Am 3. Januar, dem Namen-Jesu-Fest, geht Julia Knop der Bedeutung unserer Vornamen auf die Spur.
Namen zeigen an, woher jemand kommt und wohin er gehört. Der Nachname ist hierzulande der Familienname: Er verweist auf den primären Sozialraum seines Trägers, auf seine Ursprungsfamilie, und markiert nach einer Heirat gegebenenfalls die Zugehörigkeit bzw. Gründung eines neuen Sozialverbundes, der wiederum die Herkunft der nächsten Generation bestimmen wird. Während der Familienname verbindet, macht der Vorname den Unterschied. Er identifiziert einen Menschen innerhalb seiner Familie. Denn der Mensch ist nicht nur Kind seiner Eltern, sondern auch ein Jemand, den man individuell benennen, ansprechen und rufen kann.
Eigenartiger Weise verwenden wir selbst, abgesehen von einer kurzen Phase, in der das Kind sich selbst als Ich im Gegenüber zur Welt (zum Nicht-Ich) zu entdecken beginnt, unseren Vornamen nur in kommunikativen Erstsituationen, beispielsweise in einer Vorstellungsrunde oder am Telefon, oder in formalisierten schriftlichen Zusammenhängen, in denen wir gewissermaßen von außen auf uns zeigen. Unseren Vornamen führen nicht wir selbst im Mund, sondern der uns vertraute Andere, wenn er uns anspricht oder mit anderen über uns spricht. In der ersten Person Singular ist der Rufname nicht aussagbar. Denn er ist keine Selbstaussage, sondern eine Adresse.1 Wer einen Vornamen trägt, braucht, wenn er sich selbst ausspricht, den sprachlichen Stellvertreter, das Pro-nomen. Dieses Personalpronomen wiederum ist für jeden, der in erster Person redet, dasselbe: Ich. Jedes Ich braucht um seines Namens willen den anderen, und jeder andere ist ein Ich.
Selten sind wir selbst es, die unsere Vornamen nennen.
Folgt man soziologischen Analysen, ist es dieses Ich, das modernen westlichen Gesellschaften ihr typisches Gepräge gibt. Die Logik des Ich, die Selbstaussage der vielen einzelnen mittels Personalpronomen, ist zum Programm und Projekt einer ganzen Gesellschaft geworden. Ein erfolgreiches, unverwechselbares Ich ist man jedoch nicht einfach, man muss es täglich neu werden, man muss es gestalten, inszenieren und v.a. zeigen. Unverwechselbarkeit, die keiner sieht, zählt in der Generation Selfie nicht viel. Selbstvergewisserung geschieht durch digitalen Existenznachweis im sozialen Netzwerk, wenn die Selbstinszenierung im Foto, Video oder Microblog von den friends der online-Community gesehen, kommentiert, vor allem aber bestätigt (geliked) wird. Das reale Ich bleibt zwar die Instanz von Freude und Hoffnung, Leid und Schuld, Trauer und Angst. Seine Präsentation in der digitalen Welt jedoch lässt (nur) sehen, was sich sehen lassen kann. Sie zeigt (nur) das, was vorzeigbar ist. Doch die Grenzen zwischen dem leibhaftigen Menschen und seinem halbierten digitalen Doppelgänger verschwimmen zusehends – nicht nur für das mediale Gegenüber, sondern auch für das Original des digitalen Abbilds. Es kann seine Manipulation durch die Algorithmen des Informationskapitalismus nur noch mit Mühe wahrnehmen. In dieser Welt wird sichtbar gemacht, was von vielen gesehen, und zu lesen gegeben, was von vielen gedacht werden soll. Die Logik der digitalen Welt erfasst und steuert, was berechenbar ist; unvorhersehbar Individuelles ist darin nicht vorgesehen.2
Was zählt unsere Unverwechselbarkeit in der „Generation Selfie“?
Im angelsächsischen Sprachraum heißt der Rufname, sofern er nicht als „first name“ auf seine Position im Gefüge von Vor- und Zuname reduziert wird, bis in die Sphäre zivilstandsrechtlicher Formulare hinein „Christian name“. Die ursprünglich religiöse Codierung dieser immer noch üblichen Bezeichnung ist längst säkularisiert. Der Begriff dürfte Nichtchristen, die ihren Vornamen in amtliche Papiere eintragen, keine Schwierigkeiten bereiten. Aber er erinnert an einen wichtigen geistesgeschichtlichen Zusammenhang: Die Kirche tat sich mit den neuzeitlichen Errungenschaften der Autonomie und der Freiheitsrechte des Subjekts fraglos lange Zeit schwer. Die Moderne wurde zu einem guten Teil gegen die Beharrungskräfte und den Selbstbehauptungswillen des institutionalisierten Christentums erstritten. Jenseits dieser historischen Konfliktlinien ist die ideengeschichtliche Bedeutung des christlichen Glaubens für die Entdeckung der Personalität und Subjektivität des Menschen jedoch nicht zu verkennen. Das Christentum öffnete einen geistigen Raum zur Individualisierung des Menschen. Die dogmatischen Debatten des 4. und 5. Jahrhunderts brachten, obgleich aus christologischem und trinitätstheologischem Interesse, einen entscheidenden anthropologischen Durchbruch zur Bestimmung menschlicher Personalität. Eine der ersten und wichtigsten umfassenden Autobiographien, die zu Papier gebracht wurden, entstand in einem dezidiert christlichen Kontext. Augustinus bekundet in seinen Confessiones (um 400 n. Chr.) die Erfahrung, durch Gottes Gnade im Innersten seiner selbst – inferior intimo meo et superior summo meo (Conf III,6) – zu sich selbst befreit worden zu sein. Die christliche Taufe, auf die der englische Begriff für den Vornamen zurückgeht, stiftet Identität durch religiöse Namengebung. Das Ich findet in der sakramental besiegelten Beziehung zum Gott Jesu Christi, der es individuell beim Namen ruft und die Toten zum Leben erweckt, Grund und Dauer – im Leben und über den Tod hinaus.
Der Vorname – im angelsächsischen Sprachraum „Christian name“
Solche explizit religiösen Codierungen der eigenen Identität erscheinen vielen Zeitgenossen unzugänglich, überholt oder einfach vormodern. In der Tat lassen sich alle wesentlichen anthropologischen Dimensionen – Selbststand, Leiblichkeit, Geschichtlichkeit und Bezogenheit – auch rein säkular interpretieren und gestalten. Das belegen inzwischen mehrere Generationen Menschen im „areligiösen Halbmond“ Nord-, Mittel- und Osteuropas. Denen, die sich selbst nicht von Gott her und auf Gott hin begreifen und ihr Leben entsprechend nichtreligiös gestalten, fehlt subjektiv normalerweise nichts. Gläubige Menschen, v.a. diejenigen, die dazu noch Theologinnen oder Theologen sind, sollten sich hüten, ihnen einen existenziellen Mangel anzutragen, von dem sie selbst bisher nichts ahnten, oder ihren Sinnhorizont für defizitär zu erklären, was deren Selbstbeschreibung ebenfalls zuwider läuft. Einseitigkeiten und Disbalancen von Subjektivität und Intersubjektivität, körperlicher und seelischer Integrität, reeller Verwurzelung und digitaler Inszenierung verteilen sich nicht nach religiösem Bekenntnis. Ein areligiöses Selbstverständnis ist weder anfälliger noch resistenter gegenüber Sinnkrisen als ein religiöses.
Sich von Gott her begreifen – religiöse Erfahrung als Deutehorizont des Subjekts
Hüten sollte man sich allerdings auch davor, den religiösen Code menschlicher Identitätsbildung auf einen historischen Beitrag im Entdeckungszusammenhang des autonomen Subjekts neuzeitlicher Lesart zu reduzieren, der in der Moderne nun existenziell nicht mehr möglich oder nötig und theologisch nicht mehr statthaft wäre. Die umfassenden Säkularisierungsprozesse, die viele westliche Gesellschaften seit langem durchlaufen, führten und führen in der Tat dazu, dass eine religiöse Selbstbeschreibung des Ich im Vergleich zu früheren Zeiten und anderen Kulturen seltener und unwahrscheinlicher wird. Empirische Studien bestätigen diesen Befund, aller Beschwörung einer Wiederkehr des Religiösen zum Trotz. Zugleich eröffnet unsere Gegenwart eine unübersehbare Vielfalt von Möglichkeiten, Leben zu deuten und zu gestalten – darunter neben vielen anderen auch die Option, sich selbst von Gott her zu begreifen und Gottes Option für den Menschen zu ergreifen. Jedes Ich braucht um seines Namens willen den anderen. Religiöse Erfahrung bekundet Gott als diesen Anderen. Das religiöse Subjekt bezieht sich um seines Christian name willen auf Gott und bezeugt, dass Er es ist, der es, wie es bei Jesaja heißt, beim Namen gerufen hat (Jes 43,1). Auch diese Anrufung des eigenen Namens stiftet Identität und benennt Zugehörigkeit – eine Erfahrung, die sich wiederum nur um den Preis ihrer Halbierung in säkularen Kategorien ausdrücken lässt.
[1] Vgl. das Themenheft „EGO“ der Internationalen katholischen Zeitschrift Communio (4/2016).
[2] Vgl. Frank Schirrmacher, EGO. Das Spiel des Lebens, München ³2013.
Julia Knop, apl. Prof. Dr. theol., vertritt den Lehrstuhl für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt.
Bild: Thorben Wengert / pixelio.de