Unermüdlich wird betont, wie wichtig das «Hören» in einer synodalen Kirche ist – aber eher selten ist in unseren Breitengraden dabei vom Hören auf die Bibel die Rede. Daniel Kosch, seit kurzem Präsident des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Schweizer Beobachter beim Synodalen Weg, reflektiert, welche Impulse von der Bibelpastoral für eine synodale Kirche ausgehen können, ohne dabei die Krise der Kirche auszublenden.
In den Diskussionen zur Zukunft der katholischen Kirche ist das Stichwort «Synodalität» derzeit allgegenwärtig. Viel ist in diesem Zusammenhang vom Hören, vom Weg, vom gemeinsamen Beraten und Entscheiden die Rede. Viele verbinden mit «Synodalität» die Hoffnung, dass ihre Anliegen nicht nur «an-gehört» werden, sondern endlich «Gehör» finden und «erhört» werden. Obwohl Papst Franziskus schon oft betont hat, dass dabei das Hören auf das Wort Gottes und das gemeinsame Unterwegssein mit den Texten der Bibel eine wichtige Rolle spielt, hat die Bedeutung der Bibelpastoral für eine synodale Kirche bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten.
«Die Synode ist ein Weg der geistlichen Unterscheidung, ein kirchlicher Unterscheidungsprozess, der in der Anbetung, im Gebet und im Kontakt mit dem Wort Gottes stattfindet. […] Das Wort öffnet uns die Augen für die Unterscheidung und erleuchtet sie. […] Mögen wir Pilger sein, die das Evangelium lieben […]»1.
«Die Synodalität ist […] ein Stil, den man annehmen muss, bei dem der Hauptakteur der Heilige Geist ist, der vor allem im gelesenen, meditierten, gemeinsam geteilten Wort Gottes zum Ausdruck kommt»2.
Mit Hilfe der Bibel «Synodalität» tiefer verstehen
Wenn hierzulande von «synodalen Wegen» gesprochen wird, geht es oft um synodale Gremien und Strukturen. Entsprechend fallen uns zum Stichwort «Synodalität und Bibel» wohl spontan Formen des Bibelteilens oder gemeinsamer Bibellektüre im Rahmen synodaler Zusammenkünfte ein.
Befragt man jedoch die Bibel selbst danach, wo sich das synodale Miteinander-auf-dem-Weg-Sein des Volkes Gottes am deutlichsten zeigt, ergibt sich ein anderes Bild. Für das Alte Testament ist der Exodus-Weg des Volkes Gottes durch die Wüste der synodale Weg schlechthin. Und im Neuen Testament ist der wichtigste gemeinsame Weg jener, den Jesus mit seinen Freundinnen und Freunden von Galiläa nach Jerusalem gegangen ist.
Alle Formen synodalen Kircheseins, vom Pfarreirat bis hin zur Bischofssynode in Rom, wie auch all unsere Formen der Bibelpastoral, haben deshalb daran Mass zu nehmen, ob sie helfen, den Exodus-Weg in die grössere Freiheit, und den Nachfolge-Weg in die solidarische Gemeinschaft der Kinder Gottes zu bahnen. Das können sie allerdings nur, wenn sie selbst Freiheit atmen, Geschwisterlichkeit leben, Solidarität praktizieren und damit einen Vorgeschmack auf das gelobte Land und das Reich Gottes geben. An ein breites Verständnis von Synodalität denkt auch Franziskus, wenn er sagt: «Es genügt nicht, eine Synode zu haben, man muss Synode sein»3.
Inspirationen für die Kommunikation des Evangeliums
Wenn wir uns für das Ziel, synodale Kirche zu sein und immer mehr zu werden, von der Bibel inspirieren lassen, eröffnet dies Perspektiven, die weit über das Lesen und Besprechen biblischer Texte im Rahmen synodaler Zusammenkünfte hinausgehen. In der Bibel wird gesungen, geklagt, geflucht, gestritten, geschwiegen und gebetet. Es werden Briefe geschrieben, Wege zurückgelegt, Feste gefeiert, Hymnen gedichtet, Sprichwörter gesammelt, Gleichnisse erzählt, Bilder und Visionen entworfen, Haustafeln aufgestellt. Zudem ist die Bibel selbst das Produkt teils langer synodaler Prozesse, deren Verläufe sich in der Schichtung, Ergänzung und Selbstkorrektur der biblischen Texte niedergeschlagen haben. Manche dieser Prozesse sind nicht gut ausgegangen, etwa weil die prophetisch geforderte Umkehr ausblieb oder der Brief des Apostels den Konflikt verschärfte statt ihn zu beruhigen. Trotzdem wurden die verschriftlichten Spuren solcher Vorgänge als so wertvoll erachtet, dass sie aufbewahrt und weitergeben wurden. Zu einer Kirche und einer biblischen Pastoral, die so synodal sein will wie die Bibel selbst, gehören Kreativität, Methodenvielfalt und die Bereitschaft, Einheit und Gemeinschaft sehr bunt, spannungsreich und streitbar zu verstehen. Zudem lehrt uns die Bibel, dass synodale Prozesse mehrere Generationen benötigen und zu unabgeschlossenen Ergebnissen führen können, die oft neue Spannungen in sich bergen, die weitere Klärungen erfordern.
Sich von der Bibel «dreinreden» lassen
Hilfreich ist die Bibel auch, weil ihre Texte der Kirche auf dem synodalen Weg gewissermassen «von aussen» dreinreden. Die biblischen Texte sagen Dinge, die wir uns nicht selbst sagen können: Ihr seid von Gott geliebt. Fürchtet euch nicht, auch nicht in Sturm und Wind. Aber sie sagt uns auch, was wir nicht hören wollen: Nicht sieben Mal, sondern 77-mal sollst du vergeben. Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes. Gerade angesichts der Gefahr selbstreferentieller Synodalitätsdebatten ist das extra nos des biblischen Textes eine Chance – sofern wir nicht der Versuchung erliegen, nur zu lesen und zu hören, was bestätigt, und nicht auch, was stört.
Im Kontext multipler Kirchenkrisen
Meine Überlegungen wären allerdings von einer sträflichen Naivität, bliebe unberücksichtigt, dass die Kirche ihren synodalen Weg im Kontext multipler, sich gegenseitig verstärkenden Krisen suchen muss, die auch die Bibelpastoral herausfordern. Drei dieser Krisenherde möchte ich skizzieren.
Theologische Implikationen der Missbrauchskrise
Die Aufdeckung der zahlreichen Fälle von Machtmissbrauch in Form sexueller Gewalt und ihrer systemischen Ursachen haben nicht nur die Glaubwürdigkeit der Kirche aufs schwerste beschädigt, sondern auch das Bewusstsein für «gefährliche Theologien»4 und die tiefe Ambivalenz vieler religiöser Konzepte geschärft, die zum Teil schon in der Bibel zentral sind. Deshalb ist nicht mehr nur ein historisch-kritischer, sondern auch ein sachkritischer Umgang mit biblischen Texten unumgänglich. Diese sind daran zu messen, ob sie freiheitsermöglichend oder freiheitsbehindernd sind, und ob sie zu einem «religiösen Glauben führen, der offen ist für die Unendlichkeit von Liebe und Freiheit Gottes selbst»5. Die Mündigkeit und Freiheit der Kinder Gottes impliziert auch das Recht, biblische (und selbstverständlich auch päpstliche) Texte zu kritisieren, etwa wenn sie, wie Ottmar Fuchs drastisch formuliert, von einem Gott mit «irritierendem Arschloch-Verhalten»6 sprechen, oder wenn sie Machtmissbrauch und Diskriminierung legitimieren. Zur Bibelpastoral gehört folglich, im Dialog mit biblischen Texten zu «Widerstand als Selbstachtung»7 zu ermutigen, was auch für die Dynamik synodaler Prozesse nicht folgenlos bleiben wird.
Folgen der Säkularisierung
Die Säkularisierung der Gesellschaft und die Tatsache, dass selbst unter den noch aktiven Kirchenmitgliedern die wenigsten ernsthaft damit rechnen, dass biblische Texte für sie konkret «Worte des Lebens» sein könnten und die Auseinandersetzung ihren Alltag bereichern würde, konfrontieren die Bibelpastoral mit der Herausforderung, Zugänge zur Bibel zu erschliessen, die buchstäblich am Nullpunkt beginnen. Zusätzlich sind veränderte Lesegewohnheiten zu berücksichtigen, die es der Bibel mit ihren langen Texten schwer machen, Leser:innen zu finden8.
GlaubensSchwachheit
Auch für gläubige Menschen sind weite Teile der biblischen Gottesrede nicht mehr anschlussfähig. Zu selbstverständlich setzen sie Gottes Existenz voraus, zu direkt sprechen sie von seinem Eingreifen, von seiner Nähe, von der Erkennbarkeit seines Willens. Michel de Certeau spricht von der GlaubensSchwachheit des modernen Menschen, der auch im Blick auf seine eigene Glaubensüberzeugung und Gotteserfahrung nicht mehr davon abstrahieren kann, dass die Rede von Gott immer nur eines von mehreren Modellen der Wirklichkeitsbewältigung darstellt9. In seiner «Kleinen Theologie des Als ob» skizziert Sebastian Kleinschmidt einen möglichen Umgang mit dieser Problematik. Er plädiert dafür, die Gottesfrage offenzuhalten und sich vorerst so auf die biblischen Texte einzulassen, «als ob es Gott gäbe». Schon einem solchen, die fundamentalen theologischen Fragen offenhaltender Umgang mit der Bibel sei zuzutrauen, dass er das Leben bereichert 10. Eine Bibelpastoral, die nicht nur jene ansprechen will, die ohnehin schon «bibelfromm» sind, kommt nicht umhin, die Gottesfrage nicht nur «bibelimmanent» zu thematisieren, sondern biblische Texte auch im Kontext der Gotteskrise zu lesen.
Muss sich auch die Bibelpastoral neu erfinden?
Biblische Texte und Traditionen auf Synodalen Wegen mitzunehmen, macht diese Wege interessanter und herausfordernder. Sie können dazu beitragen, dass die Kirche sich auf diesen Wegen nicht im Kreis dreht und dass nicht nur unsere Kirchensorgen, sondern die «Freude und Hoffnung, Trauen und Angst der Menschen von heute» in den Blick kommen (GS 4).
Zugleich beraubt uns die Krise der Kirche, die zugleich Gotteskrise ist, früherer Gewissheiten. Auch jene, die sich auf die Bibel berufen, stehen im Verdacht, auf die Nöte und Ängste der Menschen «nur noch mit verbrauchten Geheimnissen» zu antworten und «mit Leichtigkeit Wörter auszusprechen, die leer geworden sind»11. Angesichts dieser Situation wählte Georg Bätzing, Bischof von Limburg, deutliche Worte:
«Die Kirche muss sich in gewisser Weise neu erfinden, damit sie für die Menschen wieder wichtig wird. …Wenn wir es einfach so lassen wie bisher, wird sich die Kirche in vielen Punkten in kurzer Zeit erübrigt haben».
Wenn die Bibelpastoral sich kreativ an dieser Aufgabe beteiligt und sich dabei auf die schwierigen Fragen einlässt, ohne sich als Antwortgeberin zu verstehen, kann sie synodale Wege inspirieren und irritieren, indem sie einbringt, was Papst Franziskus in seinem Brief an die deutschen Katholiken «die Frische» und «den notwendigen ‚Biss‘ des Evangeliums» nennt 12, und daran erinnert, dass Synodalität kein Selbstzweck ist, sondern dazu beitragen soll, dass die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit «die Suche nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit» nicht aus den Augen verliert.
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Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).
Beitragsbild: D. Kosch
- Predigt zur Eröffnung der Weltsynode vom 10.10.2021. ↩
- Ansprache an die Delegation der katholische Aktion Frankreichs vom 13.01.2022. ↩
- Ansprache von Papst Franziskus an die Vertreter der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine, Bologna, 5. Juli 2019. ↩
- Vgl. Reisinger, Doris (Hg.), Gefährliche Theologien. Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren, Regensburg 2021. ↩
- Fuchs, Ottmar, Nichts ist unmöglich. Gott! Aspekte einer postkolonialen Bibelhermeneutik, Würzburg 2023, S. 18; vgl. die Rezension von Pock, Johann, Nichts ist unmöglich, Gott! Postkoloniale Bibelhermeneutik. ↩
- A.a.O., S. 103(-124). ↩
- A.a.O., S. 12. ↩
- Vgl. dazu Deeg, Alexander/Pickel, Gert/Jaeckel, Yvonne/Anika Mélix, Dimensionen biblischer Relevanz. Befunde einer empirischen Befragung zur gesellschaftlichen Verbreitung und Nutzung der Bibel in Deutschland 2022 (Forschungsbericht). Leipzig 2023, sowie Birnbaum, Elisabeth, Neue Studie zur Bibelverwendung in Deutschland. ↩
- Valentin, Joachim, «Nicht ohne dich». Mystische Sprache bei Michel de Certeau in: Bauer, Christian/Sorace, Marco A. (Hg.), Gott anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2019, S. 85-97, Zitat: S. 67. ↩
- Kleinschmidt, Sebastian, Kleine Theologie des Als ob, München 2023. ↩
- Peters, Tiemo Rainer, Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2017, S. 9. ↩
- Brief von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29.06.2019, Nr. 5. ↩