Die beiden Schwestern „Biblische Reisen Deutschland“ und „Biblische Reisen Österreich“ begehen heuer runde Jubiläen: Seit 60 bzw. 50 Jahren bieten sie Reisen an, vor allem ins Land der Bibel, nach Israel. Die Bibel quasi berühren zu können, zog und zieht zahllose Menschen ins „Heilige Land“. Elisabeth Birnbaum bedenkt den Reiz biblischer Reisen und wie Bibel berührt.
Wo alles geschah
Der Wunsch, einmal dort zu sein, wo Jesus, Jesaja oder Abraham gelebt und gewirkt haben, ist früh entstanden. So wurden Reisenden schon seit Jahrhunderten hinweg bereitwillig die Orte gezeigt, wo „alles geschah“: den See Gennesaret, den Jordan, die vielen bedeutsamen Orte in Jerusalem. Aber damit nicht genug. Man war bestrebt, auch Dinge zu verorten, die schlicht nicht verortbar sein konnten. Das tat aber der Begeisterung dafür keinen Abbruch.
Manche Orte im Heiligen Land sind selbsterklärend. Wo der Tempel stand, den Jesus von Kaufleuten reinigte, ist selbstverständlich bekannt. Er steht zwar nicht mehr, aber an der Klagemauer bekommt man dennoch einen Eindruck davon, wie er ausgesehen haben könnte.
Die Bibel quasi berühren zu können, zog und zieht zahllose Menschen ins „Heilige Land“.
Andere Örtlichkeiten würden mehrere Möglichkeiten offenlassen, wurden aber der besseren Be-greifbarkeit an einem bestimmten Ort lokalisiert. Dass Jesus am Jordan getauft wurde, schildern die Evangelien einmütig, wo genau, lehrt uns erst die nachbiblische Überlieferung. Heute gibt es gleich drei solcher Taufstellen, dazu auch den Ort, von wo aus Jesus in den Himmel aufgefahren ist (samt Fußabdruck), den Ort, wo er das Brotvermehrungswunder vollbracht hat, oder den „Berg der Seligpreisungen“ – auch wenn das Matthäusevangelium nicht von einem bestimmten Berg spricht, sondern nur von „einem Berg“; auch wenn Jesus seine Seligpreisungen im Lukasevangelium auf gar keinem Berg, sondern auf dem Feld ausruft: Wir „haben“ einen Ort zum Geschehen.
Andere Orte sind noch ungewöhnlicher: etwa die Steine, die Jesus auf Wunsch des Teufels in Brote verwandeln hätte sollen. Jesus weigerte sich und so konnten die Steine Steine bleiben (und Reisenden gezeigt werden).
Lokalisierte Metaphern
Noch spannender wird die Sache, wenn Geschehnisse und dazugehörige Elemente verortet werden, die selbst im Erzählduktus der Bibel nur als Metapher erwähnt wurden.
Schon die Pilgerin Egeria berichtet im 4. Jahrhundert vor Christus darüber, dass man ihr den Stein, den die Bauleute verwarfen und der zum Eckstein geworden ist, zeigte. Und das Blut, das der unter die Räuber gefallene und vom barmherzigen Samariter versorgte Reisende vergoss – bekanntlich ein Gleichnis Jesu – kann heute noch zwischen Jericho und Jerusalem besichtigt werden.
Es wäre gut, wenn noch eine Gesandtschaft ausgeschickt würde, die beiden Rehchen und den runden Becher und den Weizenhaufen Salomons zu suchen; sie würden es gleichfalls finden
(J. G. Herder)
Selbst hochpoetische Bibeltexte wie etwa das alttestamentliche Hohelied hat man gelegentlich räumlich verortet. Die Verbindung von Metapher und konkreter Lokalisierung führte dabei manchmal zur unfreiwilligen Komik. Wenn der Mann seine Geliebte mit einem verschlossenen Garten und versiegelten Quell vergleicht, ihre Brüste mit Gazellen oder Rehen und ihren Schoß mit dem Weizenhaufen Salomos, dann mutet jeder Lokalisierungsversuch seltsam an. Johann Gottfried Herder spottete bereits 1778(?) über Exegeten, die das taten:[1] „Den verschlossenen Garten hat Hasselquist, (…) den versiegelten Brunnen Salomos Pocock, (…) und die versiegelte Wasserquelle d’ Arvieur (…) gesucht, und wie es recht war, auch würklich gefunden. Es wäre gut, wenn noch eine Gesandtschaft ausgeschickt würde, die beiden Rehchen und den runden Becher und den Weizenhaufen Salomons zu suchen; sie würden es gleichfalls finden.“
Wurzeln der Sehnsucht
Die Sehnsucht, Bibel zu verorten, kann unterschiedliche Wurzeln haben. Eine ist der fundamentalistisch anmutende Glaube, dass die Bibel nur historische Tatsachen enthalte. Aus diesem Grund hat schon die biblische Archäologie des 19./20. Jahrhunderts versucht, alles, was in der Bibel steht, als historische Tatsachen zu beweisen. Die zahlreichen „Funde“ von Teilen der Arche Noach geben darüber beredtes Zeugnis.
Eine zweite Wurzel ist der Wunsch, alles Biblische zu be-greifen und mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen. Der Wunsch, den Geschehnissen haptisch näherzukommen, um sie für wahr halten zu können, gewissermaßen das „Thomas-Syndrom“, das Empirie einfordert und betont: „Nur was ich berühren kann, glaube ich.“
Diese beiden Sehnsüchte lassen sich nur schwer erfüllen. Die Hoffnung, die Historizität der Bibel lückenlos zu beweisen, musste begraben werden. Glauben zu können stellt sich auch mit sinnenfälligen Wahrnehmungen nicht zwangsläufig ein. Und auf dem (frei lokalisierten) „Berg der Seligpreisungen“ etwa steht heute eine große Kirche, die die Situation der Bergpredigt, sollte sie tatsächlich auf einem Berg stattgefunden haben, nicht mehr wiedergeben kann. Dies wäre wohl auf einem möglichst naturbelassenen Berg eher möglich.
Wer oder wen Bibel berührt
Und doch gibt es eine Sehnsucht, die an solchen Orten tatsächlich gestillt werden kann: die emotionale und spirituelle Sehnsucht nach einem nicht nur kognitiven Zugang zur Bibel.
Denn trotz aller Skepsis: Es ist ein Erlebnis, am Toten Meer zu stehen und die Salzsäule von Lots Frau zu betrachten oder die Ruinen Jerichos zu bestaunen. Es hat seinen Reiz, in der Geburtsgrotte in Betlehem an die Geburt Christi zu denken. Und es hat spirituelle Qualität, am See Gennesaret eine abendliche Andacht abzuhalten. Es sind Gedächtnisorte, und noch mehr: Gerade Im Verschwimmen historisch verbürgter und fiktiver Orte werden beide im schönsten Sinn des Wortes zu Fantasieorten: Sie regen die Fantasie, die Vorstellungsgabe an, sie nähern uns der biblischen Welt, sie machen den Geist der biblischen Botschaft spürbar und werden dadurch wirklich.
Nicht immer glaube ich das, was ich berühren kann. Aber immer glaube ich das, was mich berührt.
Das Entscheidende daran ist vielleicht gar nicht, dass man bestimmte Orte der Bibel berührt, sondern dass man an bestimmten Orten von der Bibel berührt wird. Denn nicht immer glaube ich das, was man beweisen kann, nicht immer glaube ich das, was ich berühren kann. Aber immer glaube ich das, was mich berührt.
In diesem Sinne mögen noch viele biblische Reisen möglichst viele Menschen berühren.
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Literaturtipp: Bibel und Kirche 2/2022: Die Sehnsucht nach dem Ort
Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bildnachweis: pixabay
[1] Herder, Johann Gottfried. Lieder der Liebe: die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande. Leipzig: Weygand, 1778, 47.