Am 1. Juli 1976 starb im unterfränkischen Klingenberg die Pädagogikstudentin Anneliese Michel an den Folgen extremer Unterernährung. Zwei katholische Priester hatten viele Male den großen Exorzismus an ihr vollzogen, geholfen hatten sie ihr nicht. Hans-Joachim Sander zur theologische Bedeutung dieses tragischen Todes.
Ohne Teufel lebt sich’s besser. Das ist eine einfache Wahrheit, vielfach bewährt und weit verbreitet. Ein normaler Mensch will nichts mit Teufeln zu tun haben und eine moderne Kultur wie unsere verbannt den Teufel deshalb aus ihren Selbstverständlichkeiten. Wer mit dem Teufel daher kommt, darf nicht mit Akzeptanz rechnen. Man erntet mindestens rollende Augen, meistens aber eine Mischung aus Unverständnis und Empörung. Mit dem Teufel darf man nicht auftreten; schließlich gibt es ihn nicht. Das ist richtig und das ist auch gut so.
Man male ihn also besser nicht an die Wand. Denn wer es mit dem Teufel zu tun bekommt, lebt sehr gefährlich. Hat man ihn am Hals, wird das Leben schwer davon umgetrieben – von „obsessio“ gepackt, dann von „circumsessio“ befallen, um schließlich in „possessio“ zu enden, um genau zu sein. Denn obwohl es den Teufel gar nicht gibt, existiert er. Und das ist leider kein Gegensatz und auch kein Widerspruch, sondern äußerst gefährlich.
Mit dem Leben bezahlt
Anneliese Michel, am 1. Juli 1976 mit noch nicht einmal 24 Jahren in Klingenberg am Untermain gestorben, hat dafür mit ihrem Leben bezahlt und das auch noch auf sehr brutale Weise. Hilfe wurde unterlassen von Eltern, Priestern, Familie, obwohl die junge Frau über quälende Wochen und Monate hin ständig weiter abmagerte und dabei dauernd körperliche Höchstleistungen vollbrachte, um sich dagegen zu wehren, was mit ihr bei den umtriebigen Praktiken geschah, die ihr den Teufel austreiben sollten. Mindestens ihre ganze engere Umgebung war so mit dem Teufel beschäftigt im Modus von Austreibungen, Gebeten und Sorgen, dass für Fürsorge nichts mehr übrig blieb.
Niemand nahm wahr, dass es den Teufel gar nicht gab, den die dauernden Exorzismen ständig an die Wand malten. Es reichte völlig aus, fest an ihn zu glauben, um seine Existenz so einzuräumen, dass sie dann eben auch in den Raum getreten ist. Und dieser Raum – buchstäblich im Kreis ihrer Familie und fortlaufend emsig kirchlich gesegnet – war für Anneliese Michel tödlich. Die Todesursache war natürlich etwas anderes als der Teufel, aber dessen Existenz war es, woher diese Ursache kam. Es ist auch nur dem Umstand zu verdanken, dass der Tod zunächst als ungeklärt festgestellt wurde, dass dieser Fall überhaupt an die Öffentlichkeit kam.
Niemand nahm wahr, dass es den Teufel gar nicht gab, den die dauernden Exorzismen ständig an die Wand malten.
Das ist noch so eine schwer verdauliche Wahrheit – die Herkunft ist beim Teufel unendlich viel wichtiger als seine Ursache. Wer sich auf die Ursache beschränkt, gelangt bestenfalls in Dualismen hinein oder verfällt esoterischen Kulten. Als reine Ursachenbekämpfung scheitert jeder Exorzismus, weil dann die Macht des Teufels ständig weiter aufgebaut wird, indem sie bekämpft wird. Denn diese Macht hängt vom Glauben an ihn ab. Da kommt sie her und je fester der Glaube, desto mehr Macht kommt auf.
Das ist daher auch das oberste Gebot des christlichen Widerstands gegen den Teufel: Von ihm muss man wissen, aber an ihn darf man eben nicht glauben. An Gott muss man glauben – und dabei kann das Wissen um den Teufel durchaus helfen. Daher beginnt die christliche Existenz mit der Taufe, die dem Glauben an den Teufel entschieden widersagt und jenem Wissen um die Macht dieses Glaubens unzweideutig Raum gibt. Denn wer an den Teufel glaubt, verfällt unweigerlich seiner Macht und dagegen stemmt sich das Widersagungsritual der Taufe. Wer jenes Wissen und dieses Glauben dagegen verwechselt, erzeugt eine Lebensgefahr. Das ist Anneliese Michel geschehen und das war ihr Todesurteil.
Von Teufel muss man wissen, aber man darf nicht an ihn glauben.
Die Herkunft dieser Gefahr, die viel gefährlicher ist als jede mögliche Ursache, liegt genau dort, wo diejenigen, die an den Teufel glauben, ihn vermuten: in der Besessenheit. Hier muss man sehr genau sein, was die Angelegenheit ziemlich verkompliziert. Denn die einfachen Wahrheiten, die auf dem großen und ständig wachsenden Markt, auf dem der Teufel und seine Bekämpfung heutzutage nachgefragt werden, vorhanden sind und vertreten werden, erweisen sich lediglich als willfährige Pinsel in den Händen Besessener und als farbige Menetekel an der Wand, von der her des Teufels Existenz dann die anspringt, die von diesen Gemälden fasziniert sind.
Menschen, die vom Teufel besessen sind, sind also nicht einfach besessen. Dann hätte man es mit bloß psychischen Problemen zu tun. Die gibt es dabei durchaus, aber das ist nicht die Teufelsebene. Seine Ebene ist theologischer Natur und sie tritt auf einer zweiten Ebene über den psychischen Zusammenhängen auf. Menschen, die es mit dem Teufel zu tun haben, sind besessen davon, besessen zu sein. Diese Besessenheit kann psychologisch nur bedingt therapiert werden; sie lässt sich erst theologisch bekämpfen. Sie bringt einen außerordentlichen Distinktionsgewinn mit sich, der ohne Theologie kaum zu relativieren ist.
Das Phänomen, vor das Teufel und Exorzismen daher stellen, ist eine theologische Macht. Es handelt sich einerseits um Menschen, die besessen davon sind, dass sie besessen sind, und zugleich andererseits um Menschen, die davon besessen sind, dass andere besessen sind. Wenn diese beiden Gruppen sich treffen, also Leute, die davon besessen sind, dass andere besessen sind, an Menschen geraten, die besessen sind, besessen zu sein, dann wird es sehr gefährlich fürs Leben.
Die doppelte Besessenheit von der Besessenheit kann Menschen töten – bei Anneliese Michel mit kirchlichem Segen und ohne dass die, die dafür verantwortlich sind, auch nur im Entferntesten wahrnahmen, dass ausgerechnet ihre Besessenheit von der Besessenheit die Macht erzeugte, die sie bekämpfen wollten. Sie wunderten sich bestenfalls, dass diese Macht in diesem Kampf ständig wuchs – was aber gerade die tödliche Rationalität dieser Macht ausmacht. Diese Rationalität geht aufs Extreme und stoppt noch nicht einmal dann, wenn extreme Verhältnisse erreicht sind. Schließlich saugt sie Kraft aus der Besessenheit, besessen zu sein, und lebt im Kampf gegen sie auf.
Das einzige, was in auf den Tod gefährlichen Lagen teuflischer Existenz hilft, ist das Vertreiben der Besessenheit, besessen zu sein.
Diese Rationalität des Extremen haben weder die Priester, die Anneliese Michel exorzierten sowie dieses Ritual erlaubten wie der damalige Würzburger Bischof Stangl, noch die Eltern der unglücklichen Frau und wahrscheinlich auch die junge Frau selbst nicht begriffen. Sie haben sich ihr freiwillig ausgeliefert, weil sie geglaubt haben, was sie geglaubt haben, und die Distinktionsgewinne einfahren wollten, die bei diesem Glauben lockten. Dabei sind sie in eine theologische Komplexität geraten, deren Fallen sie nicht gewachsen waren und von der sie noch nicht einmal der Tod der Frau befreit hat. Sie waren der sehr dynamischen Rationalität extremer Macht regelrecht verfallen, der man sich mit dem Glauben ausliefert, dass ein Teufel mit der Besessenheit einer solchen Frau zu vertreiben sei.
Das einzige, was in diesen auf den Tod gefährlichen Lagen teuflischer Existenz hilft, ist das Vertreiben der Besessenheit, besessen zu sein. Das ist auch die einzige Legitimation von Exorzismus, die hält, was sie verspricht. Sobald ein Exorzismus Distinktionsgewinne verheißt – und seien sie noch so klein –, dann scheitert er unausweichlich an der Macht, in deren Bann er dabei geraten ist. Er ist nur mit entschiedenem Willen zum Distinktionsverlust, also klarem Willen zur Relativierung, erfolgreich und heilvoll zu bewältigen.
Dafür ist aber eine hohe theologische Kompetenz nötig, mit der die wenigsten von denen gesegnet sind, die so gerne mit Exorzismen hantieren. Es liegt einfach viel näher, einem Glauben an Gottes Macht zu verfallen, der besessen davon ist, dass diese Macht göttliche Gegenmächte übertrumpfen würde. Es ist kompliziert, diese glaubenssichere Verfallenheit aus der Rede von Gott fern zu halten, weil man dann auf die Ebene gelangen muss, auf der die Versuchung zu begreifen ist, die von der Besessenheit von der Besessenheit ausgeht. Diese theologische Kompetenz war im ganzen Fall der Anneliese Michel nicht vorhanden und im dekadenten Zustand der damaligen Kirche obendrein hoch verdächtig. Das macht ihren unseligen Tod auch nach 40 Jahren so lehrreich für Theologie.
(Text: Hans-Joachim Sander; Photo: Lisa Spreckelmeyer; pixelio.de)