Zu Allerheiligen geht man an die Gräber. Dorothee Sölle wäre in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden. Hans-Jürgen Benedict stattet ihr einen Besuch ab. Er erinnert an eine mutige und prophetische Theologin.
Dorothee Sölle liegt auf dem Nienstedtener Friedhof in Hamburg begraben. Nah an der schönen Dorfkirche und nicht weit zur Elbe. Bei ihrer Beerdigung haben wir zum Schluss „Geh aus mein Herz“ gesungen. Es war für sie ein mystisches Lied. Aus sich heraus soll der Mensch gehen, in Gott hinein, nicht nur in den Garten oder die Natur: „Mach in mir deinem Geiste Raum, daß ich dir werd ein guter Baum und laß mich Wurzel treiben. Verleihe, daß zu deinem Ruhm, ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge bleiben.“
Sie brachte Gott und Mensch in ein Gedicht.
Zuletzt war ich an ihrem Grabe vor fünf Jahren, zusammen mit Fulbert Steffensky, ihren Kindern und Freunden. Da trug ich mein Gedicht auf Dorothee vor, das ich nach ihrem Tod 2003 in Aufnahme eines Gedichts von Matthias Claudius „Auf den Tod der Kaiserin“ verfasst hatte:
Sie brachte Gott und Mensch in ein Gedicht
War vieler Christen Trost und ihrer Liebsten Segen.
Und glaubte streitbar voller Zuversicht
Bis in den Tod ans endlich herrschaftsfreie Leben.
Du uns geschenktes schönes Licht,
Bist heimgekehrt zu Gott – mit aufgedecktem Angesicht.
Ich kannte Dorothee Sölle seit 1970. Wir waren befreundet. Dichtung, Musik und Politik waren die drei großen Interessen, die uns verbanden. Besonders schätzte ich ihr Buch Realisation, die Studien zum Verhältnis von Theologie und Literatur. Immer wieder muss ich an sie denken. Sie fehlt mir mit ihrem entschiedenen Zugriff auf aktuelle Fragen von Religion, Kirche und Gesellschaft. Was hätte Dorothee dazu gesagt?
Dorothee Sölle hat deutlicher als andere christliche Autorinnen die Vergänglichkeit des Menschen angenommen und vom ewigen Leben geschwiegen. Sie sah die problematische Mischung aus Unsterblichkeit und Auferstehung in der abendländischen Tradition, die auch jede ehrliche Pastorin und jeden ehrlichen Pastor heimsucht, wenn sie oder er am Grab nicht nur eines kirchlich Distanzierten sagen soll: Jesus Christus wird dich auferwecken am Jüngsten Tage.
Dorothee genügte es, dass Gott ewig ist… Hinter die Hoffnung auf ein individuelles Weiterleben setzte sie ein großes Fragezeichen.
Ist es nicht ehrlicher mit dem Ps 90 zu sagen: „Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder, denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist“? Dorothee genügte es, dass Gott ewig ist. „Lässt sich nicht eine Geborgenheit denken“, fragt sie in dem letzten Gespräch mit Fulbert, ihrem Mann, in Bad Boll, „die nicht in meiner Weiterexistenz liegt, wohl aber in Gottes Weiterexistenz? Ich in dir, du in mir, niemand kann uns scheiden – reicht das nicht?“
Ihr Streiten gegen den gestreckten Tod mitten im Leben, gegen den sozialen, kriegerischen, wirtschaftlichen, konsumistischen Tod, der sollte weitergehen. Den kreatürlichen Tod wollte sie akzeptieren. Hinter die Hoffnung auf ein individuelles Weiterleben setzte sie ein großes Fragezeichen. Mehr noch: Sie lehnte diese Hoffnung ab. „Darin bin ich immer jüdischer geworden“, bekannte sie.
Ihre Stimme: elegisch und sehnsuchtsvoll, kämpferisch und poetisch.
Wenn ich an Dorothee denke, denke ich an ihre immer leicht gebrochene Stimme, an ihre intensive Art zu sprechen, elegisch und sehnsuchtsvoll, kämpferisch und poetisch – von den Anfängen mit dem Politischen Nachtgebet in Köln über die Bibelarbeiten auf den Evangelischen Kirchentagen, ihre Reden auf Friedensdemonstrationen und die Rundfunk-Interviews. Sie war eine öffentliche Theologin, redete Klartext, machte sich angreifbar. Der Brecht-Satz „Die Wahrheit ist konkret“ war eine Lieblingsmaxime von ihr.
Sie stellte sich an die Seite der Leidenden und attackierte eine Kirche, die ihren faulen Frieden mit der Politik machte. Nach dem Schweigen von Theologie und Kirche über Auschwitz, das bis in die 60er Jahre reichte, war Dorothee Sölle die erste, die Auschwitz als Name für die Vernichtung der Juden Europas durch das Nazi-Regime in ihre theologische Argumentation aufnahm. Sie sprach in „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ (1965) von Jesus, der den abwesenden Gott vertritt.
Sie stellte sich an die Seite der Leidenden und attackierte eine Kirche, die ihren faulen Frieden mit der Politik machte.
„Dass Gott in der Welt beleidigt und gefoltert, verbrannt und vergast wurde und wird, das ist der Fels des christlichen Glaubens, dessen Hoffnung darauf geht, daß Gott zu seiner Identität komme.“ Sie beschloss ihr Buch mit dem Appell: „Als die Zeit erfüllt war, hatte Gott lange genug etwas für uns getan (…) Es ist nunmehr an der Zeit, etwas für Gott zu tun.“
In ihrem Buch „Leiden“ (1973) sah sie im Vietnamkrieg eine Fortführung der „Geschichte von Auschwitz: daß die Menschen es – wie damals – mit sehenden Augen nicht sahen und mit hörenden Ohren nicht hörten.“ (S. 62f.). Sie sah darin ein Beispiel schrecklicher politischer Apathie. „Am schlimmsten war die Reaktion in den Kirchen dort, wo wir Verbündete suchten. Als ich einmal Geld für ein Kinderkrankenhaus in Nordvietnam sammelte, bekam ich zu hören: Für die Kommunisten? Das fehlte noch!“
Manches, was sie sagte, war provozierend und überzogen.
Diese Überlagerung von Apathie mit Antikommunismus wiederholte in gewisser Weise, was während der Nazizeit die Haltung der Kirchen war. Dorothee Sölle war mutig, das zu kritisieren, bis hin zu ihrer Rede auf der Weltkirchenkonferenz 1983 in Vancouver, als sie zum Entsetzen der offiziellen EKD-Vertreter sagte: „Ich spreche zu ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt, einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten.“
Manches, was sie sagte, war provozierend und überzogen. Und trotzdem – was uns heute fehlt, zeigt ein Vergleich mit Margot Käßmann, die manchmal in Gefahr steht, Theologie auf populäre Lebenshilfe zu reduzieren, oder mit dem kühl intellektuellen Wolfgang Huber, der die Emotionen der Menschen nicht erreicht.
Ich bin vergänglich, Gott ist ewig.
Ich erinnere mich an Sölles Gedicht-Band „Loben ohne Lügen“ aus dem Jahr 2000. Darin ist der Ton gebrochener, nicht mehr so polemisch und kämpferisch. Erinnerungen an Verstorbene verbreiten auch Wehmut. Eine Abteilung der darin veröffentlichten Gedichte heißt „Zuzug von Freund Hain“, Gedichte geschrieben nach ihrer schweren Erkrankung im Jahr 1994, bei der sie Freund Hain gerade noch von der Schippe gesprungen ist.
Sie will sich anfreunden mit dem Tod: „Frieden machen mit diesem entfernt Verwandten und an das ewige Leben glauben, nicht meines/Aber dessen, bei dem er angestellt ist.“ Ich bin vergänglich, Gott ist ewig, über die Antwort des 90. Psalms geht Dorothee Sölle nicht hinaus. Ja, ein Messianismus für die Lösung der Fragen von Gerechtigkeit und Frieden nach ihrem Tod war ihr wichtig. Als einzelnes Leben will sie aber ein „Tropfen im Ozean“ werden, mit dem Tod den pas de deux tanzen, let it be sagen.
Am Anfang steht das Staunen: über Hausnummern, Sonnenaufgänge und Bergaufstiege.
In Sölles Theologie laufen zwei Linien parallel: die politische und die mystische. Ihr Hauptwerk „Mystik und Widerstand“ zeigt klar, dass ihre Theologie im Kern nicht auf den Appell, auf Ethik und politisches Handeln reduzierbar ist, obwohl sie mit Appellen bis zu ihrem Tode nicht sparte.
Am Anfang, schreibt sie, steht das Staunen – das Staunen ihres Sohnes, der vor einer Hausnummer stehend ausruft: „Mama, guck doch nur diese wundervolle Fünfhundertsiebenunddreißig“. Am Anfang stehen Sonnenaufgänge und Bergaufstiege, das Baden im Ozean, die Entdeckung der Welt, die uns jubeln lässt, ein „radikales Hineingerissensein“ (Abraham Heschel), die Fähigkeit der Verwunderung und die Selbstvergessenheit.
Sölle denkt einen Gott in Beziehung, einen Gott, der uns braucht.
Das Staunen ist eine Art Gott zu loben. Es enthält ein Innehalten, ein Verweilen. Die wirkliche Freude ist „ohne warum“, wie Meister Eckhart sagte. Wer das begreift, für den beginnt der zweite Pfad der mystischen Wanderung: der des Loslassens. „Geh aus dir heraus und verlass dich selbst.“ In der postindustriellen Welt ist dieses Loslassenkönnen vor allem auf die Abhängigkeit vom Konsumismus bezogen. Es ist ein Leerwerden, zu dem auch das Gottvermissen gehört, eine Erfahrung der dunklen Nacht. Die dritte Station ist die des Heilens und Widerstehens. Ihr Symbol ist der Regenbogen. Es geht um compassion und Gerechtigkeit.
Dorothee Sölle denkt sich einen Gott in Beziehung, einen Gott, der uns braucht. Und hier legt sie viel Gewicht auf die Kritik der dominierenden Ichsorge. Es ist die Sorge um das Ich, die unsere Beziehung zu Gott zerstört. Also weg von der ICH-AG, von der Firma, die den Menschen auf sich selbst konzentriert. Da wird es dann moralisch. Sie fordert ein Leerwerden in einer Welt der Überfülle, Loslassen des Konsums. Und trotzdem, es stimmt ja auch: „Der Prozess, in dem das Ich aufhört, Gott zu vergessen, ist derselbe, in dem es anfängt sich zu vergessen.“
Sie bleibt in Erinnerung als mutige Prophetin.
Vor allem bleibt sie in Erinnerung als mutige Prophetin: Nicht der Tod sondern das Töten, Morden und Ausbeuten ist abzuschaffen, sagt sie. So rief sie in den 80er Jahren zum Auszug aus der Atomsklaverei auf.
Ich erinnere an ihre Rede im Juni 1982 auf der Bonner Hofgartenwiese vor 300.000 Teilnehmenden: „Fühlt die eigene Stärke (…) unsere Füße berühren den Boden. Die alte Mutter Erde ist noch da. Noch ist sie nicht verkratert und Geröll und Asche geworden (…) Seht zum Himmel. Noch schützt uns die Ozonschicht, die wir brauchen: Noch ist der Himmel über uns. Fühlt die Stärke, die vom Himmel kommt.“
Fridays for Future – ihre Enkelin dabei zu wissen, hätte sie riesig gefreut.
Inzwischen ist auch diese stabile Ordnung der Mutter Erde gefährdet – der Klimawandel ist neben die atomare Bedrohung als endzeitliches Verhängnis gerückt. Unsere Kinder protestieren dagegen und gehen Fridays for Future auf die Straßen. Das hätte sie wahnsinnig gefreut, ihre Enkelin Charlotte dabei zu wissen.
Noch einmal mein Gedicht auf Dorothee:
Sie brachte Gott und Mensch in ein Gedicht
War vieler Christen Trost und ihrer Liebsten Segen.
Und glaubte streitbar voller Zuversicht
Bis in den Tod ans endlich herrschaftsfreie Leben
Dorothee Sölles unermüdliches Gott denken und den Menschen an seine Gottesbedürftigkeit erinnern, brachten Gott und Welt in ein Gedicht. So waren ihre Texte und Gedichte spirituelle Nahrung für viele. Ihre so zärtlich (an)klagende und entschiedene Stimme ist verstummt, aber wir dichten weiter im wörtlichen und übertragenen Sinne. Wir sind, wie sie sagte, alle Mystiker, ich ergänze: wir sind alle Theopoetinnen. „Denn das Christentum setzt voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können.“ Oder anders gesagt: starke Wünsche haben. Mögen diese Wünsche uns weiter beflügeln. Zum Schluss ihr wunderbarer Vers:
Du hast mich geträumt Gott
Wie ich den aufrechten Gang übe/ Und niederknien lerne
Schöner als ich jetzt bin/ Glücklicher als ich mich traue
Freier als bei uns erlaubt.
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*** Morgen erscheint bei feinschwarz.net ein Grabbesuch bei Hegel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.***
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Hans-Jürgen Benedict lehrte als Professor an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg.
Bild: © Frank Schumann
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