Anhand einer Predigtreihe fragen Marlen Bunzel und Martin Nitsche danach, wie das Leben in der DDR die biblische Exegese und die kirchliche Verkündigung prägte.
Gibt es eine spezifisch „ostdeutsche“ Auslegung der Heiligen Schrift? Was für eine merkwürdige Frage. Muss dieses belastete und mit negativen Assoziationen besetzte Wort „ostdeutsch“ wirklich sein? Dirk Oschmann hat scharf und doch überzeugend gezeigt, dass damit häufig plakative Zuschreibungen aus westdeutscher Perspektive verbunden sind.[1] Und doch hat die Frage uns gefunden und sich mit biographischer Wucht aufgedrängt. Wir sind beide in katholischen Elternhäusern „im Osten“ aufgewachsen und haben die längste Zeit bei DDR-geprägten Bibelwissenschaftlern in Erfurt studiert. Prägungen zeigen sich aber nicht vorrangig mitten im Erleben, sondern indem man auf Abstand zum Erlebten geht. Wie steht es nun um eine „ostdeutsche“ Exegese? Die Antwort in Kürze vorab: Dümmer war man auch vor – bzw. hinter – dem Zaun nicht, Exegese konnte und kann man in Ost und West betreiben, philologische und theologische Arbeit am Text ist hier wie da geleistet worden. Und gerade deswegen: Verschiedene Lebenswelten führen zu verschiedenen Thesen, zu anderen Fragen an die biblischen Texte.
Die Zeit ist einfach darüber hinweg gegangen.
In den vergangenen zwei Jahren konnten wir uns in einem Forschungsprojekt davon überzeugen. Unter dem Titel „Schriftrezeption in der katholischen DDR-Diaspora“[2] untersuchten wir die einzige katholische Predigtreihe aus der DDR, in der Frauen und Männer aus der seelsorglichen Praxis (fast alle aus der DDR) in beeindruckend detaillierten Bibelexegesen, geistlichen Meditationen und konkreten Predigtentwürfen mitunter beinahe beiläufig eine kontextuelle Bibeltheologie entwerfen. Die Reihe heißt „Das Wort an die Gemeinde“ und ist in den 1970’er Jahren von dem Bernburger Pfarrvikar Karljosef Lange (1928–2023)[3] im St. Benno-Verlag Leipzig herausgegeben worden. Dabei sind beeindruckende 18 Bände zu allen Lesungstexten der nach dem Konzil und der Liturgiereform erneuerten Sonntags- und Feiertagsgottesdienste und ihren drei Lesejahren zusammengekommen.
Sie kennen das Predigtreihenwerk bislang nicht? So ging es uns auch. Wir sind durch Hinweise unserer Erfurter Lehrer, Georg Hentschel und besonders Norbert Clemens Baumgart, darauf gestoßen worden. Der Glanz der Reihe, die beim Erscheinen gute Aufnahme gefunden hatte, war bereits Ende der 1980’er Jahre verblasst. So waren auch die meisten Autorinnen und Autoren überrascht, als wir mit ihnen das Gespräch suchten. Das soll noch jemanden interessieren? Zugleich wurde unser Fragen als Wertschätzung wahrgenommen, fühlten sie sich doch in ihrem früheren theologischen Schaffen und Wirken ein Stück weit vergessen. „Die Zeit sei einfach darüber hinweg gegangen“, so das Resümee einer unserer Gesprächspartner:innen.
Die biblische Diaspora konnte zur Deutekategorie der eigenen Minderheitensituation werden.
In diesem Forschungsprojekt untersuchen wir einen kleinen Ausschnitt „ostdeutscher“ Schriftauslegung: gedruckte (und staatlich wie kirchlich zensierte) Predigthilfen katholischer Theologinnen und Theologen. Angesichts dessen, dass Kirche in der DDR vorrangig von evangelischer Seite geprägt wurde, ist es somit wirklich nur ein kleiner, ein „Nischen-Ausschnitt“ – der der sogenannten „doppelten Diaspora“. Zwar bleibt unsere Suche nach versteckten Botschaften und „sprachlichen Codes“ hinter den Erwartungen zurück. Spannend aber war, welche Texte und Themen der Bibel in Resonanz mit der konkreten Lebenswelt der Hörenden gebracht wurden. „Exil“, „Diaspora“, „Krieg und Frieden“ oder auch „Freiheit“ hatten im Minderheitenkatholizismus unter sozialistischen Bedingungen einen eigenen Klang: Wo die Texte des Alten und Neuen Testaments entsprechende Anknüpfungspunkte boten, konnte biblische Diaspora zur Deutekategorie der eigenen Minderheitensituation werden, konnte die Sehnsucht nach dem messianischen Frieden zum Gesprächsangebot an die nicht-christliche Mehrheitsgesellschaft werden. Gleichzeitig wurden Themen wie Frieden und Freiheit weltanschaulich unter ganz unterschiedlichen Prämissen verhandelt, es liefen ja parallel zwei mitunter völlig verschiedene „Geschichten“ ab. Während die 1968er Bewegung in der ehemaligen BRD z.T. auch von Katholik:innen als ein „großer Aufbruch in die Freiheit“ erlebt wurde, – und bis heute als scheinbar gesamtdeutsches Narrativ gefeiert wird – wurde zeitgleich auf ostdeutscher Seite „Freiheit brutal unterbunden“[4].
die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils ins „Ostdeutsche“ übersetzen.
Einige Predigerpersönlichkeiten traten für uns besonders hervor, da es ihnen in besonderer Weise gelang, die Relevanz biblischer Texte im Kontext der DDR-Diktatur geschickt zu vermitteln, so z.B. der langjährige Leipziger Studentenpfarrer Wolfgang Luckhaupt (1931–1987). Er schreibt in einer Predigthilfe zu Ezechiel 37 und den „zerstreuten Gebeinen“ zunächst allgemein über die Minderheitensituationen Israels im Exil und kommt dann eng entlang der Bilder des Bibeltextes zu folgendem Predigtgedanken: „Wir haben Heimweh, weil wir nicht richtig sehen oder nicht richtig sehen wollen. Denn das Eingehen auf die Botschaft Jesu erfordert, die Bequemlichkeit aufzugeben. Halten wir uns nicht selbst in „Gräbern“ fest? Sind nicht Heimweh und Müdigkeit die Früchte unseres Gefangenseins?“[5] Gefangen und vieler Entfaltungsmöglichkeiten beraubt – so erging es insbesondere Christ:innen in der DRR. Dennoch lehrte uns das Gespräch mit den Autorinnen und Autoren, dass sie sich mit solchen, für uns heute eindeutig doppeldeutig klingenden Formulierungen auch nicht vereinnahmen lassen wollen. Ihr zentrales Anliegen bestand nämlich zuallererst darin, die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils – besonders hinsichtlich der Wortverkündigung in der Liturgie – ins „Ostdeutsche“ zu übersetzen und eine angemessene, zeitgemäße Sprache für die biblische Botschaft zu finden.
ein anderes Lebensgefühl
Und das inmitten der DDR-Realität, in der Religion per se als Anachronismus galt, in der derjenige, der an Gott glaubt, als dumm galt. Schließlich war Gagarin im Weltall und hat Gott dort nicht gefunden, so ordnete es einer der Autoren mit Verweis auf das damals populäre Buch „Sputnik und der liebe Gott“ ein. In diesem Kontext stellte es eine ganz eigene Herausforderung dar, christlich geprägte Begriffe zu vermitteln. Worte wie „Erlösung“ wurden hier „als altmodisch empfunden und nicht in dem Sinne, in dem sie gemeint waren“, so formulierte es eine Gesprächspartnerin. Zwar war der Nachdruck eines „westdeutschen“ Predigtwerks zunächst schlicht an staatlichen Auflagen gescheitert, aber ob er aus pastoraler Sicht überhaupt funktioniert hätte? Der Erfurter Pastoraltheologe und Autor in „Das Wort an die Gemeinde“, Franz Georg Friemel (*1928), hält das für ausgeschlossen, „weil es bei uns ein anderes Lebensgefühl gab“. Ein theologisches Programm einer aus einem solchen „Lebensgefühl“ gewachsenen Theologie liegt freilich nicht vor – es muss aus den Zeugnissen erschlossen werden.
Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung und mehr als 50 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Bände von „Das Wort an die Gemeinde“ ist es an der Zeit, die Frage nach einer „vergessenen Theologie aus dem Osten“ pointiert zu stellen. Dabei geht es nicht darum, eine (im wirtschaftlichen Bereich wohl sinnvolle) Angleichung der Verhältnisse anzustreben. Vielmehr können eigene Prägungen und auch perspektivische Unterschiede den theologischen Diskurs bereichern.
Dieses Forschungsprojekt ist in besonderer Weise auf Resonanz mit unseren biographischen Prägungen gestoßen: Wir können aus eigener Erfahrung sagen, dass es nach wie vor eine spezifische Prägung von Theolog:innen gibt, die aus der ehemaligen DDR stammen oder dort geprägt wurden – und zudem an der geschichtsträchtigen Erfurter Fakultät studiert haben. Ein solches Profil umfassend nachzuzeichnen wäre ein weiteres lohnenswertes Projekt.
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[1] Vgl. Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet, Berlin 2023.
[2] Dank der Zusammenarbeit mit Forscher:innen unterschiedlicher theologischer Fachdisziplinen kamen Perspektiven aus Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte, Pastoraltheologie und Literaturwissenschaft zusammen, mit denen wir an diesem monumentalen Predigtwerk „Probebohrungen“ vornehmen konnten. Die Erkenntnisse sind in dem in Kürze erscheinenden Band „Bibelrezeption, Zensurmechanismen und homiletische Fragestellungen in der katholischen DDR-Diaspora“ nachzulesen. Vgl. Martin Nitsche / Marlen Bunzel (Hg.), Bibelrezeption, Zensurmechanismen und homiletische Fragestellungen in der katholischen DDR-Diaspora. Mehrperspektivische Annäherungen an die Predigtreihe Das Wort an die Gemeinde (EThSchr 55), Würzburg, erscheint im Mai 2023.
[3] Karljosef Lange wurde 1953 in Paderborn zum Priester geweiht und ließ sich kurz darauf ins Erzbischöfliche Kommissariat Magdeburg senden. 1980 kehrte er in seine westfälische Heimat zurück. In gewisser Weise sprengt der Herausgeber mit seinem eigenen Lebenslauf ein allzu starres Ost-West-Denken.
[4] So Thomas Arnold, Direktor der Katholischen Akademie Dresden-Meißen, im Interview mit dem Deutschlandfunk am 25. April 2023, mit Verweis auf den Essener Katholikentag 1968, abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/mehr-auf-ostdeutsche-hoeren-interview-thomas-arnold-ka-dresden-meissen-dlf-54cf2232-100.html (25.04.2023).
[5] Wolfgang Luckhaupt, 5. Fastensonntag, Ez 37,12–14, in: K. Lange (Hg.), Das Wort an die Gemeinde. Predigthilfen zu den Perikopen der neuen Leseordnung, Mattäusjahr I, Erste Lesungen, Advent bis Pfingsten, Leipzig 1974, 247–253, 253.
Marlen Bunzel ist Alttestamentlerin und Gastprofessorin am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Martin Nitsche ist Inhaber der Dozentur für Altes Testament und christlich-jüdische Schrifthermeneutik am FB 07 Katholische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Bildnachweis: Marlen Bunzel und Martin Nitsche