Wie sieht ein bekenntnisunabhängiger religionsbezogener Unterricht in kirchlicher Verantwortung aus? Kuno Schmid über die geglückte Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Staat bei der Umsetzung des neuen Lehrplans an der öffentlichen Schule im Kanton St.Gallen.
Im Schweizer Kanton St.Gallen wird sowohl in der öffentlichen Schule als auch in dem von den Kirchen verantworteten Unterricht seit Sommer 2017 nach dem neuen «Lehrplan 21» unterrichtet. Neben dem klassischen, kirchlichen Religionsunterricht beteiligen sich das Bistum St.Gallen und die Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St.Gallen an der Umsetzung eines bekenntnisunabhängigen religionsbezogenen Schulfachs. Das Konzept ist ein Beispiel dafür, wie auf der Grundlage einer offenen Kooperation zwischen den beiden Konfessionen und dem Staat mit den Herausforderungen der Gegenwart konstruktiv umgegangen werden kann.
Lehrplan 21: Ethik, Religionen, Gemeinschaft
Das Bildungswesen gehört in der Schweiz in die hoheitliche Zuständigkeit der Kantone. Deshalb gab es bisher innerhalb der Schweiz 26 unterschiedliche Lehrpläne für die Volksschule. Die Westschweizer Kantone erliessen 2011 erstmals einen gemeinsamen Lehrplan für die französischsprachigen Landesteile. 2014 einigte sich die Konferenz der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren ebenfalls auf einen gemeinsamen Lehrplan. Dieser sogenannte Lehrplan 21 hatte primär die Funktion, die Lehrpläne der 21 Kantone mit deutschsprachiger Bevölkerung zu harmonisieren.[1] Die Lehrplanrevision versuchte zugleich neue pädagogische und gesellschaftliche Entwicklungen ernst zu nehmen und in den Lehrplan zu integrieren. Eine solche Entwicklung wurde im Wandel des Faches «Biblische Geschichte und Lebenskunde» zum neuen Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG) sichtbar.
Harmonisierung der Lehrpläne durch die Kantone
Das quasi zivilreligiöse Fach «Biblische Geschichte und Lebenskunde» in staatlicher Verantwortung wurde in den meisten Kantonen im 19. Jahrhundert eingeführt und galt in manchen reformiert geprägten Kantonen gleichzeitig als Grundbildung im evangelisch-reformierten Glauben. Aufgrund der zunehmenden kulturellen und religiösen Pluralisierung wurde das biblische Fach vielerorts an die neuen gesellschaftlichen Anforderungen angepasst. Im Kanton Zürich entstand daraus das bekenntnisunabhängige Fach «Religion und Kultur», in der Zentralschweiz das Fach «Ethik und Religionen» oder im Kanton Bern der Fachbereich «Religion-Mensch-Ethik». Bekenntnisunabhängig bedeutet, dass ein religiöses Bekenntnis im Unterricht weder vorausgesetzt noch angestrebt wird.
bekenntnisunabhängiges Fach „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ (ERG)
Diese neu erprobten Modelle wurden im Lehrplan 21 als Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG) zusammengefasst und in die Bereichsdidaktik von «Natur, Mensch, Gesellschaft» (Sachunterricht) integriert. In den meisten Kantonen haben zudem die Kirchen die Möglichkeit, kirchlichen Religionsunterricht in der Schule anzubieten. Die Schulen stellen dazu Räume und Stundenplanplätze (meist als Randstunden) zur Verfügung. Für die Ausbildung, Beauftragung und Besoldung des Lehrpersonals sowie für die Ausgestaltung des kirchlichen Religionsunterrichts sind die Kirchen allein zuständig. Vielerorts verantworten sie den Religionsunterricht ökumenisch.
kompetenzorientiert
Der neue Lehrplan 21 ist kompetenzorientiert strukturiert. Er legt nicht mehr primär fest, welcher Stoff in welchem Jahr behandelt werden muss. Vielmehr sind Kompetenzerwartungen formuliert, welche die Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit erfüllen sollen. Auch in ERG wird überlegt, in welchen lebensweltlichen Anforderungssituationen ethisches oder religionsbezogenes Wissen und entsprechende Fähigkeiten hilfreich sind und wie entsprechende Kompetenzen aufgebaut werden können.
„Ethik, Religionen, Gemeinschaft“ als Wahlpflichtfach in St.Gallen
Im Unterschied zur Mehrheit der Schweizer Kantone gab es im Kanton St.Gallen bisher keinen ethisch-religionsbezogenen Unterricht in staatlicher Verantwortung. Die Schule stellte jedoch den Kirchen für solchen Unterricht Schulräume und Stundenplanplätze zur Verfügung und kooperierte mit ihnen. Diese Kooperation ist im Schulgesetz verankert. Das Bistum St.Gallen und die Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St.Gallen boten schon bisher in ökumenischer Zusammenarbeit eine Wochenlektion «Interkonfessionellen Unterricht» für alle Schülerinnen und Schüler sowie eine weitere Wochenlektion ökumenischen oder konfessionellen Religionsunterricht für die Angehörigen der beiden Konfessionen an.
Beteiligung der Kirchen und Gewährleistung eines unabhängigen ERG-Unterrichts
Für die Umsetzung des Lehrplans 21, insbesondere des Fachbereichs ERG, suchte die Regierung des Kantons St.Gallen deshalb wiederum die gesetzlich gebotene Kooperation mit den Kirchen. Neben grundsätzlichen, rechtlichen Überlegungen wollte die Regierung damit auch vermeiden, dass der Staat die Kosten für die bisher von den Kirchen finanzierte allgemeine ethisch-religionsbezogene Bildung allein übernehmen musste. Es wurden verschiedene Modelle evaluiert und kontrovers diskutiert, die sowohl eine Beteiligung der Kirchen als auch die Gewährleistung eines unabhängigen ERG-Unterrichts ermöglichten.
Wahlpflichtfach „ERG-Schule“ oder „ERG-Kirchen“
Schliesslich entschied sich die Regierung für folgende Lösung: ERG wird von Klasse 3 bis 9 als eigenes Fach mit 1 Wochenlektion in der Stundentafel des obligatorischen Unterrichts aufgeführt und als Wahlpflichtfach «ERG-Schule» oder «ERG-Kirchen» umgesetzt. «ERG-Schule» wird von einer Klassenlehrperson unterrichtet und vom Staat entlöhnt; «ERG-Kirchen» wird von einer Lehrperson mit kirchlicher Unterrichtsberechtigung erteilt und durch die Kirchen finanziert. Beide Wahlpflichtfächer sind offen für alle Schülerinnen und Schüler und in gleicher Weise auf die Umsetzung der Lehrplanziele und Rahmenbedingungen des Lehrplans 21 verpflichtet. Zusätzlich bleibt eine Wochenlektion kirchlicher Religionsunterricht (RU) von Klasse 1 bis 6 (in Klasse 2 zwei Lektionen) als freiwilliges Angebot und finanziert durch die Kirchen im Stundenplan.
Die Kirchen und „Ethik, Religionen, Gemeinschaft“
Die Kirchen sind damit herausgefordert, einen bekenntnisunabhängigen Unterricht für alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit mitzutragen und zu gestalten. Sie haben dazu einen entsprechenden «kirchlichen Lehrplan» im Sinne eines Umsetzungskonzepts entwickelt.[2] Dieses Umsetzungskonzept zum Lehrplan 21 will den kirchlichen Lehrpersonen zeigen, wie sie den Unterricht unter Wahrung der Religionsfreiheit der Lernenden und unter Respektierung der konfessionellen Neutralität der Schule gestalten können.
religiös-ethische Bildung als Beitrag zu einer umfassenden Allgemeinbildung
Die beiden Kirchen verstehen schon bisher religiös-ethische Bildung nicht nur als innerkirchliche Aufgabe, sondern auch als Beitrag zu einer umfassenden Allgemeinbildung im Rahmen des staatlichen Schulsystems. Mit ERG-Kirchen wird in St.Gallen eine Forderung des Bildungsforums des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes und ebenso der Römisch-katholischen Bildungskongregation umgesetzt, die mit theologischer Begründung verlangen, dass sich die Kirchen nicht nur für Unterweisung und Katechese, sondern ebenso für die Förderung der interkulturellen und interreligiösen Dialogfähigkeit aller Kinder und Jugendlichen engagieren sollen.[3]
offen, nichtdiskriminierend, unparteilich
Die Kirchen verpflichten sich, das Fach ERG offen, nichtdiskriminierend und unparteilich zu gestalten. «Das heisst nicht, dass kirchliche Lehrpersonen ihre christliche Sicht nicht einbringen oder offenlegen dürfen. Sie ist aber darzustellen im Kontext anderer Überzeugungen, die ebenfalls zur Sprache kommen sollen. Kirchliche ERG-Lehrpersonen machen sich auf diese Weise selbst zu Anwälten der Religionsfreiheit. Sie gestalten den Unterricht so, dass Schüler und Schülerinnen ihre eigenen Überzeugungen einbringen und klären können (sofern sie die Grundrechte und die anderen Kinder nicht verletzen) und dass auch über religiöse Motivationen, Bekenntnisse und Spiritualität gesprochen wird; gleichzeitig achten sie darauf, dass keine Schülerin und kein Schüler verpflichtet wird, sich an einem religiösen Bekenntnis oder einer religiösen Praxis beteiligen zu müssen. Von allen kann jedoch verlangt werden, dass sie die Unterrichtsgegenstände sachgerecht verstehen und nachvollziehbar erklären können und die Zielsetzungen im Kompetenzaufbau erreichen.»[4] Mit einer Didaktik des Perspektivenwechsels sollen die Schülerinnen und Schüler sowohl sachkundliche als auch unterschiedliche religiöse, insbesondere christliche Perspektiven zu unterrichtlichen Fragestellungen kennen lernen.[5]
Kompetenzen im parallel angelegten ökumenischen Religionsunterricht
Der parallel zum Wahlpflichtfach angelegte ökumenische Religionsunterricht orientiert sich ebenfalls an den Kompetenzen des schulischen Lehrplans. Die Lehrplan-Kompetenz 12.1 lautet beispielsweise «Die Schülerinnen und Schüler können religiöse Spuren in Umgebung und Alltag erkennen und erschliessen.» In der vierten Klasse wird im ERG-Unterricht an dieser Kompetenz gearbeitet unter dem Titel «Religiöse Gebäude von Glaubensgemeinschaften kennen lernen». Im ökumenischen Religionsunterricht wird dieselbe Kompetenz aufgebaut am Thema «Kirche als Gemeinschaft erkunden und dokumentieren». Der Religionsunterricht knüpft daran an, dass die Schülerinnen und Schüler die Kirche als Gebäude im ERG-Unterricht kennen lernen. Über die Kirche als Ort gelebter Religiosität hinaus vertieft der Religionsunterricht den christlich-theologisch Aspekt der Kirche als Gemeinschaft. Die Schülerinnen und Schüler erkunden die vielfältigen Formen ihrer Pfarrei und ihrer Kirchgemeinden, lernen die Ämter und Dienste in konfessioneller Verschiedenheit kennen und begegnen Menschen, die sich in den Kirchen engagieren. Mit diesem Unterricht lernen die Schülerinnen und Schüler «religiöse Spuren zu erschliessen» und werden deshalb im Kompetenzbereich 12.1 gefördert.
Herausforderung: Personal
Durch das Engagement in beiden Fächern, im Wahlpflichtfach ERG-Kirchen und im ökumenischen Religionsunterricht, leisten die Kirchen einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der im Lehrplan 21 formulierten Bildungsziele der Volksschule. Die Schule profitiert vom fachlichen Personal der Kirchen und gewährt umgekehrt den Kirchen einen verbindlichen Platz im Schulbetrieb. Eine Herausforderung bleibt es, für diesen schulischen Unterricht genügend kirchliches Personal zu finden, das über die katechetische Ausbildung hinaus ausreichende fachliche und pädagogische Kompetenzen mitbringt.
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Kuno Schmid, Professor der PH Solothurn FHNW, bis 2017 Dozent für schulischen Religionsunterricht am Religionspädagogischen Institut der Theologischen Fakultät, Universität Luzern.
Bild: Claudia Hautumm / pixelio.de
[1] Vgl. Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (Hrsg.): Lehrplan 21, Luzern 2014, www.lehrplan.ch (31. 10. 2017).
[2] Vgl. Bistum St.Gallen / Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St.Gallen (Hrsg.): Kirchlicher Lehrplan für das Wahlpflichtfach Ethik, Religionen, Gemeinschaft – Kirchen und den Religionsunterricht im Kanton St.Gallen, www.erg-ru.ch (31.10.2017).
[3] Vgl. Bildungsforum des Schweiz. Evangelischen Kirchenbundes: Thesen zum Religionsunterricht, o.O. 2015, S. 1.; vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen: Erziehung zum interkulturellen Dialog an katholischen Schulen, Vatikan 2013.
[4] Kirchlicher Lehrplan für das Wahlpflichtfach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (vgl. oben Anm. 2), Grundlagen-Gesamtdokument, S. 6.
[5] Vgl. Schmid, Kuno: Stichwort Perspektivenwechsel. Aspekte einer Didaktik des Perspektivenwechsels im Fachbereich ERG, in: erg.ch – Materialien zum Fach Ethik, Religionen, Gemeinschaft (Online-Publikation 2016), www.ethik-religionen-gemeinschaft.ch/schmid-stichwort-perspektivenwechsel (31.10.2017)