Maike Neumann erzählt, welch vielfältige Erfahrungen sie in der Zeit des Lockdowns mit digitalen Gottesdiensten gemacht hat. Es zeigt sich: das Spektrum an unterschiedlichen Formen gottesdienstlicher Beteiligung wurde noch gesteigert und in ein neues Licht gerückt.
Wenn du auf die letzten zwei Monate Streaminggottesdienste zurückschaust, was waren die größten Herausforderungen für dich in Bezug auf den Gottesdienst, und was die interessantesten Erkenntnisse?
In einer annähernd leeren Kirche Gottesdienst zu feiern und sich die Gemeinde hinter der Kamera vorzustellen zu müssen, war komisch. Ich habe die physische Gemeinschaft vermisst, das miteinander Singen und Beten. Hinzu kam am Anfang das Gefühl, dass wir viele Ältere durch die digitale Form abhängen könnten. Das hat sich aber nicht bewahrheitet, viele Hochaltrige waren digital fitter, als wir dachten.
Rückmeldungen werfen ein neues Licht auf den „Präsenzgottesdienst“.
Interessant waren für uns – neben der hohen Anzahl der Streamenden – ihre Zusammensetzung und die große Bereitschaft der Menschen, sich digital am Gottesdienst zu beteiligen. Die Rückmeldungen, was Menschen an dieser Form besonders gut fanden, wirft für uns ein neues Licht auf den „Präsenzgottesdienst“. Einfach nur „Back to normal“ geht jetzt nicht.
Eine schöne Herausforderung war auch, dass wir als Kolleg*innen durch die Reduktion der Sonntagsgottesdienste – auf einen gestreamten Gottesdienst statt Gottesdienst an drei oder vier Orten – die Gottesdienste gemeinsam und damit dialogischer als sonst gestalten konnten, damit sie dem Medium gerechter wurden.
Einfach nur „Back to normal“ geht jetzt nicht.
Mitte März waren Gottesdienste mit Präsenz im Kirchenraum plötzlich nicht mehr möglich. Wie seid ihr an digitale Angebote herangegangen?
Wir haben aufgrund der Dringlichkeit im Presbyterium ohne langes Überlegen entschieden, Gottesdienste live zu streamen und dafür auch Geld in die Hand zu nehmen. Das war nur möglich, weil ein Gemeindeglied seine Expertise und seine technische Ausrüstung zugesagt hat. Zunächst hatten wir nur den Sonntagsgottesdienst im Blick. Den Livestream haben wir von Anfang an mit einem Chat versehen, so dass die Menschen vor, während und nach dem Gottesdienst miteinander in Kontakt treten konnten. Eingehende Fragen haben wir nach dem Gottesdienst im Stream für alle beantwortet.
Wie hat sich euer Angebot über die Wochen weiter entwickelt?
Wir waren über die Zugriffszahlen überrascht, die mit stabil über 1.100 Zuschauern um ein Vielfaches höher lagen als der Präsenzbesuch am Sonntagmorgen. Die Rückmeldungen, die aus allen Altersgruppen kamen, waren durchweg positiv, manche auch mit Vorschlägen, was wir noch ergänzen könnten. So haben wir z.B. aufgrund vieler Rückmeldungen alle Liedtexte mit eingeblendet, so dass man mit den Solist*innen mitsingen konnte. Wir hatten eigentlich gedacht, dass keiner Lust hat am Computer oder Handy mitzusingen. Wir haben nach und nach dazu gelernt, auch dank der Anregungen.
Auch am Handy oder Computer wollen die Leute mitsingen.
Nach dem Kaltstart haben sich weitere Formate entwickelt. Wir haben neben musikalischen Beiträgen in Interviews die Mitarbeitenden vorgestellt und sie konnten erzählen, wie ihre Arbeit jetzt unter Coronabedingungen weiter läuft. Mit den Anfang März neugewählten Presbyter*innen haben wir kurze Videospot erstellt, in denen sie etwas zu ihrem Start ins Amt gesagt haben. Für Homepage und Facebookseite wurden Videos mit Ostergrüßen von verschiedenen Menschen aus der Gemeinde gedreht. Wir haben nach und nach unser digitales Angebot erweitert und uns mit Nachbargemeinden digital so verlinkt, dass Sachen, die dort erstellt wurden, direkt auch für unsere Leute verfügbar waren. So sind wir auch in der Region kirchlich mehr zusammengewachsen.
Wie waren die Rückmeldungen? Was möchten die Menschen gern beibehalten? Was hat gefehlt?
Aus allen Altersgruppen kommt die Bitte, dass wir weiter streamen sollen. Altersübergreifend sagen Menschen, es sei schön, am Sonntagmorgen nicht angezogen und fertig sein zu müssen, sondern mit einem Kaffeebecher und „Schlabberlook“ gemütlich im eigenen Sofa sitzen zu bleiben, mal dabei zwischendurch mit dem Partner*in reden zu können und so den Gemeindegottesdienst mitzufeiern. Oder eben auch beim Joggen oder unterwegs beim Ausflug eine Pause mit Gottesdienst zu machen.
Jüngere Familien begründen ihren Wunsch darüber hinaus damit, dass sie so neben Familiengottesdiensten auch mal eine Predigt hören könnten, während die Kinder zuhause um sie herum spielen. Die Eltern mit Jugendlichen sagen, dass sie so beim Frühstücken streamen könnten und das eine Form von Gottesdienstbesuch sei, die alle ok fänden.
Kranke Menschen und Senior*innen, auch jene die regelmäßig im „Präsenzgottesdienst“ sind, bitten um diese Form, weil sie so auch dann dabei sein könnten, wenn sie sich zu schwach zum Kommen fühlten.
Es geht um digital und lokal!
Neben Fernsehgottesdiensten gibt es schon länger gute digitale Angebote. In den Rückmeldungen wurde aber deutlich, dass es um digital und lokal geht. Die Menschen wollen ihre Gemeinde, vertraute Orte, vertraute Personen sehen – selbst jene, die vermeintlich gar nicht zu den Hochverbundenen zählen.
Rückmeldungen bekamen wir auch von Menschen, die weggezogen sind. Sie teilten uns mit, dass es schön sei, so mal wieder einen Gottesdienst in der alten Heimat besuchen zu können. Unsere Partnergemeinde in Namibia war glücklich, dass diese Form auch Ihnen ermöglichte mal bei uns vorbeizusehen und fände es schön, wenn das so bliebe.
Die Partnergemeinde in Namibia war mit dabei.
Manche haben geäußert, dass sie sehr froh über das Angebot des Streaminggottesdienstes sind, ihnen aber schon die persönliche Begegnung und das gemeinsame Singen fehlt.
Beteiligung im digitalen Gottesdienst bedeutet für die Menschen offenbar sehr unterschiedliches. Was meinst du: Warum fällt es vielen leichter, digital aktiv Beiträge zum Gottesdienst zu geben?
Egal welche Form der Beteiligung wir beim Streamen ermöglicht haben, immer war die Beteiligung hoch. Zum einen hat das offenbar damit zu tun, dass die Hemmschwelle digital niedriger ist. Ich muss nicht nach vorne an ein Mikrofon, ich muss nicht sichtbar werden und kann mich dennoch beteiligen. Das ging z.B. über den Chat, mit Klarnamen oder Nickname. Dort konnte man Fürbitten und Fürbittanliegen schreiben oder Thematisches mit anderen diskutieren – wir haben auch in Predigten an einigen Stellen dazu aufgefordert. Davon wurde reichlich Gebrauch gemacht. Menschen, die sonntags nach dem Gottesdienst trotz Kirchencafé nie miteinander diskutieren, kamen so generationsübergreifend ins Gespräch.
Niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeit im Chat – Fürbitten, Fragen, Gespräche
Niedrigschwelliger ist offensichtlich auch die Form des Videos, die wir zu Themen vorab erbeten haben. Wer sich so beteiligen möchte, kann sein Video so oft aufnehmen, bis er es gut findet und stellt es erst dann zur Verfügung.
Zum anderen gibt es digitale Beteiligungsmöglichkeiten, die sich im Präsenzgottesdienst so nicht eröffnen. So haben wir z.B. in einem Gottesdienst zu Psalm 104 Naturaufnahmen erbeten, die wir dann im Streaminggottesdienst zwischen den Psalmversen eingeblendet haben. Viele Menschen haben uns persönliche Aufnahmen geschickt und sich so vorab mit dem Psalm beschäftigt.
… und mit Bild- oder Videobeiträgen.
Unser Fazit nach den Streaminggottesdiensten ist eindeutig. Auch wenn wir uns immer um Beteiligungsformen im „Präsenzgottesdienst“ bemühen, ist das digital breiter möglich und für viele Menschen offensichtlich eine niedrigschwelligere Form.
Und auf der anderen Seite: Wie schaust du auf die Menschen, die im Schlafanzug auf der Couch und nebenbei am Gottesdienst teilnehmen wollen?
Ich freue mich, dass so viele Menschen den Gottesdienst gestreamt haben, gerade auch in den Altersgruppen, die im Sonntagsgottesdienst weniger vertreten sind. Daran wird ein Bedürfnis und Interesse deutlich und das nehme ich positiv wahr und ernst. Die Bandbreite im Rezeptionsverhalten ist dabei auch im Schlafanzug mit Kaffeebecher in der Hand sicherlich groß, von bewusst Gottesdienst feiern bis nebenbei mitlaufen lassen.
Gottesdienst „nebenher“ ist oft mehr Gottesdienst, als es vorher gab.
Aber auch wer den Gottesdienst nebenbei mitlaufen lässt, weil sie uns z.B auf den Familienfrühstückstisch dazu gestellt haben, nimmt an dem Morgen immer noch mehr Geistliches für sich mit, als an den Sonntagen, wo die Familie gefrühstückt hat und nicht in den Gottesdienst gegangen ist. Von daher glaube ich nicht, dass es für die Debatte hilfreich ist, das gegeneinander zu stellen und zu bewerten.
Mit welchen Fragen geht ihr in die Zukunft?
Wir nehmen eine ganze Menge offener Fragen mit. Die persönlich leibhaftige Begegnung im Gottesdienst ist uns wichtig. Aber wir haben gemerkt, dass viele Menschen lieber zuhause privat gemütlich mitfeiern möchten, als im öffentlichen Gottesdienst bestimmten Konventionen zu unterliegen. Braucht die Ortsgemeinde die leibhaftige Begegnung oder hat sich das Gemeinschaftsverständnis vieler Menschen verändert und sie erleben auch die digitale für sich als vollwertige Gemeinschaft? Ging der Kontakt im Netz so gut, weil es um eine kurzfristige Überbrückung ging oder trüge dies auch langfristig?
Hat sich das Gemeinschaftsverständnis vieler Menschen verändert?
Und wir fragen uns: Schwächt das Streamen den „Präsenzgottesdienst“, weil (noch) mehr Menschen zuhause bleiben? Wenn wir aber sagen: Gottes Wort soll so verkündigt werden, dass viele erreicht werden, muss man dann nicht doch diese starke Konkurrenz oder besser Alternative zum „Präsenzgottesdienst“ in der Ortsgemeinde wagen? Weil Dinge sich eben verändern.
Sind hybride Gottesdienste eine Lösung oder ist es für die Qualität der jeweiligen Formen besser, sie weiterhin zu trennen? All diese Fragen berühren den Kern unseres theologischen Gottesdienst – und Gemeinschaftsverständnisses.
Schwächung des „Präsenzgottesdienstes“ vermeiden oder Konkurrenz wagen – weil Dinge sich verändern?
Und zuletzt: Befördert das Digitale häusliche Spiritualität? Gelebte Religiösität findet oft nur dann Ausdruck, wenn Eltern mit Kindern in die Kirche gehen oder ihr Kind zum Schulgottesdienst schicken. Wenn durch das Streaming zusätzlich wieder zuhause gesungen und gebetet wird, eine neue häusliche Spiritualität wächst, wäre das ein Gewinn.
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Dr. Maike Neumann ist Pfarrerin in Kaarst und wurde mit einer Arbeit über die historische und theologische Entwicklung des Buß- und Bettags und seine gegenwärtigen Herausforderungen promoviert.
Bilder: Mitglieder der Ev. Kirchengemeinde in Kaarst
Interview: Dr. Kerstin Menzel, Leipzig