Der ökumenische Bibelsonntag wird seit über 40 Jahren in Deutschland am 3. Sonntag im Januar gefeiert. 2019 führte Papst Franziskus zusätzlich den katholischen Sonntag des Wortes Gottes ein – am 3. Sonntag des Jahreskreises. Beide Termine treffen nur selten wie in diesem Jahr zusammen. Für Deutschland entschied die Bischofskonferenz schon 2019, den weltweiten katholischen Bibelsonntag dauerhaft zeitgleich mit dem ökumenischen Bibelsonntag zu begehen. Katrin Brockmöller, Direktorin des deutschen Katholischen Bibelwerks, erläutert das Anliegen anhand der vorgesehenen Lesungen.
In der pastoralen Praxis legt ein ökumenisch gefeierter Bibelsonntag jedes Jahr die Finger in die Wundmale der innerchristlichen Ökumene: Wie und wo kann ein ökumenischer Gottesdienst am Sonntag morgens gefeiert werden? Wann und wie können wir gemeinsam auch vom Tisch des Brotes essen? Dürfen die Texte des ökumenischen Bibelsonntags anstelle der katholischen Leseordnung gewählt werden? Wie ökumenisch bin ich selbst? Dieses Jahr wird das auch noch symbolisch verdichtet, weil der Textvorschlag des ökumenischen Bibelsonntags just die berühmte Szene aus Joh 20,19-31 ist: Thomas will mit seinem Finger die Wunden Jesu berühren. Er will mit allen Sinnen erfahren, was er glauben kann.[1]
Die Frage nach unserem Umgang mit der Schrift
Im aktuellen Lesejahr C bieten die Texte der katholischen Leseordnung des „Sonntags des Wortes Gottes“ zudem zwei inspirierende Bibel-Bibeltexte: Die „Verlesung der Weisung des Mose“ aus Nehemia 8 und als Evangelium die sogenannte „Antrittsrede Jesu in Nazareth“ aus Lukas 4. Es lohnt sich auch, diese Texte ins Zentrum zu stellen. Beide „erzählen“ vom Hören biblischer Texte und welche Wirkung das jeweils auslöste. Damit provozieren beide Texte die Frage, wie ich selbst oder wir als Gemeinschaft einen biblischen Text hören wollen. Beide stellen also die Frage nach unserm Umgang mit Schrift.
Die Tora: Deutung der Vergangenheit und bleibende Zusage
In Nehemia 8,1-12 reagieren die Menschen auf das Hören des Bibeltextes spontan mit Weinen. Aber warum eigentlich weint das Volk? Weil die aktuelle Situation zum Heulen ist – in einer Stadt ohne Mauer und damit schutzlos? Weil so viel unsicher ist, politisch wie religiös und so viele Konflikte auszutragen sind? Weil all die Traumata der Kriegs- und Exilerfahrungen so präsent sind? Weil sie in einer Art Selbstreflexion ihre Schuld erkennen? Weil sie jetzt klar vor Augen haben, dass sie mit der Tora eine Weisung zum guten Leben gehabt hätten?
Zumindest in der literarischen Fiktion des Buches Nehemia werden wir als Lesende zu Zeugen eines sehr besonderen Ereignisses. Dem gesamten Volk, „allen Frauen und Männern und allen die mit Verstand zuhören können“ wird die gesamte Tora in einem feierlichen Ritual vorgelesen und erklärt. Sie wird mit diesem Ritual zu einer Art Verfassung der Gemeinschaft und ist so etwas wie eine „wiederholende Erinnerung “ der Offenbarung am Sinai.
Auf der Ebene der historischen Fiktion, wie sie das Nehemia-buch voraussetzt, war die Tora schon vor dem Exil da. Historisch ist sie allerdings erst im und nach dem Exil als Erzählzusammenhang gestaltet worden, um die Katastrophe theologisch zu deuten und zu bewältigen. Das führt dazu, dass diese Versammlung hört, was sie eigentlich schon kennt. Sie kann daher das Vorgelesene einerseits als Deutung ihrer eigenen Vergangenheit hören und zugleich als bleibende Zusage. Wer Verstand hat, muss beim Hören erkennen, dass die gesamte Katastrophe selbstverschuldet war, aber auch der Neuanfang alte Verheißungen erfüllt. Das Hören auf die Schrift ist eine Einladung zur Reflexion der Vergangenheit und soll Hoffnung auf eine gute Zukunft wecken. Um nur ein paar Verse anklingen zu lassen:
„… wenn ihr also tut, was in den Augen JHWHs, deines Gottes, böse ist und wenn ihr ihn erzürnt … dann werdet ihr unverzüglich aus dem Land ausgetilgt sein … JHWH wird euch unter die Völker verstreuen. Nur einige von euch werden übrigbleiben. … Dort werdet ihr JHWH, deinen Gott, wieder suchen. Du wirst ihn auch finden, wenn du dich mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele um ihn bemühst. 30 Wenn du in Not bist, werden alle diese Worte dich finden. In späteren Tagen wirst du zu JHWH, deinem Gott, zurückkehren und auf seine Stimme hören. Denn JHWH, dein Gott, ist ein barmherziger Gott. Er lässt dich nicht fallen und gibt dich nicht dem Verderben preis und vergisst nicht den Bund mit deinen Vätern, den er ihnen beschworen hat.“ (aus Dtn 4,1-31)
Feiert euer Leben und sorgt für die, die nichts haben! Die Gegenwart Gottes könnt ihr genau darin erleben.
Die Menschen bleiben in der Erzählung in Nehemia 8 aber offensichtlich in der Reflexion hängen und der Traurigkeit. Sie weinen. Es sind die Verantwortlichen, die sie nach vorne ins neue Leben schubsen. Seid still, hört auf zu weinen, schaut nach vorne und gestaltet jetzt eure Tage. Ich liebe es, wie die Leitungsriege hier reagiert. Sie vertiefen weder die Traurigkeit noch die Schuldfragen. Im Gegenteil rufen sie mit einem Verweis auf die Heiligkeit des Tages dazu auf, nach Hause zu gehen, gemeinsam zu essen und zu trinken und auch allen zu geben, die nichts haben. Macht euch keine Sorgen! Feiert euer Leben und sorgt für die, die nichts haben! Die Gegenwart Gottes könnt ihr genau darin erleben.
Das Leben als Ort der Gegenwart Gottes feiern
Die gesamte Passage aus Nehemia 8 ist wirkungsgeschichtlich zu einer Ikone jeder Art von „Wortgottesdienst“ geworden: Gebet, Lesung, Antwortgesang, Erklärungen, Entlassung. Auch die lukanische Szene des Evangeliums vom 3. Sonntag im Jahreskreis folgt diesem Schema. Jesus liest in der Synagoge vor und legt aus. Darauf reagieren die Menschen in der Synagoge intensiv. Erst staunen sie über „die Worte der Gnade“ aus seinem Mund, dann aber eskaliert das Gespräch. Sie wollen Beweise! Jesus lässt sich nicht instrumentalisieren und entkommt dem ersten Tötungsversuch im Lukasevangelium. Er geht einfach durch die Menge hindurch, unverletzt.
Literarische Leerstellen laden dazu ein, selbst nachzusinnen und auch selbst aufzufüllen.
Wir hören nicht, was Jesus in der Synagoge in Nazareth gepredigt hat – außer der Zusammenfassung: Heute hat sich das Schriftwort erfüllt. Wie hat er das aufgezeigt, welche Beispiele hat er gefunden, von welchen Erfahrungen hat er erzählt? Lukas lässt das offen. Eine literarische Leerstelle, die dazu einlädt, selbst nachzusinnen und auch selbst aufzufüllen.
Wir hören auch nicht die gesamten Passagen aus Jesaja, die Jesus bei Lukas vorliest. Es ist eine Mischung aus Zitaten, die auf jeden Fall von Jesaja 61,1f geprägt ist. Texte voll messianischer Hoffnungen. Wenn die sich jetzt erfüllen, dann ereignet sich im Evangelium genau das, was Maria im Magnifikat prophezeit: Die Mächtigen werden vom Thron gestürzt, die Hungernden beschenkt mit Gaben, aber die Reichen gehen leer aus.
Wie die Ermutigungen in Nehemia 8 ist auch Jesu Predigt darauf ausgerichtet, das konkrete Leben als Ort der Gegenwart Gottes zu feiern: Gebrochene Herzen zu heilen, Gefesselte zu befreien, gute Nachrichten weiterzugeben, Gemeinschaft und Verbundenheit erfahrbar zu machen. Die Zitate aus Jesaja weisen sehr klar auf, wie das gehen kann: durch ein Gnadenjahr JHWHs. Ein Jahr, das für echten Ausgleich sorgt, damit die Täter ihre Schuld loslassen können, aber gerade nicht ohne Gerechtigkeit für die Opfer. Es geht nicht um Almosen. Jubeljahr bedeutet, Rechte, Aufgaben und Besitz neu zu organisieren. Das ist herausfordernd – gerade in einem Heiligen Jahr.
Die Hörenden in der literarischen Fiktion des Lukas verstehen das nicht. Die Menschen in der Synagoge fragen nach seiner Herkunft und lassen sich nicht darauf ein, heute diese Vision von Heilung, Freiheit und Neuanfang zu gestalten. Im Anschluss an die Perikope in Nazareth erzählt Lukas davon, dass es kurz darauf in der Synagoge von Kafarnaum gelingt, die Menschen zu begeistern. Jesus heilt und lehrt und sein Ruf verbreitet sich. «Die Menschen suchten ihn; und sie kamen zu ihm hin und wollten ihn festhalten, damit er nicht von ihnen wegginge» (Lukas 4,42).
Dem Evangelisten geht es darum zu zeigen, dass die einen Jesu Verkündigung annehmen, die anderen eben nicht. Diese Ambivalenz ist prägend. Sie gehört zu seiner Theologie auch in der Apostelgeschichte. So wird Christus – wie Simon prophezeit – zum Licht, das die Heiden erleuchtet und Heil für das Volk Israel. Die Ablehnung provoziert die Öffnung auf andere Zielgruppen.
Darüber sprechen, welche Worte uns ins Herz fallen
Was auch immer am Bibelsonntag an Texten in den Gemeinden vorgelesen wird: Ob es die Erzählung von Thomas ist, der den Dingen und den Worten auf den Grund geht, oder ob es die Erzählungen aus Nehemia 8 und Lukas 4 sind: Jede biblische Erzählung, jeder Abschnitt der Schriften enthält diese Leerstellen, die gefüllt werden dürfen. Mit anderen Bibelstellen, mit Erfahrungen aus dem eigenen Leben, mit Wissen und mit weiteren Fragen. Das müssen nicht immer die tun, die vorgelesen haben und auch nicht immer nur einige wenige für alle andern. Vielleicht wird der Bibelsonntag so zu einer Einladung miteinander darüber zu sprechen, welche Worte uns ins Herz fallen.
[1]Für einen Gottesdienst zu Johannes 20,19-31 am 26. Januar 2025 gibt es wie immer von der ACK und weiteren Institutionen wunderbar vorbereitete kostenfreie Materialien (bibelsonntag.de) von Plakaten bis zur Predigtvorlage.
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Dr. Katrin Brockmöller leitet seit 20214 das Katholische Bibelwerk e. V. Neben der wissenschaftlichen Qualifikation (Promotion 1998) ist Katrin Brockmöller auch Pastoralreferentin, qualifiziert in hypnosystemischen Konzepten für Organisations- und Teamentwicklung, Ausbilderin für Sozialtherapeutisches Rollenspiel (asis), Trainerin im Netzwerk Bibliolog und Wanderreitführerin (FN).
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