Leid und Leidenschaft, der Tod eines Unschuldigen, eine Kreuzigung um meinetwillen – Bachs Matthäus-Passion, vor bald 300 Jahren in Leipzig komponiert, ist „polyphon“ in vieler Hinsicht. Die heute weltweite Faszination für das dreistündige Werk gründet in der überzeugenden Einheit von musikalischer Qualität und komponierter Theologie. Von Meinrad Walter.
„Wenn ich die Matthäus-Passion, wenn ich große Musik höre, dann glaube ich zu wissen, dass das, was diese Musik sagt, nicht die Unwahrheit sein kann.“ So Theodor W. Adorno im November 1957, wenige Jahre nachdem er „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“ hatte, über dessen kirchenmusikalisches Hauptwerk. Offen bleibt, was die 1727 in der Leipziger Thomaskirche erstmals aufgeführte Musik denn näherhin „sagt“. Aber vielleicht finden sich im großen Konzert der Rezeption ja Stimmen, die das präzisieren.
Was Bach uns hören lässt – polyphone Erfahrungen
Die Überfülle an Kommentaren zu gerade diesem Werk – mehr als zu Mozarts „Zauberflöte“ oder zu Beethovens „Neunter“! – hängt damit zusammen, dass es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts „kaum einen Großen der Kunst- und Geistesgeschichte“ gibt, „der nicht ‚sein‘ Erlebnis mit der Matthäus-Passion gehabt hätte“, so der Musikwissenschaftler Martin Geck. Viele Reflexionen und Interpretationen, Berichte und Briefe, Betrachtungen und Bonmots stammen von Autor*innen, die man durchaus erwartet. So kann sich etwa Albert Schweitzer Jesu Einsetzungsworte beim letzten Abendmahl „in keinem andern Rhythmus mehr vorstellen“ als in jener Deklamation, die Bach für den Bass als Vox Christi der Matthäus-Passion komponiert hat.
Andere Hörer*innen, die man kaum als Bach-Fans vermutet hätte, eröffnen überraschende Perspektiven. „Die ganze Politikgeschichte wird, wenn Sie so wollen, in den Passionen mit verhandelt“, meint Wolfgang Schäuble in einem Interview. Er begründet das mit der Art und Weise, wie Bachs Musik den Menschen zeigt: „nicht großartig und heldenhaft, sondern sündig und begrenzt“. Die Theologin Dorothee Sölle wiederum betont die Möglichkeit der persönlichen Aneignung. Bachs Werk bleibt nicht ein Schauspiel, sondern wird zum Spiegel: „Im Hören werde ich ein Teil der Geschichte.“ Fehlt diese Resonanz, dann bleibt Bachs Musik sogar „unvollendet“ und „ungenießbar, weil wir ihre Frucht nicht aneignen können, ehe wir nicht den Weg mit unseren Stationen gegangen sind“.
Wer könnte nicht einstimmen in das Mitleiden angesichts eines unschuldig Verurteilten und Gekreuzigten? Und bei wem stößt es nicht auf Resonanz, wenn auf den Bericht, dass Jesus „verschied“, die eindringliche Bitte mit Paul Gerhardts Liedstrophe folgt: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir“? Dass jede und jeder dies anders füllen kann, hängt wohl mit der „theologischen Großzügigkeit“ (Hans Blumenberg) der Matthäus-Passion zusammen. Blumenberg hört und deutet in seinem Essay „Matthäuspassion“ Bachs Musik als „Erbin des Ritus“. Selbst unter säkularisierten Vorzeichen ermöglicht sie ein „Begehen“ der Passion, das anderem Reden über Jesu Leidensgeschichte überlegen ist. Als Kontrast nennt er, ebenso kritisch wie unsensibel gegenüber heutiger Verkündigung, „jeden Superintendenten mit seinem Passionsvorrat für den Rundfunk“.
Bachs musikalische Kreuzestheologie
Die ästhetische Rezeption der Matthäus-Passion lässt sich vertiefen, musikalisch wie theologisch. Wer den Choral in G-Dur „O Lamm Gottes unschuldig“, der in den portalartigen e-Moll-Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ eingeflochten ist, nicht nur hört, sondern in Bachs handschriftlicher Partitur sieht, kann ins Staunen geraten: über Bachs Schönschrift und über die rote Tinte, die er eigens für diese Liedstrophe und für den biblischen Wortlaut des Evangelisten verwendet hat.
Und die Theologie? Der Librettist Picander und der Komponist Bach bieten ihren Hörerinnen und Hörern in Arien und Choralstrophen beständig Antworten auf das Berichtete an. Diese poetisch-musikalische Theologia crucis kennt viele Aspekte: Verrat und Schuld, „Buß und Reu“, Hingabe und Mitleiden. „Das gehet meiner Seele nah“ singt die Altstimme, wobei ihr letztes Klagen über das „unselige Golgatha“ harmonisch ohne Auflösung bleibt.
Jesu Gottverlassenheit in Bachs komponierter Zweinaturenlehre
Der von Mozart begeisterte Karl Barth hat in Bachs Passionsmusik Ostern vermisst. Letztlich zu Unrecht, wie er später eingesehen hat. Allerdings trübt der Schrei des Gekreuzigten „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ in der Matthäus-Passion die Hoffnung auf Auferstehung. Jesu letztes Wort „Eli, eli, lama asabthani?“ erklingt in es-Moll und b-Moll. Das sind für barocke Ohren – und Tasteninstrumente! – geradezu unwegsame tonartliche Landschaften. Melodisch folgt auf eine zwei Mal abwärts gerichtete Geste Jesu letzter Versuch des Aufblickens zu seinem – schweigenden – Gott. Will Bach das letzte Gebet des Gottessohnes ähnlich deuten wie manche Theologen, nämlich als „stummen Schrei“ (Karl Rahner)?
Wie aber kann der Sohn Gottes – als „wahrer Gott und wahrer Mensch“ – von Gott verlassen sein? Wenn Jesu Schrei am Kreuz die dogmatische Zweinaturenlehre außer Kraft setzt, brächte das die gesamte christliche Theologie zum Einsturz. Bach löst das theologische Problem musikalisch. Nur hier verstummt die Streicher-Gloriole, die alle früheren Worte Jesu wie ein akustischer „Heiligenschein“ umhüllt hat. Inspirierend dafür war wohl ein Gedanke aus einem Andachtsbuch des Rostocker Superintendenten Heinrich Müller (1631–1675).
Auf dessen Predigten „Vom Leiden Christi“ geht das Libretto der Matthäus-Passion in etlichen Teilen ja zurück. In der achten Predigt beschreibt Müller Jesu Schrei als „die Ruhung der göttlichen Natur in der Menschheit“ des Gottessohnes und führt dies predigthaft im Rückgriff auf den Philipper-Hymnus aus. Wohl niemand hätte diesen Gedanken von der Ruhung der Gottheit im Gottessohn kongenialer in eine musikalische Predigt „übersetzen“ können, als Bach hier mit der „ruhenden“ Streichergloriole getan hat.
Wie ist die „Körpertemperatur“ bei der Matthäus-Passion?
Bach komponiert Jesu Passion in zwei „Tonarten“. Das Bibelwort erklingt in Chören der Jünger und Gegner Jesu sowie in den Rezitativen des Evangelisten und der biblischen Akteure. Bertolt Brecht etwa bewundert insbesondere, „wie großartig Bach Berichte komponieren kann“. Fast humorvoll fügt er an, dass der Thomaskantor „selbst in den passioniertesten Werken“ die normale „Körpertemperatur“ von „ungefähr 37 Grad“ einhält. Brechts Weggefährte Hanns Eisler allerdings widerspricht ihm in einem Interview mit dem Hinweis, dass er Brecht den Eingangschor der Matthäus-Passion „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“ am Klavier vorgespielt hat: „Ich will meinen toten Freund nicht verdächtigen, aber ich glaube, hier war seine Temperatur bedenklich höher, …“
Was die ersten Hörer*innen damals in der Leipziger Karfreitagsvesper der Thomaskirche fühlten oder dachten, bleibt unbekannt. Verwunderung oder gar Verstörung scheint nicht ausgeschlossen, denn Bach vergegenwärtigt die biblische Botschaft dramatisch und innovativ. Heute finden auch diejenigen, die Bachs überragende Kunst suchen, in dieser Passionsmusik zugleich denjenigen, der als Leidender und Gekreuzigter im Zentrum steht.
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Meinrad Walter, Dr. theol., Musikwissenschaftler, ist stellv. Leiter des Amtes für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg und Honorarprofessor an der Musikhochschule Freiburg.
Buchhinweis: Reiner Marquard und Meinrad Walter: Johann Sebastian Bach. Matthäus-Passion. Reihe „Wort//Werk//Wirkung“. Carus-Verlag und Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2020. 184 S. mit CD-Einspielung (Kammerchor Stuttgart und Barockorchester Stuttgart, Leitung: Frieder Bernius).
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