Katharina Trabert ist diesen Sommer entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze gewandert. Sie wollte herausfinden, was die Gesellschaft zusammenhält. Elisabeth Zschiedrich hat mit ihr gesprochen.
Katharina, 1270 Kilometer bist du längs durch Deutschland gewandert. Dabei ging es dir nicht so sehr um den Weg, sondern vor allem darum, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Wie ist dir das gelungen?
Schon bevor ich losgewandert bin, habe ich für die ganze Strecke Unterkünfte angefragt. Ich habe mein Projekt vorgestellt und gefragt, ob mich die Leute mit einer kostenfreien Übernachtung in ihrem Haus unterstützen. Einige waren ganz begeistert von dem Projekt oder haben erzählt, dass sich in ihrem Haus selbst deutsch-deutsche Geschichte manifestiert. Unterwegs waren die intensivsten Kontakte die in den Häusern, in denen ich untergekommen bin. Besonders toll war es in den Privatunterkünften. Es ist einfach schon erstaunlich, dass Menschen überhaupt das Vertrauen aufbringen, jemand Fremden in ihr Haus aufzunehmen, nach einem so kurzen Kennenlernen.
Du wolltest der Rede von einer Spaltung der Gesellschaft etwas Positives entgegensetzen. Daher hast du die Menschen gefragt, was sie miteinander verbindet. Wie haben sie auf deine Frage reagiert?
Ausnahmslos alle waren von der Frage berührt. Alle haben ganz ernsthaft angefangen, nachzudenken und nach Antworten zu suchen. Ich habe wirklich versucht, einen breiten Querschnitt durch die Gesellschaft zu finden. Und meine Frage war ja alles andere als eine Smalltalk-Frage. Ich hätte erwartet, dass Leute sagen: „Ey, was willst‘n du? Is mir doch egal“. Ich hätte auch erwartet, dass Leute es albern finden, dass ich ihnen nach dem Gespräch ein grünes Armbändchen gebe zur Erinnerung und als Zeichen der Verbundenheit. Aber selbst das: Alle haben es wie heilig entgegengenommen.
Die Menschen, mit denen du gesprochen hast, waren sehr unterschiedlich. Ein Schäfer war dabei, ein Juraprofessor, eine Ethnologin, aber auch viele ganz normale Leute, zwei ganzkörper-tätowierte Frauen, ein Mann, der an seinem Motorrad schraubte. Waren ihre Antworten genauso verschieden wie der Eindruck, den sie machten?
Die Antworten waren zum Teil sehr verschieden, aber es gab auch viele rote Fäden. Werte des Miteinanders, also Freundlichkeit, Offenheit, Wertschätzung, Respekt, kamen immer wieder und oft wie aus der Pistole geschossen. Zum Thema Demokratie wurde viel gesagt, und auch einige Dinge, die überraschend waren. Eine junge Frau, die sagte, ein Lächeln oder eine andere, die meinte, der Fortschritt hielte uns zusammen. Für mich war das Ausschlaggebende aber gar nicht, was die Leute gesagt haben, sondern wie wir uns begegnet sind. Und dass wir uns wirklich begegnet sind. Dass es immer gelungen ist, eine Verbindung herzustellen, mit allen sehr unterschiedlichen Leuten, auch mit denen, bei denen es mich wirklich Überwindung und Mut gekostet hat, auf sie zuzugehen. Egal wie unterschiedlich man ist und egal wie viel einen auf den ersten Blick trennt: Wenn man versucht, den anderen als Menschen zu begegnen, alle äußerlichen Merkmale außen vor zu lassen, dann sind wir uns so viel ähnlicher als wir oft denken. Das hat mich beglückt. Die Begegnungen, die am unwahrscheinlichsten waren, waren für mich die schönsten.
Spielten Glaube oder Religion als verbindendes Element eine Rolle?
Ich kann mich nicht erinnern, dass das Thema Glaube wirklich angesprochen wurde. Religionen mit ihren Erzählungen und Mythen wurden als verbindend benannt. Und die Kirche war ein Thema bei den Franziskanern und bei der evangelischen Pastorin, die ich getroffen habe. Da ging es aber viel um deren schwindende Relevanz und darum, was das mit der Gesellschaft macht. Weil das Bedürfnis nach Spiritualität bei den Menschen ja nicht weniger wird, eher im Gegenteil. Wenn die Kirche als zentraler Ort, der das bedient, immer weniger relevant wird, dann ist es ein Problem, wie das alternativ bedient werden kann. Hier und da war auch Thema, dass es schwierig ist für den Zusammenhalt, wenn immer mehr Orte der Begegnung wegfallen. Und die Kirche ist ja so ein möglicher Ort.
Dein Weg war früher Teil des „Eisernen Vorhangs“. Heute heißt er „Das grüne Band“. Passt der Name?
Ja, auf jeden Fall. Man kann das auch auf Luftaufnahmen sehen, da schlängelt sich der Weg wirklich wie ein grünes Band durch die Landschaft. Bis auf wenige Strecken ist er das größte bundesländerübergreifende Naturschutzgebiet Deutschlands. Es ist ein wundervolles Naturerlebnis, da entlang zu gehen.
Ist die ehemalige Grenze noch zu sehen?
Das ist sehr unterschiedlich. Man wandert viel auf dem Kolonnenweg, auf dem zu DDR-Zeiten patrouilliert wurde. Der Weg ist sehr anstrengend zu gehen, weil er aus Beton ist und sehr löchrig. Man muss so einen unnatürlichen Schritt finden, um nicht in die Löcher reinzutreten. Sehr markant ist der Grenzgraben. Und es gibt immer mal wieder Mahnmale oder alte Grenztürme, die noch in der Landschaft stehen. Die Natur holt sich ihr Revier allerdings schnell zurück. Eigentlich ist alles, was noch zu sehen ist, nur zu sehen, weil Leute entschieden haben, dass man es noch sehen soll.
Du bist durch neun Bundesländer gewandert, von Bad Elster in Sachsen bis Boltenhagen in Mecklenburg-Vorpommern. Ist der Zusammenhalt innerhalb Deutschlands unterschiedlich stark ausgeprägt?
Natürlich haben die Leute auch viel über Spaltung und Grenzen und das, was in der Gesellschaft nicht so gut ist, geredet. In etwa fünfzig Prozent der Fälle wurde die Frage nach dem Zusammenhalt erstmal beantwortet mit „Gibt’s das überhaupt noch? Das wird ja viel weniger“. Ein Thema, das immer wieder kam, war, dass auf dem Land der Zusammenhalt besser ist als in den Städten, weil es weniger anonym ist. Einen Unterschied zwischen Nord und Süd habe ich nicht zur Kenntnis genommen, aber das Unbehagen über das Schwinden des Zusammenhalts war bei den Ostdeutschen stärker, und zwar immer mit der Erklärung, dass man sich in der Mangelwirtschaft der DDR mehr ausgeholfen hat, weil man einfach auf Hilfe angewiesen war und weil man nichts hatte, nur sich als Menschen. Es wurde auch häufig gesagt, dass unser Wohlstand dem Zusammenhalt nicht guttut. Und Neid kam als Thema oft auf, das hat mich überrascht.
Du hattest immer wieder Begleitung, aber die meiste Zeit warst du allein unterwegs. Als Frau, über Felder und Wiesen, oft abseits von Orten. Eine Nacht hast du in einem Holzverschlag im Wald verbracht. Fandest du das mutig?
Nein, mich kostet das keinen Mut. Christine Thürmer, die meistgewanderte Frau der Welt, hat neulich gesagt, dass man bei der Frage gar nicht die unglaublich großen Vorteile bedenkt, die man als Frau allein hat. Das meine ich auch. Wenn ich einen Mann dabeigehabt hätte oder wenn ich ein Mann wäre, wäre ich bestimmt nicht in so viele Häuser aufgenommen worden. Die Leute bringen einem so viel mehr Vertrauen entgegen, wenn man als Frau allein unterwegs ist.
Kann man das, was du erfahren und erlebt hast, nur alleine und wandernd erfahren und erleben?
Man kann Menschen natürlich auf viele Arten und Weisen treffen, aber dadurch, dass ich wandernd und mit kaum irgendetwas unterwegs war und in vorwiegend einsamen Gegenden, war klar, dass ich auf Hilfe angewiesen bin. Das schafft schon eine andere Ausgangsposition dafür, wie die Leute mir begegnen. Dass ich nicht irgendwie voll ausgerüstet zu einem Termin antanze. Auch dass ich durchwandernd war und dass für die Leute klar war, ich bin nicht Teil von deren Leben, sie machen sich überhaupt nicht verletzlich. Es war wirklich erstaunlich, wie sehr sich die Leute geöffnet haben. Und es hat mich sehr betroffen gemacht, wie viele Leute schwere Schicksalsschläge erlitten hatten. Das Bewusstsein dafür, dass fast jede und jeder so etwas Schmerzvolles erlebt hat, das hat auch meinen Blick auf die Leute geändert. Auch das kann etwas Verbindendes sein.
Hast du umgekehrt auch unüberbrückbare Gräben erlebt?
Eigentlich nur so, dass ich das irgendwie erahnen konnte. Dass irgendjemand Haltungen hat, die gerade den spaltenden Klischees entsprechen könnten. Mein Erleben war aber, dass, wenn man trotzdem offen aufeinander zugeht, dass dann das, was einen trennen könnte, sich auch irgendwie auflöst. Wenn man auf die Ebene der einzelnen Menschen geht, weg von Parolen, dann haben die Überzeugungen auch keinen Halt mehr.
Seit kurzem bist du wieder in Göttingen, wo du an der Uni und als Geschäftsführerin des Alumni-Vereins arbeitest. Während der Wanderung hattest du deinen Arbeitsvertrag auf 10 Prozent reduziert. Hat das Erlebte deinen Alltag verändert?
Ich habe das Gefühl, dass ich Menschen anders begegne, dass ich sehr viel Vorurteile abgebaut habe und dass ich offener geworden bin. Erstaunlicherweise meine ich auch, die Leute gucken mich anders an. Vielleicht ist das auch nur Einbildung. Aber ich habe es unterwegs so oft erlebt, dass ich mir anhand des ersten Eindrucks ein Bild von Leuten gemacht habe, das im Gespräch komplett widerlegt wurde, so dass ich jetzt viel weniger die Neigung habe, die Leute schnell in Schubladen einzusortieren.
Du bist auch Künstlerin, malst und performst. Wirst du dein Thema künstlerisch weiterverarbeiten?
Auf jeden Fall werde ich das Thema weiter in die Welt tragen, auch wenn ich noch nicht weiß, in welcher Form. Eine Idee ist, ein Treffen zu organisieren mit allen Leuten, die ich unterwegs gesprochen habe. Ich wurde oft gefragt, was suchst du, was willst du? Und ich dachte: Nichts, ich mache einfach, ich will einfach den Leuten diese Frage stellen. Aber dann habe ich gemerkt: Was ich eigentlich will, ist, dass so viele Menschen wie möglich über diese Frage nachdenken und darüber reden, weil allein das was mit einem macht. Und das zu schaffen, das ist jetzt meine Mission.
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Die Fragen stellte Elisabeth Zschiedrich, Doktorassistentin am Lehrstuhl für Theologische Ethik der Universität Fribourg. Katharina Trabert ist ihre Brieffreundin aus Kindertagen und beeindruckt sie seit jeher damit, wie sie Ideen, die ihr wichtig sind, in die Tat umsetzt.
Weitere Informationen zu der Wanderung sowie das Wandertagebuch von Katharina Trabert mit Berichten über ihren Weg und die einzelnen Begegnungen finden sich unter www.katharinatrabert.de
Bild: Katharina Trabert