Das Leben in Israel wird seit den Terroranschlägen der Hamas für alle Menschen bedrängend. Gabriela Zinkl lebt als Ordensschwester in Jerusalem und lernt mit dem Geräusch von Detonationen zu beten.
Schon wieder ist alles rot. Rot ist die Farbe der Warnmeldungen der Raketen-App, die hier in Israel momentan jede und jeder auf dem Handy hat. Seit dem 7. Oktober, dem Tag des Massakers der Hamas aus dem Gaza-Streifen in Israel, ist kein Tag und keine Nacht ohne neuen Alarm vergangen, manchmal stündlich, manchmal im Minutentakt. Selbst hier in Jerusalem, 80 Kilometer von Gaza entfernt, hören wir immer wieder das Dröhnen der Kampfflugzeuge und heftige Detonationen des israelischen Raketenabwehrsystems. Bei uns im Kloster vergeht so gut wie keine Gebetszeit und kein Gottesdienst ohne diesen harten Klang des Krieges. Bei jedem Alarm stelle ich mir vor, wie jemand gerade voller Hass eine Rakete abgefeuert hat, nur damit auf der anderen Seite kurze Zeit später Menschen um ihr Leben bangen müssen.
Angst – wie klebrige Soße
So fühlt er sich an, der Krieg, hier im Nahen Osten wie an all den anderen derzeit über 30 Kriegsschauplätzen in der ganzen Welt: grausam, menschenverachtend, dreckig, bluttriefend, mit unzähligen namenlosen Toten und mit jeder Menge Angst. Diese furchtbare Angst ist es, die alles wie mit einer dunklen klebrigen Soße überzieht. Von einem Augenblick zum anderen dominieren der Krieg und seine düstere Gefährtin dein Leben, dein Denken, deine Gefühle, deine Vokabeln – ob du es willst oder nicht. Wenn es schöne und weniger schöne Wörter gibt, dann ist das Wort „Krieg“ für mich eindeutig eines der ganz hässlichen. Obwohl ich normalerweise jede Art von Kriegsrhetorik vermeide, gibt es in diesen Tagen kein Entrinnen davor, denn um mich herum ist der Kriegszustand ausgerufen. Der Krieg versetzt das ganze Land – das wir Christen:innen sogar „Heiliges Land“ nennen – und alle seine Bewohner:innen, egal auf welcher Seite sie stehen, in Terror und Schrecken.
Im entscheidenden Moment
der persönlichen Konfrontation
Krieg ist der schlimmste Ernstfall des Glaubens. Die furchtbaren Ereignisse, Bilder und Nachrichten kann man sich nicht einfach weg- oder schönbeten, selbst wenn man in relativ sicherer Distanz zum Bomben- und Kugelhagel aus Gaza in einem Kloster in Jerusalem lebt. Wie soll man beten in Zeiten des Krieges? Wer kann überhaupt noch beten im Angesicht derartiger menschlicher Abgründe und Gräueltaten, die einen viel leichter den Glauben verlieren lassen als auf ihn zu vertrauen? – Die Theologie thematisiert diese Fragen unter dem Stichwort Theodizee. Doch im entscheidenden Moment der persönlichen Konfrontation mit dem Leid helfen all die sorgfältig durchdachten Abhandlungen herzlich wenig. Denn genau dann, wenn jemand plötzlich durch die Diagnose einer unheilbaren Krankheit, durch Tod, Krieg oder andere Katastrophen aus der Bahn geworfen wird, ruft er oder sie vergebens nach Gottes Erbarmen.
Die große Stille
Wer kann, flüchtet sich in Klagen, Jammern, Schreien, Flehen oder Bitten, und steht damit in bester biblischer Tradition. Viele der alttestamentlichen Psalmen spiegeln genau diese Situation wider, sind sie doch in eben solchen existentiellen Krisen entstanden. Auch mir geben die Psalmen und Gesänge des gemeinsamen Stundengebets in diesen Tagen etwas, woran ich mich festhalten kann – während die Welt um mich herum aus den Fugen gerät. Trotzdem ist sie unweigerlich da, die große Stille. Was andernorts und zu anderen Zeiten als guter Werbeslogan für eine Auszeit im Kloster dient, ist hier und jetzt in Zeiten des Krieges eher beklemmend als beschaulich. Plötzlich ist sie da, die große Stille, und mit ihr ein leer gefegtes Gästehaus und ein leerer Kindergarten. Dann könnte man sich jetzt also der Kontemplation widmen – ein schöner Gedanke, wenn die große Stille nicht immer wieder torpediert würde durch den unerbittlichen Sound des Krieges, der sich leider nicht abschalten oder ignorieren lässt.[1]
Leere, Stummsein und Verlassenheit
Wie soll man in so einer Situation beten? – Am Ende bleibt nur das Schweigen vor dem Kreuz, wie am Karfreitag. Aus der sonst so beschworenen Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe wird ein fader Dreiklang aus Leere, Stummsein und Verlassenheit, im Wissen um so viele leidende und getötete Menschen, die Opfer des Krieges auf beiden Seiten. Genau das ist der Punkt, an dem das Beten in Zeiten des Krieges an die Grenzen menschlicher Existenz und göttlicher Transzendenz stößt: Lieber Gott, wo bist du in all dem?
Erinnert ihr euch an die Nächte im Keller, an die Nächte der tödlichen Einsamkeit inmitten qualvollen Menschengedränges, an die Nächte der Hilflosigkeit und des Wartens auf den sinnlosen Tod, an die Nächte, wo die Lichter erlöschen, wo das Grauen und Ohnmacht ans Herz greifen, wo man den Mutigen und Unbefangenen mimt und wo einem die eigenen harmlos kecken und tapfer gefassten Worte so eigentümlich hölzern und leer klingen, einem gleichsam schon sterben, bevor sie den andern gefunden haben, wo man es dann aufgibt, wo man dann schweigt, wo man nur noch hoffnungslos wartet auf das Ende, den Tod?
Einsam, ohnmächtig, leer.
(Karl Rahner, Von der Not und dem Segen des Gebetes, Innsbruck 1949, S. 12)
Mit diesen Sätzen traf der Jesuit und Theologe Karl Rahner (1904-1984) den Nerv einer ganzen Generation, all jener, die die Untaten des letzten Weltkrieges hautnah miterlebt hatten. Sein Buch „Von der Not und dem Segen des Gebetes“[2] basiert auf einer Reihe von Fastenpredigten, die er 1946 in der Münchner Jesuitenkirche St. Michael gehalten hat. Der Rahner-Interpret Andreas R. Batlogg bezeichnet den mehrfach aufgelegten Band als „Klassiker“[3] spiritueller und theologischer Literatur. Der vor mir liegenden Erstausgabe aus unserer Jerusalemer Schwesternbibliothek sieht man ihrer Patina nach deutlich an, dass sie durch unzählige Leserinnenhände gegangen sein muss. Wer die Gedanken Karl Rahners heute – rund 80 Jahre und viele kleine und große Kriege später – liest, stellt mit Erstaunen und Entsetzen fest, dass sie nichts an Aktualität eingebüßt haben. Nach wie vor sind die Schreckensszenarien des Krieges dieselben, genauso ist jeder Krieg immer auch eine Kampfansage an Religion, Glaube und Gebet.
Wir haben gebetet und Gott hat nicht geantwortet.
Wir haben geschrien, und er ist stumm geblieben.
Wir haben Tränen geweint, die unsere Herzen verbrannten. […]
Wir haben gebetet. Wir haben gebettelt.
Wir haben glühende, beschwörende Worte zum Himmel emporgesandt.
Es hat nichts genützt. […]
Aber niemand kam, der uns die Tränen aus den Augen wischte und uns tröstete.
(S. 79f)
Niemand kam, der tröstete. Bleibt am Ende jeder Mensch mit seinem Leid allein? Nehmen wir die biblischen Verheißungen auf Hoffnung, Rettung und Auferstehung gar nicht ernst? Nicht von ungefähr erinnert Karl Rahner uns an die alte Milchmädchenrechnung, die noch immer in vielen Köpfen herumschwirrt: Wer viel betet, muss doch schließlich belohnt werden und die Bitten erfüllt bekommen, wo kämen wir denn sonst hin? Im Gegenzug behaupten Kritiker:innen gerne, Beten sei nur religiöse Beschäftigungstherapie und Ablenkungsmanöver, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. – Manchmal kommt es mir in diesen Tagen tatsächlich so vor.
Modernes Klagelied
Schon bald nach dem Ausbruch des Gaza-Kriegs erreichte mich via Handy-Nachricht ein langer Text, eine Art modernes Klagelied. Die Zeilen stammen von einem Bekannten, einem Israeli aus Tel Aviv, sind im Original in Deutsch verfasst und lassen mich aufgrund ihrer Direktheit aufgeregt und sprachlos zurück.
Ich ertappe mich (Grisha Alroi-Arloser, 2023)
Ich ertappe mich
beim Zurückhassen
gute Miene machen
Deckung suchen
Stärke zeigen
Totstellen.
Hätte gern eine Waffe
weine still und
tränenlos
sinnbefreit
1300-mal am Tag
immer nur eine Sekunde
Schnapptrauer.
Klebe am Sessel, Wasserglas, Fernseher
hab es immer gewusst
und bleibe fassungslos
überrascht.
Will die Bilder nicht sehen
und kann doch nicht wegschauen
will es nicht wissen
kann es mir nicht vorstellen
und stelle es mir immer wieder vor
gehe beim Einkaufen in Deckung
stelle mir vor ich stelle mich tot
unter einem Haufen blutiger Festivalleichen.
Bin entsetzt
dass im Diskurs der Gegenwärtigkeit
die Endlösung der Nazis
im Vergleich zu heute
besser abschneidet.
Bin verstört
wie kurz die Halbwertzeit des Mitgefühls ist
wie leer die Hülsen der Sympathiebekundungen
wie hasserfüllt die Sympathisanten
wie gut doch Judenstern und Hakenkreuz
haben überwintern können.
Habe eine Fahne am Balkon gehisst
schäme mich des jämmerlichen Patriotismus
und meiner Apathie
denke an die Jungen
wer nachts im Wald pfeift
hat Angst.
Wenn ich nur beten könnte …
Der Autor dieser Zeilen, Grisha Alroi-Arloser (* 1957 in Sibirien), wuchs als Sohn jüdischer Eltern in Köln auf und lebt seit 1978 in Israel. Er war als israelischer Diplomat in Bonn tätig und leitete bis vor Kurzem, bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand, eine israelisch-deutsche Interessenvertretung der Wirtschaft. In seinem Text aus sieben Sätzen bzw. Absätzen fasst er das Trauma einer ganzen Nation nach den Massakern nahe Gaza am vergangenen 7. Oktober in Worte: das Taumeln und die Ohnmacht angesichts der bestialischen Morde. Als ob dem nicht genug wäre, muss er mit ansehen und anhören, wie sich die Reaktionen in vielen Teilen der Welt überschlagen und die antisemitischen Muster der Vergangenheit wieder aufgewärmt werden. Für die Opfer, gegen die Angreifer und für alle da draußen will Alroi-Arloser Flagge zeigen, und sei es nur auf dem eigenen Balkon. Doch das nützt alles nichts gegen die große Leere: „Wenn ich nur beten könnte …“?
Not und Segen des Gebetes
„Wenn wir nicht aufhören dürfen zu beten, so darf man vielleicht auch nicht aufhören, vom Gebet zu sprechen. So gut und schlecht davon zu sprechen, wie es einem gegeben ist“,[4] schreibt Karl Rahner im Vorwort seines Buches über die Not und den Segen des Gebetes. Man darf nicht aufhören, zu beten … Das ist leichter gesagt und geschrieben, als getan. Der Krieg trifft die einen direkt, andere bewegt er sichtlich und gedanklich, wieder andere lässt er kalt. Was macht der Krieg aus mir und mit mir: einen desillusionierten Menschen, all seiner Hoffnung beraubt?
Gott – ein Freund des Lebens
Nicht mehr zu beten heißt doch auch: zulassen, dass der Krieg und seine zerstörerischen Mechanismen die Oberhand gewinnen. Das geht gegen meine persönliche Überzeugung und meinen Glauben. Denn wie kann es anders sein, als dass Gott ein Freund des Lebens und der Liebe ist? Gilt jetzt nicht umso mehr: Die für den Frieden eintreten, werden die Welt heilen. Die gegen den Hass ankämpfen, werden Licht ins Dunkel bringen. Wir müssen darum beten, dass wir Menschen aufhören, einander zu schaden, uns selbst und anderen. Wir müssen beten, auch wenn uns die Worte fehlen, nicht für uns selbst, sondern zuerst für all die ungezählten, namenlosen Opfer des Krieges auf beiden Seiten, dass ihnen bei Gott ihre Würde und ihr Name zurückgegeben werde.
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Sr. Gabriela Zinkl SMCB, Dr. theol., geb. 1975 in der Oberpfalz/Bayern, Promotion in Theologie (Kirchenrecht), Ordensschwester der Borromäerinnen, 2015-2023 in Jerusalem,seit 2024 im Mutterhaus Kloster Grafschaft als Mitglied der Ordensleitung. sr.gabriela@borromeo.de
Photo: privat
Titelfoto: privat / G. Zinkl
[1] Beim Schreiben dieses Satzes ertönen gerade wieder die Sirenen zum Luftalarm über Jerusalem, nach knapp einer Minute hören sie wieder auf. So ist das Leben im Krieg.
[2] Rahner, Karl, Von der Not und dem Segen des Gebetes, Innsbruck 1939 (Erstauflage): Verlag Felizian Rauch, 156 Seiten.
[3] Andreas R. Batlogg, Sein Leben betend zur Sprache bringen, in: Christ in der Gegenwart 36/2021, 17.
[4] Karl Rahner, ebd., S. 7 (Vorwort).