Michael Hartmann greift in seinem Beitrag „Elitenförderung – die Herkunft wird belohnt“ das System der Begabtenförderung in Deutschland scharf an: „Die Starken hätten es nicht nötig, werden aber gefördert.“ Und: „Wo Leistung draufsteht, ist Herkunft drin – schon in der Schule.“ Eine Replik von Annette Julius, Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes.
Unabhängig von ihrer Herkunft benötigen auch sehr talentierte – und in diesem Sinne „starke“ – junge Menschen Förderung, um ihre Potenziale entfalten zu können.
Stipendien sind eine Wette auf die Zukunft – keine Belohnung
Die Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes ebenso wie der anderen zwölf Begabtenförderungswerke im Hochschulbereich zielt dabei auf Studierende und Promovierende, die eine herausragende Begabung im Bereich des eigenen Studienfaches mit der Motivation verbinden, die eigenen Fähigkeiten und Stärken nicht rein karrieristisch einzusetzen, sondern in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. In den Auswahlverfahren zählt daher eine Kombination aus intellektuellen oder künstlerischen Fähigkeiten, Leistungsbereitschaft und Engagement für andere. Bei der Einschätzung des Potenzials junger Menschen werden dabei stets das bislang Erreichte und ihr gelebtes Engagement vor dem Hintergrund der individuellen Biografie gewürdigt.
Zugangsgerechtigkeit zur Begabtenförderung
Michael Hartmann und weitere Kolleginnen und Kollegen aus der soziologischen Bildungsforschung betonen, dass „sozialer Habitus“ den Zugang zu Stipendien der Begabtenförderung erschweren und Auswahlprozesse unfair verzerren kann. Die Studienstiftung ist sich dieser Problematik bewusst und wirkt ihr seit vielen Jahren auf verschiedenen Ebenen entgegen – zum Beispiel indem sie sich zusätzlich zu den Schul- und Hochschulvorschlägen für Selbstbewerbungen geöffnet hat sowie Vorschläge nunmehr auch von Organisationen erbittet, die sich im schulischen Bereich für Chancengerechtigkeit engagieren, etwa von der START-Stiftung oder den Talent-Scouts in NRW. Im Rahmen eines „Botschafterprogramms“ informieren rund 1.000 Stipendiatinnen und Stipendiaten der Studienstiftung in jedem Jahr an Schulen, Hochschulen, auf Messen sowie digital über die Chancen einer Förderung und ermutigen zur Bewerbung. Auswahlkommissionsmitglieder werden in Schulungen auf mögliche Beobachtungsfehler hin sensibilisiert und erhalten auf Auswahlbögen strukturierte Hinweise, wie sie die relevanten Kriterien unabhängig von sozialem oder anderem Bias erfassen können.
Der Einsatz zahlt sich aus
Dieser Einsatz hat sich ausgezahlt: Der Anteil von Erstakademikerinnen und -akademikern in der Stipendiatenschaft der Studienstiftung stieg von 21 Prozent im Jahr 2007 innerhalb kurzer Zeit deutlich an und liegt seit 2013 stabil zwischen 29 und 30 Prozent. In der Studienstiftung sind sie damit aktuell um rund sieben Prozentpunkte stärker vertreten als unter den 5 Prozent notenbesten Abiturienten und Abiturientinnen und rund vier Prozentpunkte stärker als unter den 5 Prozent notenbesten Schulabgängern mit Hochschulreife (also z.B. inklusive Fachhochschulreife; zitiert nach Studienberechtigtenpanel des DZHW 2015). Dies Zahlen zeigen, dass es inzwischen gelingt, sehr gute Schul- und Studienleistungen, die unter ungünstigeren Ausgangsbedingungen erbracht wurden, im Auswahlverfahren entsprechend zu würdigen.
Die Orientierung an den leistungsstärksten Abiturienten sei jedoch, so Hartmann, kein Indiz für faire Zugangschancen, da die „tatsächliche Leistung“ die Note nur zu gut 50 Prozent bestimme und „bei gleicher Leistung (…) Kinder aus akademischen Haushalten deutlich besser benotet (werden)“. In der hierfür einschlägigen Publikation „Herkunft zensiert?“, der u.a. Daten aus der von Hartmann erwähnten TIMMS-Studie zu Grunde liegen, findet sich in der Tat die Aussage, dass am Ende der Grundschulzeit die „mit einem standardisierten Leistungstest gemessenen Leistungen (…) insgesamt 49 Prozent der Variabilität von Schulnoten (erklären)“.
Es ist jedoch irreführend, eine punktuelle Kompetenzmessung (durch standardisierte Tests) als „tatsächliche Leistung“ zu bezeichnen und auf diese Weise erwartbare wie notwendige Unterschiede zu langfristigen Leistungsbeobachtungen, wie sie sich in Noten niederschlagen, per se zu skandalisieren. Irreführend ist es darüber hinaus, mit der Aussage, dem Elternhaus käme bei der Notenvergabe „ein großes Gewicht“ zu, zu suggerieren, die anderen 50 Prozent der Differenz gingen auf Herkunft zurück. Letzteres ist keineswegs der Fall, denn die drei in der Studie verwendeten Indikatoren zur sozialen Herkunft – sozioökonomischer Status, Bildungsqualifikation und berufliches Qualifikationsniveau der Eltern – klären die Varianz zwischen Leistungstests und Noten am Ende der Grundschulzeit lediglich zu ca. 3,4 Prozent zusätzlich auf.1 In der (für die Aufnahme in die Studienstiftung relevanten) gymnasialen Oberstufe gibt es dann ohnehin „kaum [noch] Hinweise auf Nachteile bei der Leistungsbewertung in Abhängigkeit des familiären Hintergrunds“ 2.
Polemik kontraproduktiv
Michael Hartmanns Polemik gegen die erfolgreichen Bemühungen der Begabtenföderungswerke um faire Zugangsbedingungen zu den eigenen Stipendien ist daher von den empirischen Daten in keiner Weise gedeckt. Aus unserer Arbeit wissen wir zudem, dass junge Erstakademikerinnen und -akademiker aufgrund fehlender Selbstwirksamkeitserwartungen seltener als andere ihre Chance auf eine Bewerbung wahrnehmen, selbst wenn sie aufgrund herausragender Leistungen für ein Stipendium vorgeschlagen werden. Dem wirken seit vielen Jahren u.a. die oben erwähnten stipendiatischen Botschafterinnen und Botschafter entgegen, denen es an vielen Orten gelungen ist, die sogenannten Non-Responder-Quoten zu halbieren. Diese breiten Bemühungen werden durch Behauptungen, dass Herkunft, nicht Leistung zähle, schlicht konterkariert.
Förderung prägt Lebenswege
Stipendien der Begabtenförderungwerke wirken auf vielen Ebenen: Schon in der Aufnahme steckt die Aufforderung und Ermutigung, ein in die Tiefe gehendes Fachwissen zu erwerben und sich Ziele zu stecken, die über den Tag und über die persönlichen Belange hinausreichen. Finanzielle Leistungen ermöglichen Freiräume für die Konzentration auf Studium oder Promotion ebenso wie für ehrenamtliche Aktivitäten und Perspektivwechsel, etwa durch studienbezogene Auslandsaufenthalte. Ein umfangreiches ideelles Veranstaltungsprogramm bietet Gelegenheit für wissenschaftliche Weiterbildung, fächerübergreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen sowie praktische Trainings und konkrete Unterstützung, etwa für gesellschaftlich Engagierte.
Über Wirkungen und Ergebnisse der Förderung hat die Studienstiftung zuletzt in Absolventenstudien zur Promotionsförderung und Fachhochschulförderung sowie in zwei Sozialerhebungen Rechenschaft abgelegt.3 Exemplarische Rückblicke von Ehemaligen der Studienstiftung zeigen ergänzend auf einer qualitativen Ebene, dass und in welcher Weise Förderung für sie „nötig“ und produktiv war:
„Als mein Doktorvater zum ersten Mal die Studienstiftung des deutschen Volkes erwähnte, dachte ich spontan: Das ist nur was für Kinder aus Arzthaushalten, die mindestens ein Musikinstrument spielen, Goethes »Faust« schon mit 15 gelesen haben und sich beim Essen Servietten auf den Schoß legen. Ich selbst komme aus einer Familie, in der Geld immer ein Thema war und in der, um Musik zu machen oder in einem Buch zu versinken, immer viel zu viel gestritten wurde. 2003 reiste ich als frischgebackene Stipendiatin zu meinem ersten Doktorandenforum nach Westfalen. (…) Drei Tage lang war ich mit Menschen zusammen, die (wie ich) mit sich haderten, zweifelten, grübelten – und gleichzeitig eine nicht zu bändigende Lust am Denken hatten. (…) Es wäre natürlich falsch zu sagen, dass ich der Studienstiftung ‚alles‘ verdanke. Doch hat sie durch ihr Vertrauen in mich beigetragen, dass ich den gefühlten Herkunftsmakel umdeuten konnte. Die Bodenlosigkeit, die ich als Kind so oft empfand, ist meine Inspirationsquelle. Ohne sie wäre ich nicht, was ich heute bin.“ (Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des „Philosophischen Magazins“)
„Die Aufnahme in die Studienstiftung und die drei Sommerakademien haben mir maßgeblich geholfen, Mut zu haben und zuversichtlich zu sein. Es hat mir auch mehr Selbstbewusstsein gegeben, meinen Weg zu gehen. Begegnungen in der Studienstiftung haben mich bestärkt, mir hohe Ziele zu setzen.“ (Wolfgang Ketterle, Nobelpreisträger Physik)
„…keine andere Institution (…) hat meinen persönlichen und beruflichen Werdegang stärker geprägt als die Studienstiftung. Dabei ist es vor allem eine bestimmte Haltung gewesen, die ich bei anderen Studienstiftlern stets bewundert habe: Neugier, Scharfsinn, Weltoffenheit, Lebensfreude, intellektuelles Interesse auch jenseits der eigenen Disziplin, Wachsamkeit für soziale Fragen und die Bereitschaft, die eigenen Grenzen im persönlichen Austausch auszudehnen. Ich (…) habe selten eine Institution erlebt, die weltanschaulich so offen war, ohne ethisch indifferent zu sein.“ (Markus Hilgert, Altorientalist, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder)
„Die Studienstiftung hat mir das Auslandsjahr ermöglicht – und damit der vielleicht einzigen inneren Gewissheit, die ich damals hatte: international arbeiten zu wollen, ein Fundament gegeben, das nie mehr wegzudenken war.“ (Carolin Emcke, Publizistin).4
Ausblick
Unterschiedliche Übertrittsquoten ins Gymnasium gehen auf eine komplexe Kombination von schon in diesem Alter divergierenden Kompetenzen, dem Empfehlungsverhalten von Lehrerinnen und Lehrern, Entscheidungen von Eltern sowie Notengebung zurück. Den hier wie an anderen Stellen fortbestehenden Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschancen in Deutschland weiter aufzubrechen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der auch die Studienstiftung einen Beitrag leisten muss und kann – indem sie die Fairness ihrer eigenen Zugangswege laufend hinterfragt und an verbleibenden Schwächen – z.B. die im Vergleich geringere Nutzung des Vorschlagsrechts durch Gymnasien in den neuen Bundesländern – arbeitet, aber auch, indem sich ihre Geförderten und Ehemaligen für folgende Generationen engagieren – sei es unmittelbar und konkret als „Schülerlotsen“ oder Mentorinnen, sei es langfristig politisch, publizistisch oder wissenschaftlich.
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Dr. Annette Julius ist seit 2012 Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes, des größten Begabtenförderungswerkes in Deutschland. Vorherige berufliche Stationen waren das Cusanuswerk und der Deutsche akademische Austauschdienst (DAAD).
Titelfoto: Konstantin Neureither/CRCLR House Neukölln/Studienstiftung.
Foto Annette Julius: Eberhard J. Schorr
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- Vgl. Kai Maaz/Franz Baeriswyl/Ulrich Trautwein, Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule. Eine Studie im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland, 2011, S. 34 ↩
- Ebd., 64f ↩
- Siehe dazu:
Zweite Sozialerhebung, 2016, https://www.studienstiftung.de/publikationen/sozialerhebung/
Absolventenstudie der Promotionsförderung der Studienstiftung, 2016, https://www.studienstiftung.de/publikationen/absolventenstudie/
Jubiläumsbroschüre der FH-Förderung der Studienstiftung, 2017, https://www.studienstiftung.de/publikationen/fh-jubilaeumsbroschuere/
Externe Evaluation der Auswahlverfahren https://www.studienstiftung.de/publikationen/auswahlverfahren/
Weitere Grundsatzartikel zum Selbstverständnis der Förderung finden sich unter https://www.studienstiftung.de/publikationen/grundsatzartikel/ ↩
- Die Zitate der Alumni entstammen der Broschüre „90 Jahre, 90 Köpfe“ der Studienstiftung, online abrufbar unter https://www.studienstiftung.de/90-jahre-90-koepfe/. ↩