis skizziert Hanspeter Schmitt.
Wie handeln in Zeiten einer Pandemie angesichts begrenzter Ressourcen und prekärer Lagen? Wie sich entscheiden in puncto Waffenlieferungen, Wirtschaftssanktionen und Flüchtlingshilfe, wenn deutlich ist, dass der aktuelle Krieg in Europa Entscheidungen verlangt und Passivität schlicht falsch wäre? Welche Maßnahmen ergreifen, um die dramatischen Konsequenzen klimatischer Veränderungen zukunftsorientiert und für alle erträglich zu gestalten? Herausfordernde praktische Fragen gibt es offenkundig genug, und zwar nicht nur im «ethischen Grossformat», wie die drei eben genannten. Es gibt sie genauso im kleinen Rahmen des persönlichen und sozialen Bemühens um faire Formen verantwortlichen Lebens und Handelns.
Aufgrund der Anzahl und Brisanz solcher Fragen kommt es unablässig zu privaten oder politischen Konflikten darüber, welche Antworten beziehungsweise welche konkreten Lösungen die richtigen sind. Was ist zu bedenken, was im Anschluss daran zu tun, um der eigenen, gesellschaftlichen oder internationalen Verantwortung gerecht zu werden? Überlegungen dieser Art betreffen meistens komplexe Situationen und Sachverhalte, berühren ureigene Interessen, wecken zudem Erfahrungen biographischer und kultureller Herkunft. Daher wundert es nicht, sondern ist dieser Tragweite ethischer Reflexionen geschuldet, dass sie zu einem zähen Ringen führen können. Oft entwickelt sich ein harter Streit um vermeintlich bessere Argumente oder Interpretationen – schlimmstenfalls verbunden mit verletzenden Angriffen und haltlosen Unterstellungen.
Es ist eine Kunst, kultiviert und auf Augenhöhe zu streiten
Nicht allen behagen diese Debatten. Die Anzahl derer, die davon nichts mehr hören und ihre Ruhe haben wollen, wächst nachweislich. Andere stören sich an der Heftigkeit der Auseinandersetzungen. Sie fordern Einigkeit und Harmonie, gerade weil es um Themen der Humanität und guten Lebensführung gehe. Dem muss man entgegnen, dass es unabdingbar und eine Kunst ist, kultiviert und auf Augenhöhe zu streiten. Gesucht werden also echte Streitkulturen! Sie sind gerade auch ethisch unabdingbar, um schwierige Moralfragen und werthaltige Konflikte anzugehen und zu bewältigen. Erst so können divergierende Interessen, Eindrücke und Positionen überhaupt erkannt, ausgetauscht und angenähert werden. Wenn dabei auf allen Seiten Respekt, ein angemessenes Priorisieren und Abwägen zentraler Aspekte sowie situative Einsichten federführend bleiben, sind ehrliche wie tragfähige Kompromisse zu erwarten.
Zugegeben: Ein solches Ringen um die bestmögliche Praxis wirkt selten einfach harmonisch, zeugt aber doch von mehr innerer Einigkeit als es auf den ersten Blick scheint. Denn einig ist man sich ja immerhin, dass es um humane Lösungen geht, für die sich engagierte Auseinandersetzungen und Dialoge allemal lohnen. Einig ist man sich zudem über die Bedeutung starker Werte wie Gerechtigkeit, Verantwortung, Freiheit und Solidarität, auch wenn ihre Umsetzung im Detail strittig bleibt. Immer aber steht außer Zweifel, dass die Würde und Entfaltung von Menschen zu achten sind – so auch beim Streiten, wo es gilt, die Positionen und Motive Andersdenkender zumindest offen anzuhören und ernsthaft zu erwägen.
Fairer Streit ist ein öffentliches Gut
Diese Anforderungen qualitativer Diskurse werden bekanntlich dort unterboten, wo hierarchische Muster, autoritäres Gehabe, Vorurteile oder notorische Gleichgültigkeit das soziale und institutionelle Klima prägen. Kaum jemand hat Lust auf fruchtlose Dauerkonflikte, und schön, wenn man sich wirklich versteht. Dennoch ist fairer Streit eine persönlich anzustrebende Tugend und ein öffentliches Gut! Falls einmal trotz hoher Streitkultur kein Konsens möglich ist, bleibt allen zumindest die Erfahrung des aufrechten Ganges – und dass Differenzen wohl oder übel zum realen Leben gehören.
Es gibt allerdings Probleme, die derart extrem sind, dass ihre Lösung keinen Aufschub duldet. Wenn dann – trotz ihrer Dringlichkeit – überzeugende Lösungen systembedingt oder machtförmig blockiert werden, ist die Eskalation des laufenden Streites vorprogrammiert. Die besagten Klimadebatten liefern auch dafür genügend Anschauungsmaterial. Während die einen sprachlich eskalieren und Aktivisten als «Klimaterroristen», «Sektierer» oder «Idioten» diffamieren, greifen die so Geschmähten bisweilen zu Mitteln, die fern der Klimafrage liegen: CO2-lastige Vorgänge zu stören, um dafür Aufmerksamkeit zu erzeugen, ist inhaltlich einschlägig und nachvollziehbar – nicht aber, «unbeteiligte» Kunst in Museen zu beschädigen. Dahinter erkennt man indes die berechtigte Empörung und tiefe Verzweiflung angesichts des andauernden Versagens politischer und wirtschaftlicher Akteure. Was diesen «Mix» zudem verschärft und das Bewusstsein eines definitiven Notstandes festigt, ist die Selbstgefälligkeit und Passivität von Bürgerinnen und Bürgern. Als ob es nicht auch in ihrer Verantwortung läge, dass die ökologische Balance unseres Planeten durch solches Versagen vor dem Bankrott steht. Es braucht jetzt keine Gespräche mehr, sondern zielführendes Handeln, um das verlorene Vertrauen in die Kraft politischer und institutioneller Diskurse zurückzugewinnen!
Es gibt eine im Diskurs plausibilisierte pastoralethische Praxis…
Auch die katholische Kirche und ihre Pastoral sind von einer fruchtlosen «Dauerdiskursivität» gezeichnet. Auch hier geht es um unausweichliche Fragen: Genderfairness, Anerkennung neuer Formen personaler Liebe, strukturelle Ursachen übergriffiger Pastoralmacht, organisierte Vertuschung krimineller Taten, prozedurale Transparenz, systemunabhängige Kontrolle, Gewalten- und Aufgabenteilung, Zölibatspflicht, sakramentale Integration Geschiedener etc. Diese Probleme und die damit verbundenen Konflikte sind seit Jahrzehnten ausdiskutiert, aber praktisch unerledigt. Ausdiskutiert sind sie, weil sämtliche relevante Motive, Erfahrungen und Inhalte sowie die einschlägigen Expertisen in zahllosen Diskursen breit und kritisch erörtert wurden. Es gibt auf Ebene der Argumente schlicht nichts Neues zu sagen. Gleichwohl sind die Lösungen, die dabei theologisch-ethisch erarbeitet wurden und hinter denen nahezu alle Fachleute und die Betroffenen stehen, nicht in die offizielle Diktion kirchlicher Praxis eingegangen. Grund ist auch hier die strukturell manifeste, amtlich ausgeübte Macht. Diese steht dem argumentativen Konsens der weit überwiegenden Mehrzahl jener, die seit langem diskutieren, entgegen und blockiert die im Diskurs plausibilisierte pastoralethische Praxis. Ob die wiederholte Neuauflage synodaler Prozesse daran etwas ändert, ist eine völlig offene Frage.
Selbstverständlich lassen sich ethisch bedeutsame Sachverhalte, auch wenn sie dringlich sind, nicht per Mehrheitsprinzip entscheiden, wobei reflektierte Erfahrungen für solche Entscheide immer massgeblich bleiben. Umgekehrt aber gilt genauso, dass eine Minderheit nicht per se die praktische Wahrheit auf ihrer Seite hat, selbst dann nicht, wenn sie amtlich agiert. Denn auch sie prüft, korrigiert und legitimiert idealerweise ihre Positionen mittels der besagten inhaltlich orientierten Gesprächskultur. Für deren faire, personengerechte und praktisch folgenreiche Ausgestaltung haben somit alle Beteiligten persönlich wie systemisch Verantwortung.
„Entwichtigung“ der herrschenden Kirchenlogik
Bis dato ist Fakt, dass diese kirchlichen Diskurse betreffs ihrer ethisch-praktischen Anschlüsse gescheitert sind. Gewiss kann man als Grund dafür nicht überbrückbare inhaltliche Differenzen anführen. Final ausschlaggebend war aber stets eine diskursfremd eingesetzte amtliche Macht: Sie nutzt ihren Einfluss für die von ihr selbst favorisierten Argumente und verhindert so die Ratifizierung des alternativen pastoralethischen Handelns. Selbst moderate, auf spezifische Lagen und Regionen zugeschnittene Kompromisse werden auf diese Weise um der vermeintlich objektiven Wahrheit willen untersagt. Das mag man ordnungspositivistisch hinnehmen; inhaltlich und diskursethisch plausibel ist es für die allermeisten jedoch nicht. Einmal mehr tut System- und Machtkritik auch kirchlich not![1]
Anders als in der ökologischen Debatte sind indes in der aktuellen kirchlichen «Klimakrise» Eskalation und Widerstand zunehmend unwahrscheinlich: Längst praktizieren pastorale Akteure und Kirchenvolk vor Ort auf Basis gewissenhafter Reflexionen angemessene Lösungsmodelle. Scharenweise entziehen sich zudem Menschen dem System Kirche, dies aus unterschiedlichen Gründen, aber auch, weil sie den beschriebenen Blockaden existentiell widersprechen. So greift die «Entwichtigung» der herrschenden Kirchenlogik um sich – befeuert gerade auch durch jene, die diese Logik kraft ihres Amtes verteidigen wollen.
[1] Vgl. bzgl. theologisch-ethischer Diskurse: Hanspeter Schmitt, Subsidiarität statt Subordination. Leitbegriff und Reflexion einer erneuerten kirchlichen Moralkommunikation, in: Familie im Brennpunkt (Theologische Berichte 37), Fribourg i.Ue. 2017, 75-115.
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Prof. Dr. Hanspeter Schmitt lehrt Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.
Bild: Helmut J. Salzer – pixelio.de