„Es isch en choge Chrampf“ – würde sie in ihrer Mundart sagen – also: ein hartes Stück Arbeit. Aber: In den zwanzig Jahren, da sie sich mit Theologie beschäftige, hat sie keine andere Methode derart umfassend berührt wie das Bibel-Erzählen. Schreibt Moni Egger über ihren Beitrag.
Hungrig sucht Jesus im fruchtlosen Baum nach Feigen. Vergebens. Jesus flucht. Sein Fluch lässt den Baum verdorren. Seit Tagen brüte ich über dieser Stelle. Ich arbeite an einer vorösterlichen Erzählung zu Mk 11 und suche nach einem Spalt, einem Eingangstor in diesen sperrigen Text. In der Regel helfen die guten alten exegetischen Methodenschritte weiter: Der Blick auf die Textoberfläche zeigt Abschnitte und Schwerpunkte, Wortfelder, Handlungsorte, Bewegungen, Figuren. Aber diesmal … die Abschnitte scheinen zusammengewürfelt: auf einem Esel hinauf nach Jerusalem, durch die rufende Menge hindurch – Jesus schaut sich im Tempel um – geht nach Betanien – am nächsten Morgen der hungrige Blick auf den Feigenbaum – Jesus wütet im Tempel – raus aus der Stadt und am nächsten Morgen wieder rauf – der Feigenbaum ist verdorrt – auf den verwunderten Ausruf von Petrus antwortet Jesus mit einer Predigt über Glaubenskraft, die Berge versetzen können soll.
Wo ist der rote Faden?
Wenn ich reine Exegese betreibe, dann sind solche narrativen Potpurris gut zu bewältigen. Die Abschnitte dürfen nebeneinander stehen bleiben. Es genügt, ihre formale und thematische Verknüpfung aufzuzeigen, sie müssen nicht unbedingt zusammen Sinn ergeben. Wenn ich aber erzählen will, wie Jesus in den letzten Tagen seines Lebens mit seinen Begleiter*innen zwischen Jerusalem und Betanien hin und her pendelt, dann muss ich das Geschehen nachvollziehen können. Ich kann mich nicht zufrieden geben mit einem Nebeneinander, die Abschnitte müssen miteinander einen roten Faden bilden.
Phantasiearbeit
Jetzt brauche ich Phantasiearbeit. Wie ist dieser Weg nach Jerusalem? Wie fühlt es sich an, ihn zu gehen? Wie warm ist es? Was ist mit dem Hunger? Wie gross ist er, wie präsent? Was genau ist in Betanien? Wie sieht es dort aus, wie ist die Atmosphäre? Und wie ist die Stimmung im Tempel? Was für Menschen sind dort? Wie riecht es? Wie klingt es? Bild für Bild male ich mir aus.
Eine rote Faser entsteht.
Und so entsteht langsam eine rote Faser, an der ich meine Geschichte werde auffädeln können: Hungrig sucht Jesus im fruchtlosen Baum nach Feigen, obwohl in dieser Jahreszeit die Feigen gar nicht reif sind. Ich sehe einen müden Mann, sein Gesicht ist von Hunger gezeichnet. Hoffnung blitzt auf in seinen Augen, als er den Feigenbaum sieht. Seine Schritte werden schneller. Ich fühle mit ihm die Enttäuschung, dass der Baum nichts Essbares bietet; den Schmerz im Magen, den der Hunger erzeugt; die damit verbundene Wut. Hunger und Wut vermischen sich. Denn dass der Hunger dazugehört für den grössten Teil der Bevölkerung in jener Zeit, das hat politische Gründe.[1] Dazu die Hitze, die aufgeladene Stimmung in Jerusalem. Die Freundinnen in Betanien, die Jesus und die Seinen am Morgen nur ungern ziehen liessen, weil sie wissen, wie brandgefährlich diese Zeit ist.
Fragen der Figuren – Fragen der Hörenden
So erhält dieser Jesus konkretere Züge. Natürlich bleibt er rätselhaft, das darf er. Schliesslich verstehen auch seine Begleiter*innen ihn nicht immer. Ihr fehlendes Verstehen hilft mir in meiner Geschichte. Obwohl dieses in Mk 11 nicht explizit erwähnt ist, übertrage ich es aus anderen Perikopen hierher. So können ihre Stimmen meine Fragen ausdrücken und jene, die ich bei meinen Zuhörenden vermute. Seine Freundinnen und Freunde schauen sich an. Sie kennen das ja schon, dass sie nicht so recht verstehen, was Jesus meint. „Glauben und Beten!“ brummt einer ziemlich bitter, „Wie lange machen wir das jetzt schon? Und was hat es genützt?“ Und eine andere murmelt: „Was war das mit dem Feigenbaum? Was haben wir jetzt davon, dass der verdorrt ist?“
Die Geschichte spinnen
Der rote Faden wird dichter. Ich will diese Gemeinschaft aufzeigen. All die Menschen, die mit Jesus mitgehen, fasziniert und verwundert, die mehr sind als stille Begleiter. Sie lassen sich mit ihrer ganzen Existenz auf diesen Rabbi ein, getragen von einer verzweifelten Hoffnung. Ich will die Situation von Hunger und Unterdrückung aufzeigen, die so gar nicht zu den Jubelszenen des Palmsonntags passen will. Hosianna! ruft die Menge, als Jesus zum ersten Mal nach Jerusalem hinauf zieht. Aber halt: Das ist ja gar kein Jubel. Rette uns! rufen sie. Der Jubel mischt sich mit Verzweiflung. Zeige, dass du Retter bis! Dass du deinen Namen verdienst! Zeig es an uns! Rette uns!
Der rote Faden wird dichter.
Und so spinnt sich die Geschichte plötzlich fast wie von selbst. Entlang der Zerrissenheit ihrer Figuren zwischen Verzweiflung und Hoffen, Überforderung und Vertrauen, Verwurzelung in der Tradition und einer Vorahnung des Schrecklichen. Der Hunger als ständiger Begleiter.
Die Geschichte, ich und die Zuhörenden
Während der Arbeit hat sich nicht nur die Geschichte verändert. Auch ich selbst bleibe davon nicht unberührt. Ich bin Teil der Geschichte geworden. Darum ist auch völlig klar, dass aus Mk 11 eine ganz andere Geschichte wird, wenn jemand anderes sie erzählt. Jetzt aber will ich erzählen. Im nächsten Schritt werde ich die Erzählung verinnerlichen, meine Bilder weiter ausmalen, Worte und Rhythmus finden. Nur wenn die Geschichte Teil von mir geworden ist, werde ich sie so erzählen können, dass auch die Zuhörenden ganz hineingezogen werden in jenes Geschehen unmittelbar vor dem Pessachfest vor zweitausend Jahren.
Jede und jeder hört eine eigene Geschichte, sieht einen eigenen inneren Film.
Damit kommt die dritte Komponente des Bibelerzählens in den Blick: Neben dem Text und mir selbst geht es um das Publikum. Denn erst im Akt des Erzählens wird eine Geschichte lebendig. Sie ist auf die Hörenden angewiesen. Zuhören ist kreativ: Jede und jeder hört eine eigene Geschichte, sieht einen eigenen inneren Film. Die Zuhörenden hören sich selbst in die Geschichte hinein.
Erzählen als Verkündigung
Als Erzählerin erfahre ich, wie tief frei erzählte biblische Geschichten Menschen berühren können. Was zwischen Buchdeckeln oft genug fremd und trocken klingt, wird in der Erzählung packend, mitreissend, witzig.
Als Erzählkursleiterin habe ich das Glück, selbst immer wieder Zuhörerin zu sein. Mal um Mal bin ich neu überrascht von der unmittelbaren Wucht, die auch eine altbekannte Geschichte haben kann, wenn sie frei erzählt wird. Auch wenn sie direkt nacheinander von vier Menschen erzählt wird – es wird nicht langweilig. Denn die Geschichte wird mit jedem Erzählen neu. Ist nicht genau das der Kern von Verkündigung? Dass sich die Botschaft im Akt des Überbringens aktualisiert und fühlbar wird?
überrascht von der unmittelbaren Wucht
Als Exegetin staune ich, wie sehr meine exegetische Arbeit von den gehörten Geschichten bereichert wird. Vieles habe ich von den Kursteilnehmenden und ihren Erzählungen gelernt. Und das hängt nicht etwa von ihrer theologischen Vorbildung ab, sondern von der Intensität ihrer Auseinandersetzung mit dem Text.
Ob ich selbst erzähle oder zuhöre, die Bibel wird durch das Erzählen erst lebendig. Ja, für mich wird sie erst dadurch relevant. Erst im Erzählen öffnet sich mir ein Text, wandelt sich vom Untersuchungsgegenstand zu etwas, was mit mir zu tun hat – werden Buchstaben zu Feigen.
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Moni Egger, Dr. theol., Alttestamentlerin, Märchen- und Bibelerzählerin, freischaffende Theologin, Mitglied in der Redaktion der FAMA – feministisch theologische Zeitschrift der Schweiz, Gründungsmitglied von BibelErz.
Bild: Margrit Egger
Der Verein BibelErz gräbt nach kostbaren Erzen in uraltem Boden: Er fördert biblische Erzählkunst mit Kursen zum freien Bibelerzählen, mit systemischen Aufstellungen zu biblischen Geschichten und mit Erzählanlässen. Ausserdem dient er der Vernetzung von Bibelerzähler*innen in der Schweiz. Er wurde 2018 gegründet von Katja Wißmiller, Marie-Theres Rogger und Moni Egger. www.bibelerz.ch
[1] Siehe Luzia Sutter-Rehmann, Wut im Bauch. Hunger im Neuen Testament, Gütersloh 2014.