Kulturen indigener Völker wurden in Nordamerika mit kirchlicher Hilfe bekämpft. Sie werden von Ruben Schneider als wertvolle Lernorte für die Gegenwart sichtbar.
Die Amazonas-Synode und der synodale Weg in Deutschland werden oft hinsichtlich der Frage nach viri probati und der Rolle der Frau in einen Zusammenhang gebracht. Doch es gibt noch ein weiteres Thema, bei dem sich der Blick auf die indigenen Völker Amerikas und den Umgang des christlichen Westens mit ihnen lohnt, und zwar diesmal der Blick nach Nordamerika: das auf dem synodalen Weg im Bereich Sexualmoral diskutierte Thema der Neubewertung nicht-heteronormativer Lebensentwürfe. Unter den indigenen Völkern Nordamerikas waren solche Lebensentwürfe Bestandteil der indigenen Kultur, doch der kanadische Staat und die Kirchen versuchten sie systematisch auszulöschen. Hier stellt sich die Frage nach der Interkulturalität und dem Inklusivismus auf besondere Weise.
In der indigenen Kultur gab es Respekt für „abweichende“ Genderrollen.
Die Verurteilung homosexueller und von heteronormativen Rollenbildern abweichender Liebe gehört konstant zum 2000-jährigen Bestand der christlichen Kirchen und den meisten dominanten Kulturen in der Weltgeschichte – mit mindestens einer wichtigen Ausnahme (und hier folge ich den angegebenen Links und Quellen): Unter den Ureinwohnern Nordamerikas (in den USA und unter den First Nations und Inuits in Kanada) gab es Formen von gelebter Homosexualität, von „abweichenden“ Genderrollen und sogar von einem dritten bis sechsten Geschlecht (gender), die tief in der jeweiligen Kultur und Spiritualität verwurzelt und hoch respektiert waren. Albert McLeod prägte 1990 den aus der Ojibwe-Sprache der indigenen Einwohner des heutigen Ost-Kanadas stammenden Begriff niizh manidoowag (two-spirit) als Sammelbegriff für indigene Menschen in der LGBTQI-Community.
„Two-spirit“ als Inbegriff für nicht-heterosexuelle Orientierung
Das Wort „two-spirit“ bezeichnet nicht zwangsweise Homosexuelle im westlichen Sinn, sondern bezieht sich auf gemischte Gender-Rollen (das Cree-Wort napêw iskwêwisêhot beispielsweise bezeichnet Männer, die sich wie Frauen kleiden, und iskwêw ka napêwayat Frauen, die sich wie Männer kleiden; in Ojibwe meint ikwekaazo „Männer, die sich entschieden haben, als Frauen zu fungieren“ bzw. „einer, der sich bemüht, wie eine Frau zu sein“) – „two-spirit“ kann zusätzlich aber auch die nicht-heterosexuelle Orientierung im westlichen Sinn meinen. Für Homosexualität gibt es in den indigenen Sprachen zudem eigene Bezeichnungen, so steht in Mi’kmaq etwa geenumu gessalagee für „er liebt Männer“.
Indigenes Denken richtet sich nicht nur an sexueller Orientierung aus.
Heute sind Two-spirited-Personen als 2S in der LGBTQI(2S)-Community vertreten, auch wenn sich die indigenen Sprachen und die ihr zugrunde liegenden Vorstellungen nicht eins-zu-eins in das westliche Denken der LGBTQ-Community übertragen lassen: Das westliche Denken richtet sich mit seiner Einteilung in hetero/schwul/lesbisch/bi an sexueller Orientierung aus. Das indigene Denken hingegen ist auf „Gender-Orientierung“ gegründet und ordnet die sexuelle Orientierung entsprechend der als wichtiger angesehenen Gender-Orientierung ein. Beispielsweise kann eine two-spirited Person, die nach westlicher Definition eine lesbische Frau ist und die mit einer anderen, „weiblichen“ Frau zusammenlebt, eine „männliche“ Gender-Rolle einnehmen und wird trotz weiblichem biologischen Geschlecht und weiblicher Partnerin in der indigenen Kultur nicht als homosexuell angesehen. Zwei lesbische Frauen hingegen, die beide die weibliche Gender-Rolle wählen, gelten im indigenen Denken dann als homosexuell (vgl. Cameron 2005: 123f.).
„Two-spirit“-Menschen als Heilige verehrt
Es gab in dieser indigenen Kultur geachtete homosexuelle Paarbeziehungen, in vielen Stämmen wurden Two-spirit-Menschen als heilig verehrt und hatten besondere spirituelle Aufgaben inne. Die europäischen Einwandernden nannten sie berdaches, ein Begriff, der von Indigenen heute jedoch als homophobe koloniale Fremdbezeichnung abgelehnt wird. Die US-amerikanische Schwulenbewegung vor den Stonewall Riots 1969 zog aus dieser nicht-europäischen, indigenen Tradition viele Inspirationen.
Groß angelegte Umerziehungsprogramme
Die europäischen Einwandernden und die christlichen Missionare hingegen versuchten diese indigene Tradition regelrecht auszurotten. Die alte These, dass das Christentum bis zur Einführung des medizinisch-juristischen Begriffs des „Homosexuellen“ durch Richard von Krafft-Ebing im Jahr 1886 nur homosexuelles Verhalten, aber kein homosexuelles Sein kannte (und dieses daher gar nicht verurteilen konnte), muss spätestens hier korrigiert werden. Berdaches wurden explizit verurteilt, umerzogen, ausgestoßen oder in den Selbstmord getrieben. Dies war Teil von groß angelegten Umerziehungsprogrammen, die das Ziel hatten, die gesamte indigene Kultur und Religion auszulöschen.
Ein Schulsystem um Sprache und Kultur auszutreiben
In Kanada gehörte zu diesem Gesamtprogramm, innerhalb dessen auch die Two-spirit-Tradition verschwinden sollte, ganz wesentlich das sogenannte Residential School System. Es war ein landesweites System aus Internaten, die von christlichen Kirchen betrieben wurden und in die ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1996 die ihren Eltern entrissenen First-Nation- und Inuit-Kinder interniert und von ihren Verwandten abgeschottet wurden. Dort sollten ihnen ihre indigene Sprache und Kultur systematisch ausgetreiben und aus ihnen gute Christen und Kanadier gemacht werden. Es ging darum, „den Indianer im Kind zu töten („to kill the Indian in the child“), wie der Historiker John S. Milloy sagte. Die indigenen Kinder starben in diesen Schulen zu Tausenden aufgrund von Zivilisationskrankheiten und Unterernährung, und waren Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt (vgl. die ZEIT vom 9.1.2020, S. 58). Vor allem der sexuelle Missbrauch von Jungen durch männliche Erzieher führte dazu, dass die indigenen Jungen später kein positives Verhältnis zur Two-spirit-Tradition der eigenen Kultur aufbauen konnten und sie ablehnten (vgl. Cameron 2005: 124f.).
Eine Kommission zur Aufarbeitung spricht von kulturellem Genozid.
Angesichts des Ausmaßes dieser Tragödie stuft die mit der Aufarbeitung betraute Truth and Reconciliation Commission (TRC) der kanadischen Regierung das Residential School System inzwischen als kulturellen Genozid an den First Nations und Inuits ein. Als letztes Jahr auf der Amazonas-Synode die Statuen amerikanischer Ureinwohner von aufgebrachten Rechtgläubigen in den Tiber geworfen wurden, sprach Bischof Voderholzer in der Wolfgangspredigt von einer notwendigen „Reinigung“ der indigenen Völker, von einer „Umschmelzung“ und „Durchkreuzung“ ihrer Kulturen (https://www.bistum-regensburg.de/news/wolfgangspredigt-2019-7073/). Dabei sollte aber zumindest nicht vergessen werden, wie diese Umschmelzung in Nordamerika vor sich ging.
Ein strategisches Netzwerk von Schulen in kirchlicher Trägerschaft
Die allerersten Missionierungsversuche in Kanada wurden von den Jesuiten auf friedliche Weise unternommen, aber dies wurde in den 1690er Jahren bald aufgegeben. Ab den 1820er Jahren nahm sich dann der Staat (ab der kanadischen Konföderation 1867 der Bundesstaat und sein Department of Indian Affairs) der Sache an. Er baute und finanzierte die Schulen und übertrug ihre Leitung den Kirchen (der römisch-katholischen Kirche, der Anglican Church of Canada, der United Church of Canada und den Presbyterianern – die Schuldgeschichte der katholischen Missionsarbeit wird leider auch im aktuellen Papier der DBK „Evangelisierung und Globalisierung“ nur sehr knapp und schmallippig angesprochen). Die erste Internatsschule war 1834 die Mohawk Institute Residential School in Brantfort, Ontario, die von der Anglikanischen Kirche geleitet wurde. Am Ende waren Residential Schools über ganz Kanada verteilt, von Halifax am Atlantik bis Vancouver am Pazifik, von Toronto im Süden bis zur Arktis im Norden.
Sterblichkeitsrate
unter indigenen Kindern von 69%
In den Residential Schools war es den Kindern unter harter Strafandrohung untersagt, ihre Muttersprachen zu sprechen und ihre kulturellen und religiösen Bräuche zu praktizieren, bis sie sowohl Sprache als auch Kultur vergaßen und nicht mehr in ihre indigenen Familien reintegriert werden konnten. Die staatliche Finanzierung der Schulen war miserabel, das Sanitärsystem und die Gesundheitsversorgung schlecht, und die Sterblichkeitsrate unter den indigenen Kindern erreichte bis zu 69%. Die Sterblichkeitsrate der gesamten First Nations und Inuits war teilweise bis zu dreimal so hoch wie beim Rest der kanadischen Bevölkerung. Die Kinder mussten Zwangsarbeit verrichten und dienten mitunter sogar als Versuchsobjekte in medizinischen Menschenversuchen. Kinder, die starben, wurden in anonymen Gräbern verscharrt und ihre Eltern über ihren Tod nie informiert. Heute erinnern Gedenksteine auf den Friedhöfen ehemaliger Residential Schools an die namenlosen Kinder.
Adoptionen als Teil der Bekämpfung
indigener Kultur.
Die gewaltsame Trennung indigener Kinder von ihren Eltern und ihre Internierung in den Residential Schools dauerte bis weit in die 1970er Jahre an. Anfangs campierten die Eltern, die ihre Kinder vermissten, noch in ihren Zelten vor den Schulen, bis schließlich das rigide Pass System ihnen weitgehend verbat, ihre Reservate zu verlassen und die Schulen weit weg von den Reservaten errichtet wurden. Der 1876 verabschiedete und fortlaufend auch im 20. Jahrhundert durch Zusatzartikel (Amendments) erweiterte „Indian Act“ machte indigene Menschen zu nahezu rechtlosen Subjekten und Mündeln des Staates, und die Eltern hatten keinerlei Einfluss mehr auf ihre Kinder. Bis 1990 wurden indigene Kinder, obwohl ihre Eltern lebten, zu Zehntausenden schlichtweg zur Adoption durch Weiße freigegeben. Besonders hoch war die Zahl der entrissenen Kinder in den 1960er Jahren, man spricht hier vom „Sixties Scoop“. Erst durch Änderungen des Indian Act konnten die Indigenen langsam die Schulen von innen heraus übernehmen und den Staat und die Kirchen zurückdrängen. Die letzte Residential School wurde 1996 in Saskatchewan in West-Kanada geschlossen.
Traumatisiert und gebrochen
Die Umerziehung führte zumeist nicht dazu, dass aus den indigenen Kindern funktionierende Mitglieder der kanadischen Gesellschaft wurden. Sie waren nicht ausgebildet genug, um Jobs anzunehmen, sie waren traumatisiert und gebrochen. Man spricht heute von einem tiefen kollektiven Trauma der First Nations und Inuits, und das Ausmaß von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, psychischen Krankheiten und Selbstmorden ist unter der indigenen Bevölkerung enorm – bis heute. Im Norden von Ontario gibt es eine kleine Stadt namens Thunder Bay, in der besonders viele Inuits leben und die als schreckliches Beispiel der Folgen des kulturellen Genozids gilt: viele Inuits dort prostituieren sich und sind drogen- oder alkoholabhängig.
Eine Stadt namens „Murder Bay“
Die Kriminalitäts- und Mordrate ist sehr hoch und es verschwinden regelmäßig indigene Menschen, die dann irgendwann tot wieder aufgefunden werden. Die örtlichen Behörden kümmert dies kaum, da die Indigenen immer noch als Menschen zweiter Klasse gelten. Die Bewohner nennen diese Stadt „Murder Bay“. – Dee Brown hat 1970 in seinem berühmten Buch Bury My Heart at Wounded Knee (deutsch: Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses) das Schicksal der Indianer in den USA beschrieben, und es gipfelt in dem tragischen und brutalen Massaker an den Sioux im Jahr 1890 auf dem Wounded Knee Battlefield in South Dakota, das den Genozid an der indigenen Bevölkerung der Great Plains besiegelte. Ein Buch über das Schicksal der First Nations Kanadas müsste wohl den Titel tragen: Bury My Heart in Murder Bay.
Was die Kirche noch lernen muss,
findet sie schon bei anderen.
Die Aufarbeitung des kulturellen Genozids in Kanada ist noch lange nicht abgeschlossen. In der katholischen Kirche hat erst Papst Benedikt XVI. entscheidende Schritte zur Aufarbeitung der kirchlichen Beteiligung auf den Weg gebracht und Papst Franziskus folgt ihm hier. Was Franziskus auf der Amazonas-Synode über Südamerika sagte, gilt ebenso für Nordamerika: die katholische Kirche müsse die „ideologische Kolonialisierung, die die Wesensart der Völker zerstört“ überwinden und einem Prinzip der Interkulturalität und der leisen Töne folgen. Auf dem synodalen Weg in Deutschland ringt man um die institutionelle Wertschätzung von LGBTQI-Menschen und um ein neues Verhältnis zur Gender-Frage. Genau hier könnte sich der interkulturelle Blick auf die Traditionen der indigenen Kulturen Nordamerikas lohnen und hier könnte die Kirche von der indigenen Geschichte lernen. Genau hier könnte die Kirche sich eingestehen, dass etwas, was sie selbst erst noch erreichen will, schon längst zur „Wesensart“ anderer Kulturen und Religionen gehörte. Und zwar zur Wesensart von Kulturen und Religionen, an deren versuchter Auslöschung die Kirche massiv mitwirkte. Wer sich all dem jedoch nicht stellen will, müsste schon die Two-spirit-Tradition konsequent als heidnischen Irrtum verwerfen und sich ehrlicherweise von den konziliaren Aufbrüchen verabschieden.
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Autor: Ruben Schneider, Hochschule für Philosophie SJ, München
Foto: Andrew Neel / unsplash.com
Quelle: Cameron, Michelle (2005) „Two-spirited Aboriginal people: Continuing cultural appropriation by non-Aboriginal society“, in: Canadian Women Studies 24 (2/3), 123–127.