Sich mit christlichem Hintergrund an die ethischen Fragen unserer Zeit zu wagen – wie kann das gehen angesichts pluraler Gesellschaft und zerfallender Glaubwürdigkeit der Kirchen? Ein Gespräch mit dem Moraltheologen Karl-Wilhelm Merks, einem der großen Vertreter der „Autonomen Moral“.
Herr Merks, Sie haben gerade ein neues Buch vorgelegt – es nennt sich, nicht gerade bescheiden, „Theologische Fundamentalethik“. Das ist ein selbstbewusster Auftritt der Stimme der Moraltheologie – umfassend breit angelegt, ohne Berührungsängste, mit einem Anspruch, der so gar nicht vom oft verzagten Gestus religiöser Rede in der Gegenwart «angesteckt» scheint. Worin gründet solches Selbstbewusstsein?
Wie soll man zu moralischen Fragen etwas sagen ohne entschiedenes „Selbstbewusstsein“? Ethik ist in meiner Vorstellung keine Moralsoziologie, nicht ästhetische Spielerei abgehobener theoretischer Ideenverknüpfungen, sie ist auch keine Katalogisierung von Museumsschätzen, die vor allem der Tradition verpflichtet sind. Sondern Ethik sollte wiedergeben, was man selbst ernsthaft meint, an Gewissem wie an Fragwürdigem – und was man daher sich selbst und andern zu tun empfehlen will. Sie zielt in diesem Sinne auf selbstbewusstes „Engagement“. Wie selbstbewusst man dabei auftritt, ist dann eine Sache des Temperaments, und der angemessenen Klugheit.
Das Buch greift einen Schlüsselbegriff zeitgenössischen Selbstverständnisses auf – die Autonomie. Aber so sehr verständlich ist, dass sich die Theologie diesen Begriff erst aneignen musste und damit auch emanzipieren aus einem vormodern geprägten, ständeethisch formatierten Schema, das dann neuscholastisch-modernistisch zu einer rigiden Gehorsamsmoral pervertiert wurde – wie sehr trägt der Autonomie-Begriff denn heute weiter, wo der Anspruch auf Selbstbestimmung zu einer puren Selbstverständlichkeit menschlichen Selbstempfindens geworden ist?
Es ist richtig, der zentrale Begriff der Autonomie ist, jedenfalls in der katholischen Moraltheologie, ein Spätling, leider. Inzwischen hat er sich aber prächtig entwickelt; wahrscheinlich deshalb, weil sich bei genauer Analyse zeigt, dass er, bildhaft gesprochen, unterschiedliches Erbgut in sich trägt, nicht nur, dominant, die Philosophie der modernen Zeit (Stichworte Aufklärung, Kant, moderne Rationalität), sondern auch uralte Gene (antike Philosophie, jüdische und christliche Religiosität, scharfsinnige mittelalterliche Intellektualität). Als solche bietet Autonomie heute das Schlüsselwort für das Ideal einer allgemeinen, über alle Kulturen hinaus verständlichen Ethik.
‘Autonomie’ könnte also gerade in Zeiten der Globalisierung und bei zunehmender Vielfalt von Geltungsansprüchen unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft zu einer Art gemeinsamen ethischen Scharnierstelle werden, über das solche Geltungsansprüche miteinander kommunizieren können?
Ja, genau, das meine ich. Denn der Kern von Autonomie ist die Selbstverpflichtung zur Freiheit und Würde aller Menschen, jedes und jeder Einzelnen. Hierzu setzt sie nicht notwendig Religion voraus, sondern bietet einen durchaus allgemein menschlich verständlichen, „säkularen“ Erfahrungsansatz für eine, bei aller kulturellen Differenzierung, universal (auch religiös) attraktive Fundamentalmoral, die es freilich (durchaus auch plural) konkret auszugestalten gilt.
Wir merken immer wieder – und die Corona-Pandemie ist der jüngste «Lernort» dafür –, dass Freiheit nicht in Autonomie aufgeht. Hannah Arendt, Charles Taylor und andere haben uns gelehrt, dass negative und positive Freiheit in oft mühsamen hermeneutischen Prozessen in ein Verhältnis gebracht werden müssen und der Anspruch auf «Autonomie der Persönlichkeit» unter den Bedingungen von Kultur, Gesellschaftlichkeit und Geschichte eher ein theoretischer Anspruch denn konkrete sittliche Größe ist. Kurzum: Greift Moraltheologie nicht zu kurz, wenn sie sich auf diesen Begriff kapriziert?
Autonomie lediglich als das Recht persönlicher Freiheit zur Selbstbestimmung (zu was auch immer?) zu verstehen, ist ein Missverständnis. Das Subjekt ist zwar letztlich für moralische Unterscheidungen und Entscheidungen der unverzichtbare Ursprungsort. Aber Subjekte ohne Intersubjektivität und Sozialität zu verstehen, ist anthropologisch, wie sozialwissenschaftlich, wie natürlich auch theologisch unangemessen und wird schon durch die Wirklichkeit widerlegt. Autonomie ist daher immer auch Für-Sorge: Verantwortlichkeit für mich selbst, für die Mitwelt, die Umwelt, die Nachwelt. Aus diesem Grund bevorzuge ich als nähere Umschreibung von Autonomie den Begriff der „autonomen Verantwortungsethik“.
Eine wesentliche Grundthese des Buches lautet: Philosophische, säkulare Ethiken und theologische Ethik teilen dasselbe Fundament. Gerade in einer Zeit, die von radikaler Wahlfreiheit geprägt ist, fragen viele Menschen aber nach dem Spezifikum der Religion. Wie könnte man dies in Bezug auf Moral und Ethik auslegen? Wie lässt sich diese alte Frage nach der «christlichen Differenz» in der Moral vor dem Horizont unserer gegenwärtigen Lebenswelt beantworten?
In der Tat geht es mir zunächst darum, das Gemeinsame der verschiedenen Ethiken bei allem kulturellen Pluralismus zur Sprache zu bringen – weil das für eine gemeinsame Menschenwelt lebensnotwendig ist und sich darum auch moralisch so gehört.
Zugleich möchte man aber doch wissen: Wo bleibt das Christliche – bei aller gemeinsam zu übernehmenden Verantwortung?
Ich frage zunächst nicht nach dem „spezifisch Christlichen“ gegenüber dem „nur“ Menschlich-Allgemeinen. Sondern frage umgekehrt, was allgemein-menschliche Erfahrungen uns lehren können für das Verständnis wahrer christlicher Ethik. In diesem Sinne hat die allen Menschen gemeinsame Vernunft und damit das „Säkulare“ auch für die religiöse(n) Ethik(en) grundlegende Bedeutung. Christliche Moral soll sich daher nicht im Gegensatz zur säkularen Ethik profilieren, sondern als Partnerin bei der gemeinsamen Suche nach dem (mit-)menschlich Förderlichen und vor allem als Ermutigung zu solcher Suche. Dass das „Christliche“ und insbesondere die Heilige Schrift dabei nicht zu kurz kommen, zeigen die abschließenden Kapitel meines Buches.
Ein wichtiger Einwand, der gerade gegenüber der Disziplin der Moraltheologie geäussert wird, lautet: Glaube ist nicht in erster Linie Moral. Ein «moralischer Glaube» ist gar eine Verfälschung des christlichen Anspruchs. Was sagen Sie dazu?
Glaube ist nicht in erster Linie Moral, aber er versteht sich in der jüdischen und christlichen Tradition auch nicht ohne Moral. Gottesverehrung geht nicht ohne die Ehre der Menschen zu achten und zu fördern, Gottesliebe geht nicht ohne Menschenliebe. Wenn Christinnen und Christen sich darin auszeichnen, zeigt das auch ihren Glauben, und wenn sozusagen Ungläubige das ebenfalls tun, „sind sie dem Himmelreich nicht fern“ (Mk. 12. 34).
Die Disziplin der Moraltheologie hat ja ihre – sehr problematische – Fachgeschichte: Von einer kasuistischen Sündenmoral über die Lehre von den «Gewissensfällen» bis zur Gehorsamsmoral, die dann erst mit dem Ansatz einer «Autonomen Moral im christlichen Kontext» aufgebrochen wurde. Wenn man so ganzheitlich herangeht, wie Sie das in Ihrem Buch tun, wäre es dann nicht eine schlüssige Konsequenz, diese klassische Disziplinenordnung in Frage zu stellen und eher von einer «Systematischen Theologie in ethischer Perspektive» zu sprechen?
Man kann das wohlwollend so verstehen. Manche Entwicklungen in der herkömmlichen Moraltheologie rufen nach Kritik auch aus der Theologie selbst. Ich habe mit meinem Buch eine andere Systematik gewählt: nicht die Frage nach Platz (und Ursprung) der Ethik im theologischen Selbstverständnis, sondern die Einbettung auch der theologischen Ethik in das Ethisch-Gemeinsame der verschiedenen Moralen/ Ethiken (die diesen Namen verdienen). Der Grund hierfür ist die eigen-„artige“ Fragestellung der Ethik: Was ist gut zu tun, was sollen wir tun? Und die ist grundverschieden zu physikalischen, metaphysischen und auch dogmatischen Fragen nach dem, was „ist“ (das Sein, das Seiende, oder ein Sollen, das ablesbar ist am Seienden selbst, wie eine bestimmte Naturrechtsauffassung dachte). Die Bedeutung dieser Unterscheidung habe ich vor allem auf dem Weg über Thomas von Aquin gelernt.
Thomas von Aquin gilt Ihnen als ein wichtiger Gesprächspartner bei Ihrem Projekt. Das muss man den Menschen von heute erst einmal erklären! Warum kann ein Denker aus dem 13. Jahrhundert heute Aktualität entfalten – liegt da nicht ein Anachronismus vor, also eine Vereinnahmung für Anliegen, die nicht jene des Menschen im Spätmittelalter gewesen sein können?
Wie auch die erwähnten Hannah Arendt und Charles Taylor beweisen, sind Rückbezüge auf ältere Denkepochen durchaus kreativ, auch als Kritik an aus dem Ruder gelaufenen modernen „Errungenschaften“, oder an vermeintlicher Traditionstreue, die sich aber oft als durch die eigene Brille verzerrte Lektüre der Tradition erweist. Das gilt auch für Neuthomismus und Neuscholastik, wo „Autoritäten“ weniger als ernsthafte intellektuelle Herausforderung, sondern eher als Beweisinstanz für eigene dogmatisierte Überzeugungen herhalten müssen. Wichtig ist es natürlich, bei Bezugnahmen auf Philosophen wie Aristoteles und Theologen wie Thomas von Aquin zwischen epochenübersteigender Scharfsichtigkeit und unvermeidlicher Zeitgebundenheit auch der größten Denker zu differenzieren.
Worin bestünde dann die bleibende Aktualität solcher Namen?
Thomas von Aquin und dessen Rezeption des Aristoteles gewinnen auch für heute Relevanz, wenn sie methodisch streng die eigene Dimension von praktischer Vernunft (Ethik) gegenüber anderen Dimensionen der Vernunft (wie Physik, Technik, und Metaphysik) herausarbeiten. Und sich in dieser Hinsicht auf einmal durchaus als kompatibel mit (dem ja auch schon alten) Kant erweisen – trotz aller Unterschiede. Denn menschliches Denken ist nicht Wiederholen des je schon Gedachten, sondern dessen Aneignung und Weiterführung zugleich. Ähnliches gilt ja auch für eine aktualisierende Exegese der Heiligen Schrift, die anders, als leider oft und fälschlich missbraucht, kein Steinbruch für Dogmatiken ist, und vielleicht gerade daher aber theologisch relevant bleibt.
Viele Menschen trennen nicht so scharf zwischen theologischer Wissenschaft und kirchlicher Lehrbildung, wie man das der Sache nach wohl tun müsste. Für sie ist christliche Ethik diskreditiert, da die Kirche sich mit Skandalen und Reformstau zunehmend unglaubwürdig macht. Und in der Tat ist es ja eine Frage: Kann es eine Ethik, die sich «christlich» nennt, geben, wenn deren wichtigste «Trägergruppe», die kirchlich verfasste Glaubensgemeinschaft krankt und – zumindest als soziale Größe – am Zerfallen ist?
Damit schneiden Sie eines der zentralen Probleme für manche Differenzen zwischen kirchlicher Lehre und theologischer Wissenschaft an. Von der Unerträglichkeit von Skandalen gerade der sittenstrengen Morallehrer ganz abgesehen – Theologie ist Denken, nicht aber Gehorchen. Das gilt m.E. auch für die dogmatische Theologie, ganz gewiss aber für die theologische Ethik, in der nun einmal Dinge verhandelt werden, die zuinnerst mit den Erfahrungen und der eigenen Einsicht und unentrinnbaren Eigen-Verantwortung der Menschen zu tun haben. Diese Eigenverantwortung erledigt sich nicht angesichts lehramtlicher Denkmodelle und Vorschriften, die de facto Verantwortlichkeit für das rechte Glaubensverständnis und das rechte Handeln dem Gesamt des Gottesvolkes nicht zutrauen oder gar entziehen.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten konkreten ethischen Fragen der Gegenwart, bei denen eine theologische Ethik Beiträge liefern kann und sogar die Chance hätte, Gehör zu finden?
Die wichtigsten konkreten ethischen Fragen der Gegenwart sind für die Theologie au fond dieselben, wie die wichtigsten ethischen Probleme der Gesamtgesellschaft, gleich ob das nun medizinische, ökonomische, soziale, politische, wissenschaftliche oder technologische Probleme und Entwicklungen betrifft. Und da gehören manche hot items, bei denen kirchliche Lehre sich bisweilen besonders engagiert hat, wie etwa die anscheinend unveränderliche Lehre zur Sexualordnung oder zu bestimmten medizinischen Problemen, nicht in die erste Reihe. Viel relevanter ist die – nicht autoritative, sondern fürsorgliche – Beteiligung an der Weiterentwicklung struktureller, allgemeiner Vorgaben und Modelle, etwa zur sozialen Ordnung der Gesellschaft, zu Berechtigung und Grenzen einer Eigendimension des Politischen und zur „Autonomie“ der verschiedenen Sachbereiche. Von zentraler Bedeutung scheint mir vor allem die Wertschätzung der demokratischen Lebensordnung, zu der die Kirche sich bisweilen zwar kritisch äußert, aber an deren Weiterentwicklung sie sich pfleglicher beteiligen sollte.
Von solchen Themen kommt in Ihrem Buch nicht sehr viel vor. Sie sprechen hier eher aus der fundamentalethischen Perspektive.
In meinem Buch will ich vor allem darauf hinweisen, wie ethische Fragen zu besprechen und zu entscheiden sind: in gemeinsamer Anstrengung des moralischen Einsichtsvermögens aller Beteiligten, und als Bestreben, die moralische Frage als solche nicht über allen Details aus dem Auge zu verlieren: Was ist gut, und für wen? Wie kann man diese Fragen auch in komplizierten Situationen möglichst gerecht für alle beantworten, insbesondere auch für die, die durch Einflusslosigkeit und Marginalisierung als aktive Gesprächspartner und Interessenvertreterinnen gehindert sind. Für eine solche Autonomie individueller wie gemeinsam wahrgenommener Eigenverantwortung in allen Lebensbereichen, und im Maße der je eigenen Einsichtsfähigkeit und moralischen Sensibilität, könnte die Kirche insgesamt, in ihren Mitgliedern wie ihren Amtsgestalten, eine Patronage übernehmen.
Dem Rheinländer ist Pessimismus fremd, aber durchaus nicht ein gewisser melancholischer Grundzug, der aus einer teilnehmenden Sensibilität mit der jeweiligen Zeit herrührt. Sie selbst blicken auf eine lange Wegstrecke kirchlicher und theologischer Zeitgenossenschaft zurück, in der Sie sicher beobachten konnten, welche Resonanz und Wirkung theologische Ethik und christlicher Glaube bei den zentralen Orientierungsfragen der Gesellschaft entfalten konnten. Was sind hierzu Ihre wichtigsten Eindrücke – und vielleicht daraus abgeleitet auch ihre Prognosen für Gegenwart und Zukunft?
Auf die Fähigkeit der Menschen zu sittlicher Vernunft zu vertrauen, und die Voraussetzungen für die Wirkmöglichkeiten dieser Vernunft bei allen ideologischen und technologischen Vereinnahmungen und Einschränkungen nach Kräften zu bewahren und zu fördern, erfordert schon einen gewissen Optimismus. Aber die Einsicht in die Grenzen möglichen menschlichen Handlungsvermögens durch komplexe und widrige Umstände sollte nicht durch Melancholie ästhetisiert, noch durch Besserwisserei immunisiert werden, sondern zu beherztem Freiheitsengagement ermuntern. Dies zu pflegen, scheint mir erste Aufgabe einer christlichen Ethik heutzutage. Nach meinen Erfahrungen hat christliche Ethik auch heute gute Chancen, wo sie die Ideale der Moderne positiv aufgreifen kann, nicht selbstherrlich auftritt, sondern Ihre eigenen Einsichten in den Dienst möglicher gemeinsamer Verantwortung einzubringen versteht – mit Vernunft und Gottvertrauen.
Die Fragen stellte Daniel Bogner.
—
Karl-Wilhelm Merks, Dr. theol., lehrte von 1981 bis 2004 katholische Moraltheologie an der Universität Tilburg/Niederlande.
Bild: Woyzeck – pixelio.de
Vor Kurzem erschien: Karl-Wilhelm Merks, Theologische Fundamentalethik, Verlag Herder: Freiburg 2020, 472 S., 68 EUR.