Es gibt wohl niemanden in Deutschland, die/der gegenwärtig mit der Bildungspolitik unter Corona-Bedingung versöhnt wäre. Was könn(t)en wir aus dem Umgang mit dem Lock-Down für die Zukunft lernen, fragt Barbara Staudigl.
Klar, die Corona-Krise hat sich niemand ausgesucht und die Politik musste auf die hohen Inzidenzwerte reagieren. Und natürlich gibt es für eine Pandemie keine Strategien a priori, sondern man fährt auf Sicht und orientiert sich je neu. Aber man stutzt, wenn man liest, dass andere Länder bildungspolitisch anders mit dem Lock-down umgehen. Weltweit waren im April 2020 in 190 Ländern die Schulen geschlossen, aber im April 2021 nur in 301, weil man die negativen Folgen aus dem ersten Lock-down vermeiden wollte: die psychische Belastung der Kinder, Lernverluste mit späteren Einkommensbußen, Benachteiligung von sozial Schwachen usw. Natürlich reagiert man auch dort auf das aktuelle Ansteckungsgeschehen. In Frankreich waren in der zweiten Februarwoche 934 von 528.400 Klassen in Quarantäne, was im Umkehrschluss heißt, dass 99,8 Prozent normal beschult wurden.2
Im April 2020 ware in 190 Ländern die Schulen geschlossen, im April 2021 nur in 30.
Man wird an Krisen immer mit unterschiedlichen Konzepten herangehen. Aber man muss auch innehalten und fragen, ob und wie es besser ginge. Wir arbeiten im Bildungsmanagement mit den Prinzipien des klassischen Managements, das vom Dreischritt kausaler Logik geprägt ist: Ziele werden gesetzt, Maßnahmen werden geplant, um diese Ziele zu erreichen und schließlich wird gehandelt. A posteriori werden die Planziele mit den tatsächlich erreichten verglichen. Auf die Bildung angewendet heißt das: Bildungsziele werden definiert, Methoden und Maßnahmen reflektiert und an den Schulen wird umgesetzt. Das Erreichen der Planziele der Schülerinnen und Schüler wird mit Leistungsmessungen überprüft, das Erreichen systemischer Ziele mit Evaluationen.
Bildungsziele werden definiert, Methoden und Maßnahmen reflektiert und an den Schulen umgesetzt.
So sind wir auch an die Corona-Krise herangegangen. Die Lehrpläne und Lerninhalte waren gesetzt, die Überprüfungsmechanismen wie Leistungsnachweise und Prüfungen blieben unangetastet, geändert haben sich lediglich die Methoden und Maßnahmen, indem man auf einen digitalen Unterricht umstellte und seither Milliarden investiert in eine Digitaloffensive in der Bildung, die atemlos wirkt und deren Nutzen pädagogisch noch nicht abzuschätzen ist. Wie hätte eine alternative Herangehensweise an Bildungsprozesse aussehen können bzw. wie könnte sie für die Zukunft bei potenziellen neuen Krisen aussehen?
Wie könnten alternative Bildungsprozesse aussehen?
Sarah Sarasvathy, Professorin für Strategy, Ethics and Entrepreneurship an der University of Virgina, untersucht seit Ende des letzten Jahrhunderts erfolgreiche Unternehmen und entwickelte den Ansatz der „Effectuation“, der gerade für Situationen der Ungewissheit erfolgversprechend ist. Wenn die Zukunft nicht planbar ist, wenn man mit Unvorhergesehenem rechnen muss, funktioniert der klassische Dreischritt „Ziele setzen – Maßnahmen planen – handeln“ nicht mehr – oder zumindest deutlich schlechter als ein Ansatz, den Sarasvathy mit dem Kunstbegriff „Effectuation“ zusammenfasst. Sarasvathy definiert in ihrem Ansatz vier Prinzipien der Ressourcenorientierung, des leistbaren Verlusts, der Umstände und Zufälle und der Partnerschaften.3
1. Das Prinzip der Ressourcenorientierung
Welche Ressourcen hatte die Bildungspolitik zu Beginn der Corona-Krise? Zunächst einmal vor allem die Lehrerinnen und Lehrer. Sie sind diejenigen, die vor Ort die Brücke zwischen Inhalten und Schüler/innen herstellen, sie sind die Wegbegleiter/innen der jungen Menschen. Die pädagogische Ressource kann ja nicht primär die digitale Ausstattung sein, sondern Menschen. Im klassischen Management-Ansatz, der von den Zielen her denkt, sind Lehrer/innen nicht die primäre Ressource, bei denen man zu planen beginnt, sondern die Ausführenden, nachdem andere die Ziele geplant haben. Was, wenn man die Planung bei den Lehrerinnen und Lehrern begänne? Was wollen sie, was können sie leisten, beitragen, was schlagen sie vor, was für Zugänge zu Kindern haben sie, die man auch in der Krisen nutzen kann? Das geht nicht zentral und unabhängig von lokalen Gegebenheiten für ein ganzes Bundesland, so etwas kann nur mit einer hohen Autonomie der Einzelschule gelingen.
Was, wenn man die Planung bei den Lehrerinnen und Lehrern begänne?
2. Das Prinzip des leistbaren Verlusts
Im klassischen Management und auch im Bildungsmanagement ist die zentrale Frage die des erwarteten Ertrags. Effectuation geht davon aus, dass man diese in Situationen der Unvorhersehbarkeit nicht definieren kann. Stattdessen steht zu Beginn die Frage, welchen Verlust man sich leisten kann – und höher darf das Risiko nicht sein.4 Eine schwierige Frage im Bildungsbereich.
Fangen wir damit an, welchen Verlust wir in einem Jahr Lock-Down im Bildungsbereich erlitten haben. Wir wissen heute, dass v.a. Kinder aus bildungsfernen Schichten abgehängt wurden. Schüler/innen, die mit der langen Zeit des Home-Schoolings nicht zurecht kamen – sei es, dass die technische Ausstattung nicht vorhanden war, kein Familienmitglied helfen konnte oder die eigene Disziplin nicht reichte, um sich über lange Zeit hinweg auf den bislang völlig unbekannten und nie eingeübten Distanzunterricht einzulassen. Ein hoher Verlust in einem Land, das ohnehin mit der Problematik einer enormen Schere bei der Bildung im Hinblick auf die Herkunft der Schüler/innen zu kämpfen hat.5 Der Bildungsmonitor 2020 geht von deutlichen Einbußen aus, gerade für Kinder mit Migrationshintergrund.
Welchen Verlust aber hätten wir uns leisten können? Niemals junge Menschen, die dadurch auf Zukunft hin in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt werden. Und wenn ein lang anhaltender Lock-down diesen Verlust nach sich zieht, stellt sich tatsächlich die Frage der Leistbarkeit des Lock-downs, den andere Länder durchaus anders beantwortet haben.
3. Das Prinzip der Umstände und Zufälle
Ein klassisches Management Paradigma heißt „predict and control“, also aus Vergangenem Vorhersagen für die Zukunft treffen und die Vorgaben kontrollieren. Ein Herangehen, das dem Effectuation-Ansatz entspricht, wäre „sense and respond“, wahrnehmen, wie die Situation ist (lokal, regional) und angemessen darauf reagieren – auch lokal, regional. Sarasvathy vergleicht das Vorgehen mit dem Nähen eins Quilts. Man hat weder ein Schnittmuster noch vorgefertigte Teile noch vorab definierten Stoff. Der Quilt entsteht, indem man mit vorhandenen Stoffresten arbeitet. Und die Kunst besteht darin, etwas herzustellen, das am Ende funktional ist und, im besten Falle, auch noch schön.6
Bildung planen, ist wie, einen Quilt nähen.
Übertragen auf das Bildungssystem bedeutet das auch hier wieder: Auf die eigentliche Ressource, die Schulleiter/innen und Lehrer/innen vor Ort zu schauen, ihnen zuzutrauen, dass sie die Kompetenz für das Notwendige und den Blick für das Machbare haben und ihnen zuzugestehen, dass sie lokal und regional agieren können. Interessant ist, dass in einem Land mit einem zentralen Bildungssystem wie in Frankreich in der Krise offensichtlich mehr Autonomie bei den Einzelschulen lag als in einem Land wie Deutschland, das Bildung föderalistisch managt.
4. Das Prinzip der Partnerschaften
In Situationen der Ungewissheit kann man nicht vorab definieren, welche Kooperationspartner/innen man braucht. Also gilt es, aufmerksam zu schauen, welche Partnerschaften sich anbieten. Wir haben in Deutschland durchaus schon Erfahrung damit gemacht. Bei der Zuwanderung Geflüchteter im Jahre 2015 entstanden die unterschiedlichsten Bildungskooperationen, die nicht top-down beschlossen wurden, sondern lokal initiiert. Ich war damals Schulleiterin einer Schule, die eine Willkommensklasse mit 20 geflüchteten Schüler/innen zwischen 6 und 16 begründete, die noch keinen geklärten Aufnahmestatus hatten und deshalb nicht offiziell beschult werden durften. Wir hatten keine Lehrpläne, aber wir hatten Ressourcen – räumliche Ressourcen in Form eines Klassenzimmers und zeitliche in Form von Freistunden von Lehrer/innen. Und wir hatten Partnerschaften – unsere wichtigsten Kooperationspartner/innen waren ein Busunternehmen und bereits pensionierte Klosterschwestern in der Nachbarschaft der Erstaufnahmeeinrichtung.
Mit Busunternehmen und Klosterschwestern.
Wären derartige Partnerschaften auch jetzt denkbar gewesen? Hätte es Ressourcen wie beispielsweise pensionierte Lehrkräfte gegeben, die die telefonische Betreuung einzelner Schüler/innen übernehmen hätten können und wollen? Man spricht nach einem Jahr Lock-Down von „Lern-Buddys“ und Bildungslotsen, die helfen sollen, das Versäumte aufzuholen. Wären diese auch früher schon denkbar gewesen, wenn man nicht zentral, sondern mit lokaler Autonomie gearbeitet hätte?
The best way to predict the future is to create it.
Ein Zitat, das man Abraham Lincoln ebenso zuschreibt wie dem amerikanischen Informatiker Alan Kay. Von wem es auch sei: Es widerspricht der Entscheidungslogik, aus Vergangenem kausale Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, sondern ermutigt zum Blick auf die tatsächlichen Ressourcen, die konkreten Kooperationsmöglichkeiten, auf Zufälle und Umstände vor Ort. Die Corona-Krise war gewiss nicht die letzte Krise, mit der wir in Deutschland umgehen müssen. Vielleicht können wir aus dieser Krise für die nächste eine andere Denkweise lernen.
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Text und Bild: Barbara Staudigl, Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München
- Vgl. Eitel, Caroline/ Oertel, Friederike: Große Pause. Aufgrund von Corona bleiben weltweit viele Klassenzimmer leer. Welche Folgen hat das?. in: Die Zeit, Ausgabe 11 (2021) ↩
- Vgl. Agarwala, Anant: Von Frankreich lernen, in: Die Zeit, Ausgabe 7 (2021). ↩
- Vgl. Faschingbauer, Michael, Effectuation. Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln, Nördlingen 2017, 41ff. ↩
- Vgl. Faschingbauer, Michael, Effectuation. Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln, Nördlingen 2017, 63ff. ↩
- Vgl. OECD „Bildung auf einen Blick“, 2020, 185ff. ↩
- Vgl. Faschingbauer, Effectuation, 93. ↩