Anselm Grün und die DDR haben eine Gemeinsamkeit: Beide verkaufen Engel als »beflügelte Jahresendfiguren«. Den Verantwortlichen der DDR störte die religiöse Dimension des beliebten Weihnachtsschmucks. Anselm Grün versucht die religiöse Dimension einer Engelaffinität zu wecken. Dabei greift er auf einen Gedanken von Guardini zurück. Gerrit Spallek beendet seine Engelreihe.
Zumindest in einer Hinsicht halten Engel, was sie versprechen. Sie sind nicht tot zu kriegen. Auch wenn sie in der hochreligiösen Frömmigkeit oder akademischen Theologie keine Rolle mehr spielen; wenn sie eine Zeit lang untertauchen, flügge werden, ihre Gestalt verändern oder eine Umetikettierung über sich ergehen lassen müssen: Allerspätestens zur Weihnachtszeit sind sie wieder da. Sie bevölkern die Kaufhäuser und Weihnachtsmärkte, sind ein beliebtes Motiv für Christbaumschmuck, Textildruck oder Ausstechförmchen für Plätzchen.
Offizielle Sprachregelung in der DDR: »beflügelte Jahresendfiguren«.
Kurioses Beispiel ist eine offizielle Sprachregelung in der DDR (vgl. B. Wolf, Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch). Auch in Ostdeutschland ließen sich Engel zur Weihnachtszeit gut verkaufen und exportieren. Als religiös konnotierte Gestalten widersprachen sie jedoch dem sozialistisch ideologischen Weltbild. Entsprechend wurden sie als »beflügelte Jahresendfiguren« gefertigt und vertrieben. Der Volksmund konterte satirisch mit der Wortschöpfung des »Jahresendmanns«.
Der bekannteste Theologe, der sich populärwissenschaftlich mit Engeln beschäftigt, ist Anselm Grün. Er bezeichnet sie zwar nicht direkt als solche. Aber auch Grün verkauft seinen Leserinnen und Lesern Engel als »Jahresendfiguren«. Seine um Engel kreisenden tugendethischen Reflexionen im Ratgeberformat (50 Engel für das Jahr. Ein Inspirationsbuch) sind ein Bestseller. In dem Buch bettet Anselm Grün seine Rede von Engeln einführend in einen narrativen Kontext zum Jahresende ein: „Eine junge Frau ist bei einer Silvesterparty…“.
Engel als Chiffre für Tugenden – gezogen aus einem Beutel auf einer Silvesterparty.
Engel dienen dem Benediktiner als Chiffre für Tugenden, die sich positiv auf die Lebensführung auswirken. Sie geben Halt, unterstützen bei der Orientierung und helfen ganzheitlich dabei, dass das Leben gelingen kann. Tugenden müssen eingeübt werden. Das geht nicht nebenbei, sondern verlangt, dass man sich ihrer zunächst einmal bewusst macht und sich das Ziel der Einübung überhaupt steckt – bzw. zugesteckt bekommt, wie es Anselm Grün für jene Silvesternacht als Praxisbeispiel empfiehlt.
Im einleitenden Narrativ der Sylvesterparty zieht jede anwesende Person zufällig einen Engel aus einem Beutel. Die Engel im Beutel stehen jeweils für eine personifizierte Tugend (Engel der Liebe, Versöhnung, Dankbarkeit, Freiheit, Demut, Ausdauer….). Zum Jahresende soll das entsprechende Los einen Anlass bieten, sich der Einübung der gezogenen Tugend im kommenden Jahr in besonderer Weise zu widmen. Einmal eingeübt können diese Tugenden dann zu ständigen Begleiterinnen werden, „die unserem Leben guttun“. Sie können mitwirken, dass das eigene Leben gemeistert werden kann.
Ein niedrigschwelliges Angebot von Tugenden, deren Einübung zumindest für eine gewisse Zeit erprobt werden kann.
Indem er empfehlenswerte Tugenden durch Engel personifiziert, bricht Anselm Grün sie aus der Sphäre abstrakter Ethikreflexionen herunter und bietet niedrigschwellig ein breites Repertoire an Tugenden an, deren Einübung zumindest für eine gewisse Zeit erprobt werden kann.
Anselm Grün stellt seine Engelimpulse auf der Oberfläche als harmlose Inspirationen dar. Der offene Anspruch auf Verbindlichkeit erinnert an Bräuche wie das beliebte Bleigießen zu Sylvester. Der Erzählzusammenhang legt nahe, dass seine Ausführungen durchaus ernst genommen werden können. Das muss allerdings nicht unbedingt von allen Leserinnen und Lesern geteilt werden. Damit folgt der Benediktiner einer Strategie, die in Hinblick auf Engelratgeber durchaus geläufig ist. Für die einen mögen seine Ausführungen über Engel vielleicht nicht über gut gemeinte Kalendersprüche hinausgehen. Eine andere können sie vielleicht aber an einer Wurzel ihrer Sehnsucht treffen und damit eine Wendung zum Guten bzw. Besseren einleiten.
Anselm Grün schreibt aus einer spirituellen Tiefenentspannung heraus.
Zwei Dinge halte ich an dem Entwurf von Anselm Grün für positiv bedenkenswert. Zum einen imponiert seine spirituelle Tiefenentspannung, aus der er heraus agiert. Zum anderen steht unbemerkt im Hintergrund ein angelologischer Gedankengang von Romano Guardini, der es zum Jahresende Wert ist, aus der theologiegeschichtlichen Schatzkiste hervorgekramt zu werden.
Anselm Grün scheint jeder Missionseifer fremd, der auf institutionalisierte Zählbarkeit und Verkirchlichung abzielt. Grün formuliert seine Engelinspirationen aus der Überzeugung heraus, dass Gott den Menschen schon entsprechend entgegenkommen wird, wenn sich diese – ob mithilfe des Engelmotivs oder auch ohne – auf den Weg über sich hinaus machen.
… Gott wird den Menschen schon entsprechend entgegenkommen.
Aus seiner eigenen Glaubensgewissheit heraus, dass sich in Wirklichkeit Gott hinter der Chiffre der Engel und ihres wahrgenommenen Wirkens verbirgt, wagt er entsprechend die Aussage, dass es letzten Endes nicht so wichtig sei, „ob es nun Gott selbst war, der uns geschützt hat, oder ein Engel, den er zu unserem Schutz gesandt hat. Bilder haben eine eigene Mächtigkeit. Daher dürften wir getrost die Sprache der Bilder benutzen, um Gottes helfendes Tun zu beschrieben.“
Engel der Menschen
Pate und und Impulsgeber des Inspirationsbüchleins von Anselm Grün scheint Romano Guardini zu sein. Mitte der 1950er Jahren hat Guardini praktisch die Vorlage geliefert, menschenzugewandte Engel von äußeren Unglückshelfern ins Innere des Menschen zu verlagern (vgl. Romano Guardini, Engel. Theologische Betrachtungen, Kevelaer 2008). Guardini und Grün sehen in Engeln beide jeweils Begleiter, die daran erinnern, was „im Getriebe des Alltags“ droht vergessen oder vernachlässigt zu werden und dabei helfen, uns in einer Weise zu formen, wie es unserem „»ursprünglichen Bild« entspricht: wie wir sein könnten und sollten.“ (A. Grün).
Guardini: Keine Schutzengel, sondern »Engel der Menschen«.
Bezeichnenderweise spricht Romano Guardini in seinen Reflexionen nicht von Schutzengeln, sondern von »Engeln der Menschen«. Denn diese Engel würden nicht übernatürlich vor äußeren Gefahren schützen, sondern freundschaftlich an die Freiheit des Menschen appellieren, wenn der Mensch von innen her bedroht ist. Diese „Engel der Menschen“ intervenieren einladend und warnend dann, wenn ein Mensch gefährdet ist, sich selbst im Weg zu sein, das eigene Menschsein zu verwirklichen, d.h. er selbst zu werden.
In der steten Gefahr, ihre Freiheit an fremde Mächte abzugeben und die von Gott ihnen anvertraute Verantwortung und Würde zu vergessen, versteht Guardini die Menschen von Wesen umgeben, welche die Menschen unterstützen, ihrer Wirklichkeit als Bild Gottes gerecht werden zu können. Auf diese Weise helfen diese Engel mit, dass Gottes Wille geschehe – wie im Himmel so auf Erden.
Engel kennen das Urbild, nach dem wir als Ebenbilder geschaffen sind aus erster Hand.
Ein Engel ist dazu in der Lage, weil er uns Menschen gegenüber einen entscheidenden Vorteil hat: Im Gegensatz zu uns Menschen haben die Engel Gottes Angesicht geschaut. Sie kennen folglich das Urbild, nach dem wir als Ebenbilder geschaffen sind. Daher weiß ein Engel, auch „besser um uns, als wir selbst. Er weiß um unser Gott-Ebenbild.“
Aus erster Hand weiß ein solcher Engel daher, was in unserer jeweiligen Möglichkeit liegt, wozu Gott uns geschaffen hat und was Gott von uns erwarten kann. Er weiß aber auch davon, was uns jeweils im Weg steht oder stehen kann, zu werden, was wir sind: Bild Gottes.
Zum Abschied einer Engelreihe
Im Zuge teilnehmender Beobachtung war ich längere Zeit auf einem Friedhof unterwegs. Zahlreiche beflügelte Miniaturfiguren auf Gräbern haben mich dazu gebracht, womit ich selber nicht gerechnet hatte: Ich habe mich über zwei Jahre intensiv mit Engeln beschäftigt. Entstanden ist daraus eine kleine Engelreihe bei feinschwarz.net. Sie geht mit diesem Beitrag nun zu ende.
Es geht um Menschwerdung – mit allem was dazu gehört.
Der kurze Gedankengang von Romano Guardini über die »Engel der Menschen« gehört zu den Entdeckungen, bei denen ich am meisten Potential und Anschlussfähigkeit für theologische Reflexionen sehe. Passend zum Jahresende können die Reflexionen von Guardini zugleich die vielen unterschiedlichen Engel, die uns (in den Kaufhäusern und Keksdosen, auf den Weihnachtsmärkten, aber womöglich auch auf den Friedhöfen) begegnen, in ein wahrlich adventliches Licht setzen. Im Zentrum steht dann keine spekulative Himmelslehre. Es geht um Menschwerdung – mit allem was dazu gehört.
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Gerrit Spallek ist Theologe in Hamburg und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Bild: Luke Stackpoole / unsplash.com
In der Engelreihe des Autors bei feinschwarz.net erschienen:
Gott weiß, ich will kein Engel sein! Er selber ja auch nicht…
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