Theologie hat das Potenzial, von vermeintlich unausweichlichen und daher totalisierenden Sachzwängen zu befreien. Die diesjährige Verleihung des Erwin-Kräutler-Preises gilt der Förderung der theologischen Kritik an diesen Sachzwängen, wie Franz Gmainer-Pranzl hervorhebt.
Mit Blick auf die Abholzung des Regenwaldes, das brutale Vorgehen gegen die seit Jahrtausenden in Amazonien lebenden Menschen und eine aggressive Ausbeutung aller Ressourcen betonte Dom Erwin Kräutler, von 1980–2015 Bischof von Xingu in Nordostbrasilien, schon vor Jahrzehnten: „Mir ist das längst völlig egal, ob man mich naiv nennt oder sonst irgendwie. Ich weiß durch meine Arbeit, meinen Umgang mit den Menschen hier […], dass wir den Weg des linearen Wachstums, der brutalen Ausbeutung von Natur und Mensch nicht mehr lange werden fortsetzen können […]. Wenn man das konkret vor Augen hat, wenn Menschen am Boden liegen, ganze Völker zum Tode verurteilt sieht, dann kann ich mir das Gequatsche von wirtschaftliche, politischen und strategischen Sachzwängen nicht mehr anhören. Als Christ kann ich das nicht“1
„… dann kann ich mir das Gequatsche von wirtschaftlichen, politischen und strategischen Sachzwängen nicht mehr anhören“ (Erwin Kräutler)
Diesen Gedanken griff Landesrätin Martina Berthold in ihrem Grußwort auf, um gegen die angeblichen „Notwendigkeiten“ der politischen und ökonomischen Ordnung befreiende Alternativen in Erinnerung zu rufen.
Die wissenschaftlichen Arbeiten, die am Abend des 3. Oktober 2017 an der Universität Salzburg mit dem „Erwin-Kräutler-Preis für kontextuelle Theologie und interreligiösen Dialog“ ausgezeichnet wurden, spiegeln die Kritik an den angeblichen „Sachzwängen“ der herrschenden globalen Logik wider.
Sebastian Pittl setzte sich in seiner im Jahr 2015 an der Universität Wien eingereichten Dissertation „Geschichte und Kreuz. Eine systematische Rekonstruktion des Ortes der Theologie im Denken Ignacio Ellacurías“ mit einem Denker auseinander, der als Analytiker des „gekreuzigten Volkes“ selbst zum Märtyrer wurde: im grundsätzlichen Sinn als Zeuge der transformierenden Kraft des Reiches Gottes, und im konkreten Sinn als Opfer eines Attentats rechtsgerichteter Todesschwadronen (16.11.1989).
Stefan Silber zeigt in seiner ebenfalls im Jahr 2015 an der Universität Osnabrück eingereichten Habilitationsarbeit „Pluralität, Fragmente, Zeichen der Zeit. Aktuelle fundamentaltheologische Herausforderungen aus der Perspektive der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung“ jüngere Entwicklungen der Befreiungstheologie, neue Themenstellungen und bedrängende Fragen auf wie etwa die Lebensbedingungen in lateinamerikanischen Megastädten.
Widerständige Theologie: vom Fragmentarischen ausgehen
Die Laudatorin, die evangelische Pfarrerin und Theologin Maria Katharina Moser (Wien), griff den Aspekt des Fragmentarischen in ihrer Rede auf und zeigte auf eindrückliche Weise, wie am Bruchstückhaften und Unvollendeten jene Fülle sichtbar wird, die Christinnen und Christen mit der biblischen Tradition als „Reich Gottes“ bezeichnen. Fragmentierung, so Moser im Anschluss an die Arbeit von Stefan Silber, sperrt sich „gegen universalistische und essentialistische Begriffe sowie gegen totalisierende theoretische Entwürfe“; sie schafft „Raum für die Beschreibung von brüchigen Identitäten, die dynamisch bleibt und auf den (gewaltförmigen) Akt der Kategorisierung zu verzichten sucht“.
Widerständige Theologie: vom anderen ausgehen
Bei Sebastian Pittl findet die Laudatorin eine zentrale Überlegung: „Theologie und Philosophie Ellacurías finden ihre tiefere Einsicht […] weniger ‚in‘ sich, als ‚außerhalb‘ ihrer selbst. Sie gewinnen ihre spezifische Identität gerade dort, wo es ihnen nicht mehr um sich selbst, sondern um etwas anderes geht.“ In dieser Einsicht liegt ein Charakteristikum befreiungstheologischer Reflexion: es geht ihr weniger um sich selbst als um „etwas anderes“. Moser unterstrich: „Jeder Theologie sollte es weniger um sich selbst gehen, sondern um etwas anderes. Und jede Theologie muss geradezu notwendig vorläufig und fragmentarisch bleiben, will sie nicht ideologisch werden. Das lehrt uns die Befreiungstheologie, deshalb ist sie von bleibender Relevanz.“
Nicht zuletzt bewegte Erwin Kräutler selbst, der dieses Mal bei der Verleihung des nach ihm benannten Preises anwesend sein konnte, das anwesende Publikum, als er davon erzählte, wie er in seinen ersten Jahren als junger Pater in der Prälatur Xingu mitbekam, unter welch extremer Ausgrenzung die indigene Bevölkerung zu leiden hatte. Manche sprachen unverblümt die „Hoffnung“ aus, dass es die Indigenen in absehbarer Zeit gar nicht mehr geben würde. Dem jungen Erwin Kräutler war klar, dass hier etwas nicht stimmt; dass die Gesellschaft, auch die Kirche von einer Logik geprägt war, die für einen kleinen Teil Wohlstand und „Fortschritt“ bedeutete, für die große Mehrheit der (indigenen) Bevölkerung jedoch den Tod.
Erwin Kräutler: seine Bekehrung gegen eine Logik, die nicht stimmt
Zu dieser Realität, so Kräutler, habe er sich bekehrt; der Glaube an das Evangelium habe ihm die Kraft gegeben, für die Armen einzutreten, auch wenn ihn diese Option für die Armen Todesdrohungen einbrachte. Und er freue sich, fügte Erwin Kräutler schmunzelnd hinzu, dass der Namensgeber dieses Preises noch unter den Lebenden sei, was ja bei vielen anderen Preisen nicht mehr der Fall sei.
Viele, die an dieser vierten Verleihung des „Erwin-Kräutler-Preises für kontextuelle Theologie und interreligiösen Dialog“ teilgenommen hatten, nahmen von dieser Feier eine besondere Erfahrung mit: zum einen die Überzeugung, dass Befreiungstheologie keine nostalgische Reminiszenz an die 1970er Jahre darstellt (als die Fronten zwischen einer kleinen Elite und einer großen, unterdrückten Bevölkerungsmehrheit in vielen Staaten Lateinamerikas klar sichtbar waren), sondern ein Diskurs, der sich angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche interkulturell und interdisziplinär weiterentwickelte und aktueller ist als jemals zuvor.
Befreiungstheologische Überzeugung: nicht den Sachzwängen ausgeliefert sein
Zum anderen erlebten es viele als Ermutigung, dass Vertreter_innen von Kirche und Gesellschaft, Universität und Politik in der Option für eine gerechte und solidarische Gesellschaft einen Brennpunkt ihres Handelns und Denkens fanden.
Die Überzeugung, nicht jenen „Sachzwängen“ ausgeliefert zu sein, die gesellschaftlich und ökonomisch als „notwendig“ ausgegeben werden, sondern aus einer verändernden und befreienden Hoffnung heraus neue Perspektiven eröffnen zu können, zeichnet die befreiungstheologische Auseinandersetzung aus – heute genauso wie zu den Zeiten von Medellín und Puebla. Und diese Hoffnung ist wohl nötiger denn je.
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Franz Gmainer-Pranzl, Prof. DDr., Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen an der Universität Salzburg
Bild: Andrew Gook / Unsplash
- Zitiert nach: Dolores Bauer, Strom des Elends – Fluss der Hoffnung. Unterwegs mit Dom Erwin Kräutler, Bischof vom Xingu, Salzburg 21990, 237. ↩