Gertrud von le Fort ist beinahe vergessen. Was hat sie für Gegenwart und Zukunft zu sagen? Ottmar Fuchs über vorkonziliare Erinnerung mit zukunftsweisender Perspektive.
Eine Woche bin ich mit meiner Schwester im schönen Oberstdorf. Hier schlummert die Erinnerung an eine auch für meine eigene Biographie große Dichterin und Theologin. Gertrud von le Fort hat hier fast die zweite Hälfte ihres Lebens gelebt. Vor 50 Jahren ist sie hier am 1. November 1971 gestorben und auf dem Waldfriedhof beerdigt worden. Wenige Wochen vorher, am 11. Oktober, durfte man ihren 145sten Geburtstag feiern. Doch im 21sten Jahrhundert scheint sie eher vergessen zu sein.
1. Bedenkliche Erinnerung
Es ist bemerkenswert, dass le Fort in der Nacht vom Reformationsfest auf den Allerheiligentag gestorben ist. Ein intensives Zeichen dafür, dass unsere Vergangenheit uns bis in den Körper hinein bleibt. Zwei Jahre, bevor sie 1926 im Alter von 50 Jahren zur katholischen Kirche konvertiert ist, hat sie die Hymnen an die Kirche geschrieben, als evangelische bzw. von ihrer Migrationsherkunft her hugenottische Christin.
Gertrud von le Fort gehört zu meinem vorkonziliaren Erinnerungsleib.
Ich denke dabei an meine eigene vorvatikanische Geschichte, die mir bis in den Leib hinein geblieben ist. Meine Kindheit und Jugend immer mit Pius XII im Bistumsblatt. Zu Konzilsbeginn war ich 17 Jahre, bis dahin 8 Jahre Ministrant in der „alten Messe“, wenn später auch mit ersten, noch nicht erlaubten Änderungen hin zur Muttersprache. In der späteren Gymnasialzeit vollgesogen mit den Büchern von Paul Claudel, Reinhold Schneider usw. Auch Gertrud von le Fort gehört zu meinem vorkonziliaren Erinnerungsleib.
Und ich frage mich, was diese Vergessene uns gerade für die Jetztzeit zu sagen hat. Immerhin existiert, spätestens seit der Habermas Rede in der Frankfurter Paulskirche, die nun schon beträchtlich verbreitete Einsicht, dass auch religiöse Traditionen Ressourcen beinhalten können, die die Zukunft braucht.
Auch in religiösen Sprachspielen kann Innovatives und für künftige Haltungen Elementares und Notwendiges gedacht werden.
Doch der Schatten exklusiv säkularisierender Wertschöpfung und der Abschätzigkeit gegenüber religiöser Literatur ist in den Geisteswissenschaften immer noch lang. Er traut religiösen Dichtungen von vorneherein wenig Qualität zu. Übersehen wird, dass auch in religiösen Sprachspielen Innovatives und für künftige Haltungen Elementares und Notwendiges gedacht werden kann.[1]
So trifft es sich gut, dass ich auf feinschwarz.net die feine Erinnerung an le Fort von Andreas Matena entdecke.
https://www.feinschwarz.net/wie-kann-sich-das-christentum-einer-autonom-gewordenen-welt-mitteilen/
Was hier an Wertschätzung und Gegenwartsbedeutung aufblüht, lässt auch wieder aufblühen, was ich dieser Dichterin verdanke. Eben auch die Botschaft: allein die Liebe, intensiv verbunden mit ihrer christlichen Ausdrucksgestalt.
Eine Einsicht in die Ohnmacht der Kirche und in die Annahme dieser Ohnmacht als Herausforderung einer Spiritualität der Absichtslosigkeit.
Bei le Fort ist diese Einsicht eng verknüpft mit ihrer scharfen, völlig unbeschönigenden analytisch präzisen Einsicht in die Ohnmacht der Kirche und in die Annahme dieser Ohnmacht als Herausforderung einer Spiritualität der Absichtslosigkeit hinsichtlich der eigenen Institution.
Gemeint ist eine Absichtslosigkeit, die über den Eigennutz hinaus die anderen zu schätzen und zu schützen weiß: andere Völker, Länder und Religionen, auch wenn man bzw. wenn die Kirche „nichts davon hat“, nichts Zählbares jedenfalls für den eigenen Bereich.
2. Hymnen an die Kirche
Gertrud von le Forts „Hymnen an die Kirche“ stellen ein Zwiegespräch dar. In diesem antwortet die Stimme der heiligen Kirche der nach Gott verlangenden Seele.
„Hymnen an die Kirche“ als Zwiegespräch: die Stimme der heiligen Kirche antwortet der nach Gott verlangenden Seele.
Im ersten Text spricht die Seele von ihren vergeblichen Versuchen, selbst und alleine zurecht zu kommen: Es ist der Ruf jener Seele, die sich noch nicht in die Vorgabe der Kirche hineinbegeben hat. Le Fort schreibt:
„Die noch tief in sich selbst gefangene Seele vernimmt diese Stimme zunächst in ihren eigenen Meditationen als staunendes und erschreckendes Innewerden der übernatürlichen, ihre eigenen Schranken sprengende Wahrheit und Liebe der Kirche. Es entspinnt sich ein Kampf im Inneren der Seele, der mit der vertrauensvollen Hingabe der Seele an die übernatürliche Wahrheit und Liebe der Kirche endet.“[2]
Der zweite Text macht deutlich, was es heißt, sich in die Kirche hinein zu begeben: in diese Vorgabe des Glaubens und wie sich dabei alle Anker lichten, die man zur eigenen Sicherheit selbst geworfen hat. Es ist zuerst die Erfahrung der Wunde, die Bisheriges aufreißt und Schmerz empfinden lässt. Die Selbstverständlichkeit des Bisherigen hat ihre Selbstverständlichkeit verloren und hat sich schmerzlich geöffnet für den Glauben der Kirche, der zunächst einmal die Füße wegreißt.
Die Kirche nicht nur für sich da.
Der übernächste Text ist ein Hymnus an die Kirche selbst: an ihre Weisheit, daran, dass sie ein „Dahinter“ hinter dem Vordergründigen eröffnet, ein Dahinter, das sie trägt. Die Kirche ist von Gott getragen. Gott aber ist so an sie gebunden, dass Gott um ihretwillen den Erdball nicht fallen lässt.
Bereits scheint das auf, was le Fort immer wichtig ist: Nämlich dass die Kirche nicht nur für sich da ist, sondern stellvertretend für alle Menschen die Präsenz jenes Gottes verkündet und darstellt, dessen Liebe und Gnade allen gilt, bis zum Ende, über das Ende und das Gericht hinaus.
3. Kirche in universaler Gebetsverantwortung
Der fünfte Text thematisiert dieses stellvertretende Dasein und Beten der Kirche: In ihr wird das Angesicht der Erde gewaschen und da erwacht alle Welt in Gottes Gnade! Le Fort lässt uns hier etwas von den weltgeschichtlichen Dimensionen der Kirche erahnen.
Die Kirche ist die Repräsentanz Gottes in dieser Welt, nicht weil sie es verdient hätte, nicht weil sie unschuldig wäre…
Die Kirche ist nicht nur eine Gemeinschaft von Gläubigen, nicht nur ein Religionsverein: Sie ist die Repräsentanz Gottes selbst in dieser Welt, nicht weil sie es verdient hätte, nicht weil sie unschuldig wäre, sondern weil sich Gott in ihr nicht nur den Einzelnen, sondern einer ganzen Gemeinschaft und darin der ganzen Menschheit geheimnisvoll verbürgt hat.
Der übernächste Text lässt nun die Kirche selbst sprechen: Jetzt, da die Seele sich ihr geöffnet hat, in sie hineingegangen ist, kann sie die Stimme der Kirche hören. Sie hört hier, wie die Kirche Gott lobt, wie die Kirche die Doxologie ausspricht, auch stellvertretend für alle, die sie nicht aussprechen wollen oder können.
Die Kirche ist für das Tedeum da – auch stellvertretend für die anderen.
Hier wird deutlich, wofür die Kirche da ist, nämlich für das Tedeum, und dafür, dass alle Menschen es aus ihren unterschiedlichen Situationen der Freude und des Leidens heraus zu beten vermögen – aber zugleich niemand zwingen könnend und wollend, und deshalb stellvertretend auch für die anderen.
4. Universal in stellvertretender Proexistenz
So bittet die Kirche für das Volk Gottes aller Menschen, Religionen und Kulturen um die schützende Hand Gottes. Dies geschieht im stellvertretenden Gebet, nämlich für die Menschen und an ihrer Stelle zu glauben, davon Zeugnis abzugeben und stellvertretend für sie die Sakramente zu feiern und für sie das Heil zu erwarten. So wird in der Eucharistie, so wird im Abendmahl das Heil der ganzen Welt gefeiert, die Erlösung aller Menschen, in expliziter Stellvertretung für diejenigen, die davon nichts wissen oder nichts wissen wollen. Denn Gottes Liebe ist nicht von ihrer thematischen Erfahrbarkeit abhängig.
… damit das Reich Gottes durch die Kirche hindurch möglichst überall und möglichst intensiv Wurzeln fassen kann.
Dann gibt es Hoffnung für eine Welt, die nicht in feindliche Religionskulturen zerfällt, sondern sich in gegenseitiger Anerkennung des Fremden im Horizont eines Gottes solidarisch zu vernetzen vermag, der vom eigenen Bereich her zu Gunsten des anderen Bereiches behauptet und in Wort und Tat zugesprochen wird. Nicht damit die Kirche in der Geschichte hegemonial Recht bekommt, sondern damit das Reich Gottes durch die Kirche hindurch möglichst überall und möglichst intensiv Wurzeln fassen kann, hoffentlich in der Kirche selbst, aber auch in all den anderen Sprachgewändern der Religionen und Weltanschauungen.
5. Präsenz der Liebe
Dieser Zusammenhang verstärkt sich mit dem vorletzten Text unter der Rubrik der „letzten Dinge“: Wieder spricht die Kirche selbst: Und sie spricht von ihrer Solidarität mit den Menschen, von ihrem Mitleid mit ihnen und von ihrer ihr von Christus geschenkten Liebessehnsucht, dass am Ende niemand vergessen wird und dass die Barmherzigkeit Gottes siegt. Die Kirche ringt mit dem Gericht des Ewigen, sie steht als Letzte auf der großen Brücke des Abschieds und hält in den Armen alle, die das Leben wegstößt.
Eine hoffnungsermöglichende Gabe, Gott größer sein zu lassen, als die eigene Negativität.
Und schließlich: Abermals spricht die Kirche selbst in diesem letzten Hymnus: Am Ende wird kein Schleier mehr über das Haupt der Kirche fallen. Und die Gnade wird Unendlichkeit haben und die Unendlichkeit wird Seligkeit sein! In dieser Dramatik steht die Kirche in der Geschichte der Menschheit. Auch als hoffnungsermöglichende Gabe, Gott größer sein zu lassen, als die eigene Negativität.
Die Kirche wird verstanden als primärer Ort der Doxologie, der Repräsentanz von Gnade und der stellvertretenden Solidarität. Die Anbetung und Doxologiefähigkeit sind das Herz christlicher und kirchlicher Identität, als Geschenk und als die Befähigung, das Tedeum zu beten und zu singen, wie es Le Fort in ihrem Hymnus Tedeum anstimmt.[3]
Auch die kirchliche Mission ist nicht mit dem Scheitern zu Ende.
Derart geht es um die Darstellung der Universalität Gottes durch eine „stellvertretende“ Kirche, die in dieser stellvertretenden Proexistenz niemanden ausschließen kann. Wie Jesus am Ende das Scheitern seiner Mission am Kreuz erlebt und noch in diesem Scheitern für diejenigen, die die Botschaft nicht annehmen, ja für die Täter, betet und stellvertretend sühnt, so ist auch die kirchliche Mission nicht mit dem Scheitern zu Ende.
Die Kirche zieht sich dann nicht auf sich zurück, sondern begibt sich in den anderen Modus, in die andere Qualität des missionarischen Handelns, nämlich in das stellvertretende Fürbittgebet und in ein sakramentales Feiern, das die Nichtdazugehörigen, die ganz Anderen nicht aus dem Blick verliert, sondern im Radius des universalen Heiles wahrnimmt und mit ihnen entsprechend umgeht. Gertrud von le Fort zeichnet eine Perspektive der Kirchen, die zukunftsweisender kaum sein könnte![4]
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Ottmar Fuchs war Professor für Praktische Theologie in Bamberg und Tübingen.
Zum Bild: Grab von Gertrud von le Fort im Waldfriedhof von Oberstdorf, Foto vom Autor
[1] Vgl. Ottmar Fuchs, Subkutane Revolte. Annette von Droste-Hülshoffs geistliches Jahr. Eine theologische Entdeckung, Ostfildern 2021.
[2] Gertrud von le Fort, Hymnen an die Kirche, München 1961 (1924), 7.
[3] Vgl. ebd. 53f.
[4] Vgl. Ottmar Fuchs, Stellvertretung als theologische Grundkategorie im Horizont einer missionarischen Kirche, in: euangel 2/2021.