Was gibt es Neues aus der Dogmatik? Erwin Dirscherl und Markus Weißer berichten von der Tagung: „Wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils? Aktuelle Anfragen an die traditionelle Sakramententheologie“.
Vom 9.3.–11.3.2021 fand am Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte der Universität Regensburg online eine internationale und interdisziplinäre, von der DFG geförderte Tagung zur Theologie der Sakramente statt, an der 20 Expertinnen und Experten aus der Systematischen Theologie, der Exegese, der Liturgiewissenschaft, dem Kirchenrecht und der Pastoraltheologie teilnahmen.[1]
Da auch Bischof Dr. F.-J. Bode als Vorsitzender der Pastoralkommission und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz gewonnen werden konnte, ergab sich außerdem ein intensiver Dialog zwischen wissenschaftlicher Theologie und kirchlichem Lehramt. Die Tagung markierte in differenzierter und konstruktiver Weise sakramententheologische Fragehorizonte und Forschungsdesiderate, die sich im aktuellen Kontext auch der Missbrauchskrise der Kirche sowie den Reformdebatten des Synodalen Wegs stellen. Folgende zentrale Punkte bzw. Fragen können dabei festgehalten werden:
Heilsame Funktion – ein leitendes Kriterium?
1) Die vielfältige sakramentale Praxis und Lehre der Kirche verlangt nach einer theozentrisch und damit soteriologisch fokussierten Reflexion. Sie fragt nach der erlösenden Bedeutung der Gegenwart Gottes für die Menschen in ihrer jeweiligen Zeit, um eine dynamische sakramentale Begleitung ihres Lebens auch unter veränderten Umständen je neu zu ermöglichen. Aus theologischer Sicht geht es primär nicht um die (juristische) Frage nach der „Gültigkeit“ oder „Rechtmäßigkeit“ von Sakramenten, die kirchenpolitisch derzeit sehr viele Debatten dominiert. Es geht um die Wirksamkeit der Sakramente, um ihre soteriologische Auswirkung und heilsame Funktion für das Leben der Menschen. Wie kann die performative und operative Dimension der Sakramente so verstanden und entfaltet werden, dass diese als wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils existenzielle, lebensdienliche Veränderungen ermöglichen? In diesem Sinne wird man die kritische Frage stellen müssen, ob die soteriologische Funktionalität aktuell tatsächlich das leitende Kriterium der kirchlichen Ausgestaltung von Sakramenten ist.
2) Christliche Identität ergibt sich nicht durch diskriminierende Aus- und Abgrenzung, sondern durch den Mitvollzug der universalen Heilszusage Gottes, seines menschgewordenen Wortes, das sich an alle Menschen richtet. Alle Sakramente, die in Jesus Christus gründen, sind auf die objektive Entgrenzung des Heils bezogen, sodass sich jede Form von Ausgrenzung oder auch kirchenrechtlicher Reglementierung vor der unbegrenzten Barmherzigkeit des Gekreuzigten und Auferstandenen rechtfertigen muss, die ein kritischer Maßstab für alles kirchliche Handeln bleibt. Der universale Heilswille Gottes und seine heilvolle Zuwendung zu allen Menschen gehen jeder sakramentalen Feier voraus und sind nicht exklusiv auf diese beschränkt. Die Kirche stellt das Heil nicht her, sie will vielmehr einen spürbaren Zugang dazu vermitteln. Da Gottes Gnade dem menschlichen Handeln und damit auch der Kirche vorausgeht, darf diese sich nicht als „Zollstation“ oder „Kontrolleurin der Gnade“ (Papst Franziskus) verstehen. Die Sakramente dienen der wirksamen Wahrnehmung der unverfügbaren Nähe Gottes, die jedem menschlichen Leben von Anfang an geschenkt ist und hier bewusst gefeiert wird. Wie können Bedingungen für den Empfang der Sakramente formuliert werden, wenn diese doch die unbedingte Liebe und universale Barmherzigkeit Gottes erschließen sollen?
Unterschiedliche Formen, nie ohne Differenz
3) Im Unterschied zu den Ostkirchen vernachlässigt die westliche Tradition bis heute, auch in der Theologie der Sakramente, die Pneumatologie. Das Wirken des Heiligen Geistes ist nicht auf die Kirche und ihre Sakramente beschränkt. Es steht für eine Dynamik, die allzu statisch gedachte Denkmodelle aufbricht und gegebenenfalls korrigiert. Eine epikletische Dimension innerhalb der Liturgie kann dafür sensibilisieren, dass die Kirche je neu um den Geist Gottes bittet und niemals exklusiv über ihn verfügt. Die Kirche selbst ist (wie alle Sakramente) relativ. Sie verweist über sich hinaus auf eine je größere Wirklichkeit, die sie nicht selbst ist, sondern nur dankbar vergegenwärtigen kann, als effizientes Medium. Wie kann sich die Sakramententheologie dieser Unverfügbarkeit und Grenzenlosigkeit des Geistwirkens stellen und auf kreative (dem creator spiritus entsprechende) Weise die fließenden Übergänge zu neuer Frömmigkeitspraxis und anderen Lebensentwürfen würdigen? Kann sie die leibhaftige Erfahrbarkeit der Nähe Gottes durch Christus positiv artikulieren, ohne andere Erfahrungen abzuwerten? Kann sie, wie in der Vergangenheit, auch heute kulturell bedingte Veränderungen im sakramentalen Leben zulassen oder komplementär als Bereicherung wahrnehmen? Kann sie den inneren Zusammenhang von Sakramenten und Sakramentalien bzw. Segensfeiern verdeutlichen, wenn hinter diesen einzelnen Feiergestalten ein und dieselbe sakramentale Wirklichkeit, nämlich das Mysterium gott-menschlicher Verbundenheit steht, das in unterschiedlichen Formen vielfältig zum Ausdruck kommen kann?
4) Eine stärkere Berücksichtigung der Pneumatologie in der Sakramentenlehre kann außerdem helfen, die oft schmerzlich erfahrene Beziehung von Präsenz und Absenz, Nähe und Differenz zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Christus und der Kirche klarer zur Sprache zu bringen. Der Gehalt und die Gestalt der Sakramente (die sich geschichtlicher Entwicklung verdanken und sich darum nach wie vor entwickeln können) gehören zusammen, sind aber zu unterscheiden. Denn Sakramentalität darf als dynamisches Beziehungsgeschehen nicht mit Sakralität im Sinne statischer Vergötzung verwechselt werden. Sakramente stehen nicht für eine unterschiedslose Identität von Zeichen und Bezeichnetem, sondern für eine Beziehung, für die realsymbolische Verbundenheit (den Bund) zwischen Gott und den Menschen. Sakramentalität kann daher auch niemals ohne Differenz gedacht werden. Wie schon in der Gott-Mensch-Beziehung Jesu Christi – dem Ur-Sakrament – handelt es sich auch hier analog um eine Verbundenheit in bleibender Unterschiedenheit. Bereits die Christologie verbietet jede undifferenzierte Gleichsetzung von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit. Dies gilt ebenso für die Kirche und ihre Sakramente. Wird diese dynamische Differenz, die zwischen Christus, der Kirche und den Amtsträgern festzuhalten ist, ignoriert, so kommt es zu einer Überidentifikation, die in Aporien und auch in den von Papst Franziskus kritisierten Klerikalismus hineinführt.
Vulneranz kirchlichen Handelns
5) Das Verständnis der Kirche als Institution ist unter diesen Vorzeichen neu zu reflektieren. Die Bestimmungen der Kirche als Rechtsgefüge einerseits und als gemeinschaftliches Zeichen und Instrument des universalen Heilswillens Gottes andererseits stehen somit in einer gewissen Spannung zueinander, die im Zweifelsfall soteriologisch und pastoral, nicht aber juristisch aufzulösen ist. In der Missbrauchskrise hat sich gezeigt, dass allzu oft nicht die Opfer, die Überlebenden, sondern die Täter geschützt wurden, um eine Institution zu verteidigen. Damit hängt eine problematische – verabsolutierte – Hypostasierung von Kirche zusammen. Wie aber ist der Institutionsbegriff so zu fassen, dass er nicht mehr gegen das Schicksal von Menschen ausgespielt werden kann, sondern sich gerade der potentiellen Vulneranz kirchlichen Handelns bewusst ist, die mit der sakramentalen Sendung kollidiert? Lässt sich Traditions- und Institutionskritik so mit dem sakramentalen Leben der Kirche verbinden, wie es im Sakrament der Versöhnung ja ursprünglich angelegt ist? Wie wäre dann passend zur Reue, Buße und Umkehr an Haupt und Gliedern die entsprechende Rollen- und Gewaltenteilung innerhalb der Institution Kirche zu gestalten?
6) Ein weiteres Problem ist, dass die klassische Rede vom ex opere operato (der Wirksamkeit des Sakraments kraft seines Vollzugs) in die Krise geraten ist. Wer kann angesichts der Glaubwürdigkeits- und Missbrauchskrise der Kirche verstehen, dass durch sakramentale Vollzüge objektiv Heiligkeit vermittelt wird, unabhängig von der Würdigkeit der menschlichen Mittler? Auch wenn durch die Wendung ex opere operato betont wird, dass Gott selbst in den sakramentalen Vollzügen an uns handelt, dass seine Zusage unabhängig von der Perfomance seiner Diener gilt, so bleibt das Problem, dass dies in objektivierter Rede zur Sprache gebracht wird, die heute oft eher befremdet, als einen personalen Zugang zu Gott zu eröffnen. Hier steht auch die Rede von der Heiligkeit und Sündigkeit der Kirche zur Debatte, die schon im Umfeld der Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. heftig diskutiert wurde. Die Maxime des ex opere operato galt ursprünglich auch dem Schutz einer Gemeinde, wenn diese nicht wissen konnte, ob ein Priester, der Eucharistie feiert, ein authentischer Zelebrant ist. Aus diesem, so könnte man sagen, Gemeindeschutz oder Opferschutz wird heute aber möglicherweise ein Täterschutz. Wird argumentiert, dass ein Priester aufgrund des character indelebilis, einer unauslöschlichen Prägung, auf ewig Priester bleibt, auch wenn er sich des Missbrauchs schuldig gemacht hat, dann kann er zwar formal noch „gültig“ die Sakramente feiern – doch stellt sich die kritische Frage, ob er die Präsenz Gottes in den Augen der Gläubigen nicht eher verstellt oder für die subjektive Teilhabe an der sakramentalen Feier ein schweres Hindernis (obex) darstellt.
Wandelbar und pluriform
7) Ein Blick auf die Geschichte der einzelnen Sakramente zeigt, dass die liturgische Feiergestalt bis zu einem gewissen Grad wandelbar und pluriform ist. Die Grenzen zwischen Sakramenten und Sakramentalien werden fließend. Beides könnte als „sakramentliches“ Handeln verstanden werden, das dazu dient, die Menschen in Freude und Hoffnung, Trauer und Angst zu begleiten. Entscheidend ist der kontinuierlich damit verbundene Gehalt, der nicht an ein starres Korsett invariabler Ausgestaltung gebunden, sondern stets auch kulturell bedingt ist. Als zunehmend problematisch gilt jedoch die Rede von „Spendern“ der Sakramente, die der gemeinsamen Feier innerhalb einer Gemeinde wohl kaum gerecht wird. Der Dienst an der Vermittlung der zuvor beschriebenen Beziehung von Gott und Mensch wie auch der Menschen untereinander zielt auf keine einseitige Spendung, sondern auf die gemeinsame Feier, die von aktiver Teilhabe lebt. Die in den Sakramenten leibhaftig realisierte Präsenz Gottes wirft daher im digitalen Zeitalter die Frage auf, ob und wie der innige Zusammenhang von Mysterium und Medium heute zu gestalten ist. Die mediale Entgrenzung und Bindung an die leibhaftig feiernde Gemeinde führen – nicht erst seit der Pandemie – zu völlig neuen Fragen.
Diese zentralen Fragen und Probleme sollen auch nach der Publikation des Tagungsbandes, der in der Reihe Quaestiones disputatae erscheinen wird, durch weitere Formate aufgearbeitet und theologisch erforscht werden.
_______________
Prof. Dr. Erwin Dirscherl und Dr. Markus Weißer
[1] https://www.uni-regensburg.de/assets/theologie/dogmatik-dogmengeschichte/Tagungsprogramm_Sakramente.pdf.
Bildquelle: Pixabay