Mitunter werden Heilige Schriften gegeneinander ausgespielt, von anderen werden ihre Aussagen vereinheitlicht und Unterschiede nivelliert. Felix Körner SJ untersucht diese Textpolitiken und fragt nach den je eigenen Botschaften von Tanakh, Bibel und Koran.
Wer Gewalttaten mit der eigenen heiligen Schrift rechtfertigen will, wird schnell fündig. Der jüdische Tanakh, die christliche Bibel, der Koran: Alle drei sind Textarchive mit ausreichend Brennstoff für die Motivierung eines brutalen Angriffs; und sie werden entsprechend verwendet – jetzt wieder.
Was kann die Theologie dazu sagen? Ein Mensch, den Wut, Hass oder Menschenverachtung zu verzehren beginnen, ist mit Überlegungen nicht umzustimmen. Ungelesen, ungehört bleiben die Belehrungsversuche seiner eigenen Religionsoffiziellen: Die Gewaltzitate seien doch anders zu kontextualisieren, anders gemeint, anders umzusetzen. Fanatiker:innen kann man kaum noch mit Argumenten kommen. Wer nicht bereit ist, weiter zu denken und hinzuschauen, zieht keine neuen Gesichtspunkte mehr in Betracht. Doch als nachdenklich Gläubige wollen wir uns zumindest selbst im Klaren sein, wie wir unseren Schriftbezug denken; und vor allem wollen wir unsere Sicht vielleicht der nächsten Generation verständlich machen. Dazu braucht es einfache Worte.
Wer nicht bereit ist, weiter zu denken und hinzuschauen, zieht keine neuen Gesichtspunkte mehr in Betracht
Kürzlich hatte mich eine Berliner Sufi-Vereinigung gebeten, zum »Koran als Begegnungsort der Religionen« zu sprechen. Sie hatten breit eingeladen; so war das Publikum religiös erfreulich plural. Die Gruppe selbst aber geht davon aus, dass »die heilige Thora, die heilige Bibel und der heilige Koran« im Grunde dasselbe sagen. Nun hätte ich es leicht gehabt, Schriftstellen herauszufischen, die diese Aussagengleichheit belegen. Dann wären aus der nicht-sufischen Zuhörerschaft allerdings sofort Gegenbeweise vorgebracht worden, aus allen drei Textkorpora. Und damit stünde jemand als Störenfried da; die Person, die den Einwand bringt, oder gar eine ganze Religionsgemeinschaft lasse uns leider nicht »Liebe und Glückseligkeit erleben«. Uns dies erleben zu lassen sei aber gerade die Funktion all unserer Schriften, verkündet die Sufi-Vereinigung.
den bestimmten Stimmungen heiliger Schriften nachgehen
Ich entschied mich für ein neues Verfahren. Man kann ja fragen, ob unsere heiligen Schriften nicht jeweils eine bestimmte Stimmung verbreiten, in der man dann alles, was darin steht, verstehen kann; ja überhaupt alles besser verstehen kann. Richtig, das klingt ein bisschen nach normativer Zentrierung; aber das Verfahren zu erproben könnte sich trotzdem lohnen. An jenem Nachmittag bei den Sufis wurde ich jedenfalls verstanden – auch vom religiös pluralen Publikum, schien mir.
Da ich den Vortrag auf Deutsch halten sollte, bot sich eine Formulierung meiner Eingangsfrage an, die sich so hilfreich-mehrdeutig kaum in andere Sprachen übertragen lässt: Welchen »Ausgangs-Augenblick« vermitteln unsere Schriften? Damit ist sowohl nach einem Anfangsmoment gefragt, an dem uns unsere Grundschriften teilhaben lassen wollen, als auch nach deren besonderer Blickweise, ihrer je eigenen Perspektive.
Welchen »Ausgangs-Augenblick« vermitteln heilige Schriften?
Was ist der christliche Ausgangs-Augenblick? Natürlich könnte man jetzt an das Kind in der Krippe denken; aber was die Geburt Jesu bedeutet, wurde der Frühen Kirche ja erst an Ostern deutlich. Entwickelt hatte ich die Frage nach dem Ausgangs-Augenblick denn auch aus einer anderen Schriftstelle: der Emmausgeschichte. Den beiden enttäuschten Jüngern auf dem Heimweg war alles unverständlich geworden: ihre Schrift, ihre jüngsten Erlebnisse, ja ihr ganzes Leben. Dann aber kommt es zum Durchbruch. Im Licht des Auferstandenen, in seiner Gegenwart, können sie mit einem Mal klar sehen. Als sie Christus erkennen, wollen sie – müssen sie geradezu – aufbrechen. Jetzt leuchtet ihnen der Sinn der Schriften Israels und der Jesusgeschichte ein, jetzt können sie sich aufmachen in die Dunkelheit, mit brennendem Herzen. Welchen Ausgangs-Augenblick vermittelt das gesamte Schriftzeugnis demgemäß? Dass Christus lebt und wir aus lauter Freude lieben können. Vermitteln will das Schriftzeugnis offenbar diesen getrösteten, getrosten Blick auf die Weltgeschichte und auf die Schrift selbst.
einen getrösteten, getrosten Blick auf die Weltgeschichte
Der Ausgangs-Augenblick des biblischen Israel ist sicher der Exodus. Es kann das gesamte Schriftzeugnis so lesen: Gott hat uns in die Freiheit geführt und die Weisung gegeben, die uns ein Leben als Gemeinschaft schenkt – als Gemeinschaft, die Gottes treue Gerechtigkeit allen Völkern bezeugen kann. Wie Gott sein Versprechen gehalten hat, so hat nun auch Israel das zu halten, was ihm aufgetragen ist. Der Blick zurück, auf die erinnerte Befreiung, und der daraus ermöglichte Vorblick auf die Zukunft einer gerechten Lebensordnung sind der Ausgangs-Augenblick Israels; und dieser Blick macht auch verständlich, warum Israel immer wieder seine Schriften hören will: Sie erinnern das Volk an seine Berufung, Gottes Treue mit eigener Treue zu beantworten, zu bezeugen. Im Lichte dieses Ausgangs-Augenblicks erscheint auch erst der Sinn der biblisch geschilderten Eroberungen. Sie sollen nicht die Vernichtung anderer begründen. Vielmehr drücken sie im Rückblick aus, dass auch heute für das bundestreue Gottesvolk die Lebensweise einer anderen Tradition ganz und gar nicht in Frage kommt. Vielmehr gilt einzig, was der Befreier vom Sinai ruft: »Bewahre, was ich dir heute auftrage!« (Exodus 34,11).
Gottes Treue mit eigener Treue zu beantworten
Und der Koran? Er vermittelt den Angesprochenen ebenfalls eine entscheidende Blickänderung. Sie ist der Perspektivwechsel von unten nach oben und von der Unverständlichkeit zur Lesbarkeit. Am deutlichsten lässt sich das wohl in der frühmekkanischen Surat ar-Rahman sehen (Sure 55). Auch sie lässt sich als Gegenmodell zur Lebenshaltung ihrer Umweltkultur verstehen. Die vorislamische Dichtung kann mit immer neuen Worten ein und dieselbe Ausgangsszene schildern: Der Liebhaber blickt auf den verwehenden Sandboden; und alles, was er entziffern kann, bedeutet nur Verlust. Denn er erkennt lediglich, dass seine Geliebte fort ist. Ihr Stamm hat das Lager abgebrochen. Der Liebhaber bleibt allein zurück. Mehr scheint die Welt nicht herzugeben, mehr scheint sich nicht lesen zu lassen. Genau hiergegen tritt die koranische Verkündigung an. Sie ist – und sie ermöglicht – »Lesung« (qur’ān). Sie reißt den traurigen Blick regelrecht empor: zu Zweiheit von Sonne und Mond, zum ordnend gestirnten Himmel, zu Gott, vor dem sich das Leben abspielt zwischen Jenseits und Diesseits. Die ganze Weltordnung und -geschichte tritt in den Blick. Die Schöpfung wird lesbar. So wohlgeordnet wie der Kosmos tritt auch die Sure selbst den Angesprochenen entgegen. Ein Kehrvers fragt immer drängender: »Welche Zeichen eures Herrn wollt ihr denn noch leugnen?«. So ruft der Koran zum Aufblick, zur Anerkennung des Schöpfers und seiner Ordnungsweisheit – und deshalb zu einem Leben in dankbarer, gottesfürchtiger Verantwortung. Mit dem Blick, der die Welt lesbar gemacht hat, wird auch der gesamte Korantext verständlich als Gottes Ruf, als seine »Einladung«.
Die Schöpfung wird lesbar – als wohlgeordneter Kosmos.
Wie lassen sich unsere sinndeutenden, normgebenden, identitätsstiftenden Grundtexte also hören, wenn nicht als Bestätigung unserer Neigung zum gewaltsamen Ausgrenzen? Unsere Schriften lassen sich offenbar angemessener verstehen, wenn man sie weder gleichschaltet noch zerfleddert in Zitatesammlungen für jederlei Anlass. Sie vermitteln vielmehr drei unterschiedliche Ausgangs-Augenblicke: die mitreißende Freude des auferstandenen Christus – die Befreiung zum treuen Dienst – die Erkenntnis der gerechten Weltordnung. Damit aber vermitteln sie je auf ihre Weise einen Blick auf Gott und die Welt, der dem Leben dient – und dem Zusammenleben.
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Felix Körner SJ ist Theologe und Islamwissenschaftler und hat die Nikolaus-Cusanus-Professur für Theologie der Religionen am Institut für Katholische Theologie der HU-Berlin inne.
Bildnachweis: Felix Körner