Die Borromäerinnen in Jerusalem säen den Frieden. Sie beginnen bei den Kleinen und hoffen darauf, dass es sie für ihr Leben prägt. Von Wilfried Schumacher und Sr. Gabriela Zinkl.
Wilfried Schumacher: Der Krieg hat immer Gesichter
„Der Krieg hat immer Gesichter.“ Das Schlusswort einer Videopräsentation an der Omaha Beach in der Normandie klingt banal, aber es hat mich berührt und es stimmt. Es sind nicht die Panzer, die Geschütze, die Bombenabwürfe, die Flugzeuge und Kriegsschiffe, die den Krieg ausmachen, es sind die Gesichter der Menschen, die ihm zum Opfer fallen, die unter ihm leiden, und die Gesichter derer, die ihn befehlen.
Am Ufer des Ärmelkanals gehen meine Gedanken auf eine 3.300 Kilometer lange Reise in den Nahen Osten. Der Krieg, der in Folge des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023 ausgebrochen ist, produziert täglich viele Bilder, zeigt viele Gesichter.
Ich sehe vor mir die Gesichter von Menschen, die nur indirekt betroffen sind und die doch unter dem Krieg leiden: die Gesichter der Kinder im Kindergarten in Jerusalem, die mir letztes Jahr noch ein Ständchen gebracht haben, christliche und muslimische Kinder harmonisch in einem Chor. Der Kindergarten ist unter der Leitung der barmherzigen Schwestern vom hl. Karl Borromäus, einer deutschsprachigen Ordensgemeinschaft, deren Gästehaus in der German Colony in Jerusalem seit dem Oktober 2023 keine Einnahmen mehr hat und die doch so notwendig wären, um den Kindergarten zu unterhalten.
Wie schaffen Sie es, die christlichen und muslimischen Kinder in dieser Kriegsatmosphäre gemeinsam so zu erziehen, dass der Hass der Erwachsenen keine Chance hat, sie zu infizieren, frage ich die Schwestern.
Sr. Gabriela Zinkl: Christen und Christinnen: zwischen den Fronten
Anders als viele vermuten, ist Jerusalem in diesem Konflikt kein direkter Kriegsschauplatz und war bisher kaum Zielscheibe für Raketenangriffe aus Gaza oder aus dem Norden. Doch steht die Heilige Stadt ganz klar im Zentrum des Konflikts; die beiden Glaubensrichtungen, die sich um den Tempelberg, das pulsierende Herz ihrer Religionen, streiten, stehen sich im Gaza-Krieg als Feinde gegenüber.
Egal, ob mit oder ohne Krieg, wer als Christ, Christin oder sogar als Ordensfrau in Jerusalem lebt, steht hier immer zwischen den Fronten. Das Christentum spielt hier eine marginale Rolle, sein Anteil liegt in der israelisch-jüdischen wie in der palästinensischen Bevölkerung bei etwa einem Prozent. Was viele nicht denken: Das Heilige Land ist christliches Diaspora-Gebiet. Wer heute in dieser Region als Christ oder Christin überleben, ja bleiben will, braucht starkes Gottvertrauen und jede Menge Nächsten- und Feindesliebe. Christliches Leben führt hier kein Schatten-, wohl aber ein Nischendasein.
Im Fall unserer Ordensgemeinschaft der Borromäerinnen ist diese Nische vergleichsweise groß und an manchen Tagen ziemlich laut, aber fröhlich, denn in unserem Kindergarten in Jerusalem betreuen wir 140 palästinensische Kinder von 3 bis 6 Jahren. Die meisten von ihnen kommen aus Ost-Jerusalem und der Altstadt und sind muslimischen Glaubens. Etwa ein Fünftel der Kinder, ein relativ hoher Prozentsatz, sind Christen unterschiedlicher Konfessionen.
Im Kindergarten St. Charles funktioniert die bunte Mischung aus Fatmes, Mohammads, Miriams und Christians, die von Schwestern zusammen mit christlichen und muslimischen Erzieherinnen betreut werden, sogar erstaunlich gut. Die Kinder lieben es, im Dezember Weihnachtslieder in Arabisch, Englisch und Deutsch zu üben, und zu St. Martin und im Ramadan Laternen zu basteln. Die Nachfrage der Eltern ist steigend, allein der Platz reicht nicht für mehr Kinder aus.[1]
Als die Schulen und Kindergärten in Israel zwei Wochen nach dem Angriff aus Gaza ihre Türen wieder öffnen durften, taten auch wir dies mit gemischten Gefühlen. Als Kindergarten in West-Jerusalem, Israel, für palästinensische Kinder aus Ost-Jerusalem, die zum Teil von Erzieherinnen aus Betlehem betreut werden, stehen wir jeden Tag vor einer heiklen Mission.
Angst und Euphorie
Dementsprechend war gerade die Zeit der Wiedereröffnung nach Beginn des Gaza-Kriegs von Angst und Euphorie geprägt. Angst, weil wir nicht einschätzen konnten, wie unsere israelischen Nachbarn in der German Colony und Fanatiker im ganzen Land auf unsere sichtbar und hörbar arabischen Kinder und Eltern reagieren würden. Euphorie, weil die Eltern schon kurz nach Ankündigung der Öffnung via Internet positiv reagierten und die Kinder vom ersten Tag an scharenweise kamen. Für viele Eltern war unsere Entscheidung, den Kindergarten wieder zu öffnen, ein wichtiges Zeichen des Angenommenseins und der früheren Normalität. Da war jemand, der sie akzeptierte und nicht verurteilte. In der Rückschau waren dies für unser Team die herausforderndsten Wochen seit Langem.
Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat einen tiefen Keil zwischen israelische Juden und palästinensische Araber getrieben, bis heute trauen sich beide Seiten nicht über den Weg. Für unseren Kindergarten mussten wir damit rechnen, dass das bisherige arabische Wachpersonal an der Einfahrt zum Schulhof auf die jüdische Nachbarschaft geschweige denn auf radikale Zeitgenossen als reine Provokation wirkt. Also beschlossen wir Schwestern, morgens und nachmittags als Security-Guards selbst am Schultor zu stehen, im Ordenskleid und unbewaffnet.
Anders als befürchtet war das Echo überwältigend. Israelische Nachbarn waren stolz auf uns und zu Tränen gerührt, endlich wieder das Singen und Lachen der Kinder zu hören. Die Eltern der Kinder priesen uns in der ganzen Stadt. Die Worte eines kleinen Jungen brachten die Brisanz der Situation auf den Punkt: „Ich bin so froh, dass ich wieder in den Kindergarten kommen darf. Denn weißt du, bei uns zuhause ist Krieg!“
Das ermutigt uns, unsere Kleinen auch weiterhin zu Toleranz und Respekt gegenüber der und dem anderen zu erziehen. Wir werden nicht müde, mit ihnen Lieder über Frieden und Versöhnung zu singen. Und wir setzen alles daran, um unseren Kindern und ihren Familien einen friedlichen Ort der Geborgenheit zu bieten. Darin sehen wir unsere Aufgabe als Christinnen und Ordensfrauen im Heiligen Land, die gerade jetzt notwendiger denn je ist: für die Menschen in Not da zu sein, egal welcher Hautfarbe, Religion und Nation sie sind.
Wilfred Schumacher:
Handwerker des Friedens – Gelassenheit, Kreativität, Feingefühl und Geschicklichkeit
Seitdem ich den Schwestern 2012 zum ersten Mal begegnet bin, hat mich ihre Arbeit fasziniert: in einem Land, in dem die großen Religionen in Konkurrenz zueinander leben, verdient ihr Bemühen um Achtung und Respekt vor der Religion des anderen, das schon bei den ganz Kleinen beginnt, größte Hochachtung.
Als Papst Franziskus 2018 in seinem Apostolischen Schreiben „Gaudete et Exsultate – Über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute“ erstmals von den „Handwerkern des Friedens“ sprach, erkannte ich darin die Schwestern in Jerusalem wieder, „weil den Frieden aufzubauen eine Kunst ist, die Gelassenheit, Kreativität, Feingefühl und Geschicklichkeit erfordert. Um uns herum Frieden säen, das ist Heiligkeit“. [2]
Die Borromäerinnen in Jerusalem säen den Frieden. Sie beginnen bei den Kleinen und hoffen darauf, dass es sie für ihr Leben prägt.
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Sr. Gabriela Zinkl SMCB, Dr. theol., geb. 1975 in der Oberpfalz/Bayern, Promotion in Theologie (Kirchenrecht), Ordensschwester der Borromäerinnen, 2015-2023 in Jerusalem,seit 2024 im Mutterhaus Kloster Grafschaft als Mitglied der Ordensleitung. sr.gabriela@borromeo.de
Photo: privat
Msgr. Wilfried Schumacher, geboren 1949 in Bonn, Priesterweihe 1974, nach Kaplansjahren Diözesanreferent für Öffentlichkeitsarbeit in den Pfarrgemeinden; 1989-1998 Hochschulpfarrer in Düsseldorf, 1998 – 2018 Stadtdechant und Münsterpfarrer in Bonn. Seit 10.5.2018 Pfarrer i.R..
Schumacher gründete das Projekt „Handwerker des Friedens“, das über die Lage im Kindergarten informiert und die Schwestern unterstützt. www.handwerkerdesfriedens.de
[1] Auch jüdische Familien fragen nach, ob ihre Kinder im Kindergarten aufgenommen werden können. Wegen der unterschiedlichen Schulsysteme und Schulabschlüsse – israelisch-hebräisch und palästinensisch-arabisch –, ist eine größere Anzahl hebräisch-sprechender Kinder erforderlich zur Bildung einer Gruppe. Vereinzelt wechseln arabische Kinder nach dem Kindergarten bei uns in die Hand-in-Hand-Schule (Jad-ve-Jad), eine der wenigen Schulen der Stadt, in der jüdische gemeinsam mit palästinensischen Kindern auf Hebräisch und Arabisch unterrichtet werden.
[2] GE 89 – https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20180319_gaudete-et-exsultate.html