Morgen ist der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Rainer Krockauer berichtet von seinen Begegnungen mit Zeitzeugen der Schoah.
Die zahlreichen Begegnungen mit Zeitzeugen der Schoah, die ich im Rahmen meiner Lehrtätigkeit erleben konnte, haben sich tief ins Gedächtnis eingeprägt – vor allem dann, wenn sie an jenen historischen Orten stattfanden, wie Auschwitz-Birkenau, Buchenwald, Nürnberg oder Amsterdam, die mit ihrem Lebenszeugnis verbunden waren.
Der Begriff „Zeitzeuge“ lenkt die Aufmerksamkeit auf die Person, die Biographie und die Botschaft des Zeugen in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation, umfasst den Augenzeugen, dann aber auch dessen Angehörige und das Fortleben des biographischen Zeugnisses in ihrer Erinnerung.
Endlich die konkrete Bedeutung für den Einzelnen verstehen lassen.
Im Jahr 1997 bat ich die damals 72jährige Niederländerin Mirjam Ohringer, Zeitzeugin der Schoah in den Niederlanden und dort im Widerstand aktiv, eine größere Studierendengruppe im Anne-Frank-Haus in Amsterdam zu begleiten. Dieser ersten Begegnung folgten viele weitere. Immer blieb es ihr Wort, verbunden mit ihren biographischen Erzählungen und Deutungen, das sich nachhaltig ins Gedächtnis der Exkursionsteilnehmer eingegraben hat. Ein Studierender hat es nach einem Zeitzeugengespräch so formuliert: „Gewusst habe ich das alles schon, aber jetzt habe ich endlich die konkrete Bedeutung für den Einzelnen verstanden.“
Die pädagogisch gestaltete Begegnung mit Zeitzeugen und ihren Zeitzeugnissen rückt die Geschichte näher und hilft eindrücklich, die Distanz zum Geschehenen zu überbrücken. Sie vermittelt zugleich durch Erzählung und Deutung eine anschauliche Nähe und ermöglicht eine hilfreiche Übersetzung der Leidens- und Widerstandsgeschichte in die Gegenwart.
Wenn Mirjam Ohringer stockend erzählte, wie sie als junge Frau ihre große Liebe, einen deutschen Widerstandskämpfer, kennenlernte, dieser aber nach kurzer Zeit aufgespürt, verhaftet und nach Mauthausen deportiert wurde, wenn sie dann von der Nachricht seiner Ermordung erzählte, die sie bald danach im Amsterdam erreichte, wird weniger die kognitiv nachvollziehbare „Vernichtung“ von Menschen illustriert, es ereignet sich vielmehr eine situativ affektive Einfühlung in das, was die Schoah für den einzelnen Menschen konkret bedeutet hat. Die Nationalsozialisten haben ihr alles, das Wichtigste, genommen, und nichts zurückgelassen außer die Erinnerung und die Liebe.
Das Vermächtnis eines unerschrockenen Lebens weitergeben.
Viele Augenzeugen sind heute in die Jahre gekommen. Jahr für Jahr wird es bei der Planung von Exkursionen, Gedenk- oder Diskussionsveranstaltungen schwieriger, Augenzeugen zu finden, die noch leben bzw. in der Lage sind, sich der physisch und psychisch anstrengender werdenden Begegnung mit Jüngeren zu stellen. Schmerzvoll ist der Abschied von den Zeugen, die einen über Jahre hinweg begleitet haben. Auch Mirjam Ohringer ist am 29. Mai 2016 im Alter von 91 Jahren in ihrer Heimatstadt Amsterdam verstorben. Die Studierenden waren stets von ihrer Geradlinigkeit, Authentizität und Warmherzigkeit beeindruckt. In eindringlicher Weise hat sie einfach nur ihre Geschichte erzählt. Ihr eigenes Schicksal stand dabei nie im Mittelpunkt. Vielmehr hat sie unermüdlich ihr Vermächtnis eines unerschrockenen und engagierten Lebens für andere Menschen weiterzugeben versucht.
In die Jahre gekommen sind aber nicht nur die Augenzeugen, sondern auch die mit ihren Zeugnissen verbundenen Orte, vor allem die baulichen Hinterlassenschaften der damaligen Zeit. Die dynamischen architektonischen Stadt- und Ortsentwicklungen der Nachkriegszeit der vergangenen Jahrzehnte haben oft wenig übrig gelassen, so dass viele alte Erinnerungsorte (Widerstandsorte, Häftlingslager oder Tätereinrichtungen u.v.m.) in ihrer ursprünglichen Gestalt schlichtweg überbaut oder zu anderen Zwecken umfunktioniert wurden oder einfach verschwunden sind. Zum Teil befinden sich auch manche bauliche Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus in einem maroden und sanierungsbedürften Zustand, so etwa das Reichparteitagsgelände in Nürnberg.
In der Spannung zwischen schwer erträglichen Emotionen und einer rationalen Auseinandersetzung.
Viele der Zeitzeugen sind aber auf den Erhalt von an ihre Zeit erinnernden Bau- und Örtlichkeiten angewiesen, weil sie ihrem Bericht ein anschauliches Gesicht geben. Von daher haben sich viele von ihnen frühzeitig entschieden für die Umgestaltung der alten Orte durch Errichtung von Gedenksteinen, Mahnmalen, Museen oder Gedenkstätten zu offiziellen Erinnerungsorten eingesetzt. Wer mit ihnen diese Orte besucht, erlebt an ihrer Seite die Spannung zwischen schwer erträglichen Emotionen und einer rationalen Auseinandersetzung mit einem nahezu unerklärbaren Verbrechen.
Für die Augenzeugen selbst sind diese Erinnerungsorte oft große Friedhöfe und Orte der Trauer um nahe Verwandte oder Freunde und der Erinnerung an eigenes erlebtes Leid. Aber diese Erinnerungsorte sind nicht nur Orte des Gedenkens und der Mahnung, sie sind auch Lernorte, an denen die damalige Geschichte und die Schicksale einzelner Menschen vermittelt werden wollen.
Zwei Generationen nach Ende der NS-Diktatur gelten Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Deutschland und der damit verbundene pädagogische Auftrag als staatliche, öffentlich finanzierte und mit professionellem Personal ausgestattete Aufgabe. Die fachliche Debatte über damit verbundene pädagogische Zielsetzungen und kreative inhaltliche Zugänge für die vielen Besucherinnen und Besucher ist sehr lebendig und kontrovers. Dadurch wird der Anspruch vorangetrieben, der Gestaltung von und der Umgestaltung zu Lern- und Gedenkorten konzeptionell und didaktisch zu genügen. Um das Geschehene begreifen zu können, sind die unterschiedlichsten Informationen der Zeitgeschichte notwendig, da sich die Orte nicht aus sich selbst heraus erklären.
Der Erlebende bringt sein Zeugnis als Quelle ein, der Historiker schafft den Rahmen für das Erinnerungsbild.
Weil es um die menschliche Dimension des historischen Geschehens geht, gewinnt der authentische schriftliche oder mündliche Bericht des (noch lebenden) Zeitzeugen eine Schlüsselbedeutung. Dies gilt besonders für die Schoah. Denn: „Die Einzelheiten des millionenfachen Völkermords sind den Unbeteiligten nicht vorstellbar, das Individuelle ist aus den Akten auch nicht zu rekonstruieren. … Die Gefühle und Schmerzen der Opfer, die Bürde des Überlebens, die Qualen der Erinnerung entziehen sich der Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit des nicht daran Beteiligten.“[1]
Wissenschaftler und Zeitzeugen gehen in diesen Begegnungsprozessen ein Bündnis ein, in dem sie aufeinander angewiesen sind. „Der Erlebende bringt sein Zeugnis als Quelle ein, der Historiker schafft den Rahmen für das Erinnerungsbild, hilft als Interpret oder durch die Bestätigung von faktischen Sachverhalten und gibt dem Zeugnis seinen Platz in der kollektiven Erinnerung.“[2] Mir scheinen für diesen schwierigen Zugang zur Erinnerung insbesondere kommunikative Sensibilität und Professionalität in der Vor-, Auf- und Nachbereitung der Begegnungen unerlässliche Voraussetzungen zu sein.
Gegen die Gefahr der Distanzierung.
Die Erinnerung an die Schoah ist heute einerseits in der Mitte der Gesellschaft angekommen, Gedenkstätten sind zu gesellschafts- und staatstragenden Lernorten geworden, so dass man durchaus von einer Kultur des etablierten Erinnerns in Deutschland sprechen kann. Aber gleichzeitig und andererseits wächst nachweislich die Gefahr der Distanzierung, sowohl von der Selbstverständlichkeit einer etablierten Erinnerung, es wächst aber auch die Gefahr einer emotionalen Distanzierung zu den Ereignissen.
Wenn die baulichen Hinterlassenschaften verfallen und verschwinden, die Augenzeuginnen und -zeugen nicht mehr zur Verfügung stehen und die visuellen Medien in der Überlieferung und Interpretation der Ereignisse und Erfahrungen im pädagogischen Alltag eine immer dominantere Bedeutung erhalten, dann bestimmen diese Tatsachen immer mehr die Umstände und Bedingungen eines erinnerungsgeleiteten Lernens.
Gegen eine einseitige Normalisierung der Schoah-Erzählungen in Lehre, Veröffentlichungen oder in den Medien bin ich um eine nicht nur an Erinnerungsorten und Gedenkstätten angesiedelte, auch die affektiven Erlebnisanteile aufnehmende und damit emotionale Betroffenheit ermöglichende Erzähl- und Begegnungskultur mit Zeitzeugen und ihren Zeugnissen bemüht. Eindrücklich gelingt dies beispielsweise durch ein stellvertretendes Vortragen von Aufzeichnungen verstorbener Zeugen durch Studierende. Eine solche Vorgehensweise wird in den nächsten Jahren nicht nur kritisch zu reflektieren, sondern auch neu und interdisziplinär zu begründen sein.
„Jeder der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“
Als der 2016 verstorbene Elie Wiesel im Jahre 2009 mit dem US-Präsidenten Barack Obama, Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem anderen Augenzeugen Bertrand Herz das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald besuchte, in dem er selbst inhaftiert gewesen war, hinterließ er den Nachgeborenen als Auftrag: „Deswegen sagen wir jedem, der hierher kommt: Geht zurück, erinnert euch und seid entschlossen, aufeinander zuzugehen! Die Erinnerung muss die Menschen aufeinander zugehen lassen und sie nicht voneinander trennen.“[3]
Seine Rolle selbst definierte Wiesel zeitlebens als die eines Zeugen, der den Zuhörenden selbst zu einem Zeugen werden lässt: „Ich glaube, meine Aufgabe war die eines Zeugen. Jeder der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden“[4]. Damit benennt Wiesel auch den besonderen Auftrag an die nachgeborene Generation, gegen das Vergessen einzutreten, die Erinnerung wachzuhalten und sich für Menschenwürde, Frieden und Freiheitsrechte zu engagieren. Dass diese Stafettenübergabe möglich sei, verdeutlicht Wiesels Antwort auf die Frage, ob die nächste Generation seine Arbeit übernehmen würde: „Absolut. Sie wird es versuchen.“[5]
Dr. Rainer Krockauer, seit 1995 Professor für Theologie (insbesondere Anthropologie und Ethik) im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen.
Von Rainer Krockauer auf feinschwarz bisher erschienen:
Photo: Official White House photo by Pete Souza.
Barack Obama legt am 5. Juni 2009 zusammen mit Elie Wiesel, Angela Merkel und Bertrand Herz eine Rose am Erinnerungsplatz des früheren Konzentrationslagers Buchenwald nieder.
[1] Benz, Wolfgang, Vorwort zu: David Dambitsch, Im Schatten der Schoah. Gespräche mit Überlebenden und deren Nachkommen, Berlin-Wien 2002, 7-9, hier 7.
[2] Ebd., 8.
[3] Mitschrift Pressekonferenz: Statements von Bundeskanzlerin Merkel, Präsident Obama und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel in Buchenwald. (5.6.2009): www.buchenwald.de/913/.
[4] Wiesel, Elie, „Schuldig sind nur die Schuldigen“, in: Martin Doerry, „Nirgendwo und überall zu Haus“. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Fotografien von Monika Zucht, München 2006, 204-211, hier 211.
[5] Ebd.