Dem Koran begegnen – wie geht das? Im „Korano-Drama“ wird der Text zum Resonanzraum, der Begegnung ermöglicht. Tolou Khademalsharieh, Dirk Harms und Katrin Visse berichten über eine Berliner Erfahrung.
Den Koran kann man hören, lesen und auszulegen suchen. Aber ist noch anderes möglich? Wie viel Respekt ist nötig – und wie viel Distanz wäre zu viel? Wie viel an Vorwissen muss man mitbringen – und wie viel darf man nicht wissen? Wie viel muss man daran glauben – und inwiefern kann eine Offenheit dem Text gegenüber auch hilfreich sein?
Anders als die Bibel wird der Koran nicht seinem Inhalt nach erzählt oder nacherzählt. Er wird genau in seinem Wortlaut rezitiert, privat und kollektiv, im täglichen Gebet und außerhalb. Koranverse sind im muslimischen Leben überall präsent: In Form von Kalligraphie, Talisman, Tonaufnahmen, durch feierliche Rezitationen, durch Memorieren und im Gebet. Dabei gilt, dass das Sehen, Aufsagen, Hören, Tragen von Koranversen allein schon segensreich sind. Analog zur lectio divina oder der Ruminatio, bei der ein Text wiedergekäut und verdaut wird, ist eben nicht ganz klar, ob der Mensch den Text liest oder der Text den Menschen.
Was heißt das – den Koran „verstehen“ oder „nicht verstehen“?
Der Koran ist in einer einer von Mündlichkeit (Oralität) geprägten Gesellschaft verkündet worden. Menschen schrieben dort nicht, lasen nicht – sie hörten. Sie hörten mit ihren ganzen Sinnen, mit ihrem Dasein, weil sie weder Wiederlesen noch Nachschlagen kannten. Das Gesagte konservierten sie nicht. Sie verleibten sich das Gehörte ein. Das war die Art und Weise, wie sie Wissen und Kultur aufnahmen und tradierten.
Ähnlich in etwa wie bei den Psalmen spiel(t)en auch der Rhythmus und die Melodie sowie poetische Sprache und Rhetorik eine entscheidende Rolle. Und so gibt es auch hier die Erfahrung, dass ein Text einen begleitet und zu unterschiedlichen Zeiten einem Unterschiedliches sagt. Dabei stößt man in Bereiche vor, die jenseits der Worte, des Verstehbaren, liegen.
Wir suchten für die Begegnung mit dem Koran Wege, die uns in den Bereich, der hinter den Worten ist, führen kann – ein Ort, der jenseits dessen liegt, wo unsere Alltagslogik herrscht. Was dort das ‘Verstehen’ und das ‘Nicht-Verstehen’ des Korans aber heißt, wollten wir verstehen.
Wie sind wir vorgegangen?
Die Gestaltung des Raumes ist der erste Impuls: Ein Stuhlkreis ohne Tische, ohne Tafel. Die gewohnte Lernform brechen wir damit zunächst implizit – in den Stuhl einsinken, sich zurücklehnen, still auf eine Tafel schauen, Handouts lesen… all dies ist nicht möglich.
Mit einem intensiven ‘Warming up’ (Wup) zu Beginn der Session brechen wir diese Lernform auch noch explizit. Die Teilnehmenden (TN) werden durch körperliche Aktivität dazu gebracht, aus ihrer Alltagswelt herauszutreten; eine Welt, in der die Menschen mit ihren Gewohnheiten und Routinen eingebunden sind, gleich einem Korsett, das auch die Gedanken einschnürt und die Aufmerksamkeit wird einschläfert. Durch ausgewählte Übungen werden die TN ganzheitlich involviert. Dadurch setzen wir den zweiten Impuls: Außer ‘Kopf’ möchten wir ‘Hand’ und ‘Herz’ als Ressourcen des Verstehens aktivieren.
Das Wup dient auch einer bewussten Wahrnehmung; die des Selbst und die der anderen, jenseits aller Bewertungen und Etiketten, jenseits aller Worte. Damit setzen wir den dritten Impuls: Im Gegensatz zur Sprache kennt die Körper-Sprache keine Täuschung.
Das Wup entwickelt sich aus dem einfachen Gehen im Raum. Und das kommt im Verlauf der Veranstaltung immer wieder zum Einsatz; Der vierte Impuls: Eine Bewegung – ja eine Erkenntnis – beginnt mit den einfachsten Bewegungen – oder ‘angeblich’ einfachsten.
Durch das Wup kommen wir in den Flow. Spirituelle Kreativität speist sich aus dem, was jenseits des Unterbewussten in den Menschen lebt. Hier ist der Platz, eine Spielfreude zu entdecken und die eigene Ernsthaftigkeit, hinter der sich Scham und Hemmungen verbergen, loszulassen. Und vor allem den Mut zur Unperfektion. Übungen sind zum Üben, nicht zum Können da: Der fünfte Impuls.
Erst nach dem Wup kommen wir zur Vorstellungsrunde.
Der Koran spricht den Menschen an
17 Menschen zwischen 23 und 80 Jahren mit unterschiedlichsten Berufen sind gekommen. Aus muslimischem und christlichem Hintergrund, Männer und Frauen, Gläubige und Suchende. Mit dem Koran selbst waren nur die vertraut, deren Heimat der Islam ist.
Wir hatten keine Teilnahmevoraussetzungen erfordert, denn unsere Grundannahme war, dass der koranische Text im Unbewussten schlummernde Grunderfahrungen des Menschen anspricht und deswegen allen etwas sagen kann – und daraus wiederum eine spannende Interaktion entstehen kann. Der sechste Impuls: Vielfalt willkommen!
Um die gegenseitige Wahrnehmung nicht mit vielen Erklärungen zu überlagern, haben wir uns entschieden, im Laufe der Veranstaltung mit Haikus zu arbeiten. So bot es sich an, für die Vorstellungsrunde die Form des Haikus zu nutzen und diese gleich üben zu lassen. Ein Haiku ermöglicht es, das Erlebte in konzentrierter Form wiederzugeben und damit sich selbst zu schützen. Mit diesem Medium setzen wir den siebten Impuls: Ich sage oder zeige nur so viel, wie ich möchte.
Im Hinblick auf exegetische Überlegungen wählten wir im Vorfeld geeignete Korantexte aus und überlegten uns sorgfältig eine passende Dramaturgie für die Session. Dabei wollten wir den TN einen exegetisch durchdachten Rahmen anbieten, innerhalb dessen sie aber ihre persönliche Interpretation finden können. Daher müssten wir bei der Planung stets nachdenken, was die einzelnen Übungen jeweils bei den TN bewirken könnten. Im Prozess selbst versuchten wir wiederum alle unsere Vermutungen zu vergessen, die Türen zu öffnen und auf die Resonanzen der TN zu achten. Das ‘Nicht-Wissen’ war dabei ein Geschenk. Genau hier setzten wir noch einen wichtigen Impuls: Wir beschreiten einen gemeinsamen Weg ins Unbekannte, entdecken dabei aber etwas Eigenes.
Ausgewählt haben wir die frühmekkanischen Suren 93 und 94, zwei kurze und bündige Suren (in der Übersetzung von Nicolai Sinai, der eine philologisch fundierte, sowie worttreue, aber gleichzeitig sprachlich fließende Übersetzung anbietet).
Raum für eine wortlose Kommunikation
Zunächst sollten die TN Assoziationen zu drei zentralen Wörtern der Sure 93, nämlich ‘Waise’, ‘irrend’ und ‘bedürftig’, in sich wach werden lassen. Die Aufgabe hieß erst danach: Welcher Vers der Sure löst in mir am meisten Resonanz aus – auch wenn ich gar nicht weiß, warum? Der Vers führt mich – wohin?
Die resultierende Erfahrung schrieben die TN bei einem ‘Free Writing’ nieder: Fünf Minuten bewegt sich der Stift übers Blatt, ohne abzusetzen, ohne zurück zu blicken, allein dem Fluss der Gedanken folgend.
Diesen Text kondensierten die TN im nächsten Schritt zu einem Haiku. In Kleingruppen wurden diese Haikus dann in Form des ‘physical theatre’ in kleine Szenen umgesetzt. Die Essenz der Gruppenarbeiten performierten die Gruppen später im Plenum.
Die Szenen berührten, gerade auch, weil in ihnen eine wortlose Kommunikation zwischen den TN stattfand. Jeder Mensch hatte den Freiraum beim Zuschauen zu assoziieren – und vieles Unaussprechbare und Unausgesprochene konnte sichtbar zu Gehör kommen. Es entstanden Räume der Transzendenz.
Der Sure 94 begegneten wir auf eine andere Art und Weise. Diese hat an sich eine körperliche Dimension. Sie verbindet körperliche Zustände assoziativ-bildhaft mit geistigen. TN wurden eingeladen, beim Hören des Textes in der deutschen Übersetzung zu explorieren, wie die in der Sure beschriebenen körperlichen Zustände mit dem Körper ausgedrückt werden könnten. Und es stellte sich heraus, dass die Sure konkrete ‚physical acts‘ und in vielerlei Hinsichten ähnliche Bilder wachrufen konnte. Wir hatten einen gemeinsamen Nenner gefunden: Unseren Leib.
Daraufhin wurde der Text der Sure auf Arabisch rezitiert. Die klangliche Kraft der koranischen Sprache in der arabischen Rezitation konnte durch die Qualität des Hörens der Gruppe sich so sehr entfalten, dass eine gemeinsame Rezitation auf arabisch – also ein Nachsprechen der für viele unbekannten Laute und Worte – sich ergeben hat. Dies war weder geplant noch zu erwarten. In dieser Rezitation ist nicht nur die Sprachmalerei in den Lauten spürbar geworden, sondern auch eine Verbundenheit durch Klang.
Was ist passiert?
„Ich habe“, so eine Teilnehmerin, „eine Gemeinschaft mit den anderen Teilnehmenden und dem Text gespürt, die über alle Grenzen hinweg ging. Wir waren nicht mehr Christen oder Muslime, wir waren einfach Menschen, die von diesen Versen berührt wurden.“
„Es war“, so ein Teilnehmer, „eine geradezu befreiende Erfahrung, die echte Entstehung eines aus dem Augenblick geborenen Zusammengehörigkeitsgefühls! Zu den Offenbarungen dieses vielfältigen Geschehens gehörte es für mich, die Leiblichkeit des Textes zu erfahren und die eigene Leiblichkeit als Deutungsschlüssel des Textes zu erkennen. Was für eine großartige Bühne tut sich da auf! Was für ein Zeitenwechsel im Verständnis der heiligen und der unheiligen Texte!“ (Johannes R. Hampel)
Was haben wir gelernt?
Wir haben darauf vertraut, dass ein Bibliodrama mit dem Koran bzw. ein ‘Korano-Drama’ von der besonderen Kraft des koranischen Textes lebt: dass er zum Menschen sprechen kann – unabhängig von Herkunft und Biographie. Die Grundannahme hat sich für uns bestätigt.
Und für uns lebt ein Korano-Drama auch vom Vertrauen in die Menschen: dass jeder Impuls, der von einem Menschen in der Begegnung mit der heiligen Schrift ausgeht, relevant ist. Wichtig ist dabei, dass der Prozess mit exegetischem Wissen untermauert wird, jedoch der Raum für Assoziationen offen bleibt.
Die Heterogenität der Gruppe erwies sich in der Tat als großer Vorteil. Jeder und jede TN brachte etwas Einzigartiges in den Prozess hinein. Diese Fülle bereicherte den Prozess durch und durch und löste eine kreative Produktivität in der Begegnung aus.
Aus den Erfahrungen dieses Korano-Dramas haben wir schlussendlich gelernt, dass Respekt dem Text gegenüber sich auch darin zeigt, dass man ihm zutraut, sich ihm auf so unterschiedliche Weisen zu nähern: Innen- und Außenperspektive, Vor-Wissen und Nicht-Wissen haben die Vielfalt an Resonanzen geschaffen, die noch auf vielen Ebenen weiter wirken.
Anmerkungen
Sure 93 – Der helle Morgen
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers!
1 Beim hellen Morgen
2 und bei der Nacht, wenn sie still ist!
3 Dein Herr hat dich nicht verlassen und nicht verworfen;
4 das Jenseits ist besser für dich als das Diesseits;
5 dein Herr wird dir geben, dass du zufrieden sein wirst.
6 Fand er dich nicht als Waise und nahm dich auf?
7 Fand er dich nicht irrend und leitete dich?
8 Fand er dich nicht bedürftig und machte dich reich?
9 So tu der Waise nicht Unrecht,
10 weise den Bittenden nicht ab
11 und kündige von der Gnade deines Herrn!
Sure 94 – Die Weitung
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers!
1 Haben wir dir nicht die Brust geweitet,
2 und haben wir nicht die Bürde von dir genommen,
3 die deinen Rücken niederdrückte,
4 und haben wir nicht dein Ansehen erhöht?
5 Mit dem Schweren kommt Leichtes,
6 mit dem Schweren kommt Leichtes!
7 Wenn du nun frei bist, so mühe dich
8 und strebe deinem Herrn zu!
Koranübersetzung von Nicolai Sinai aus:
Chronologisch-literaturwissenschaftlicher Kommentar zum Koran, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Nicolai Sinai unter Mitarbeit von Nora K. Schmid, unter Verwendung von Vorarbeiten Angelika Neuwirths. Betaversion: Stand 25.10.2022.
Online unter: https://corpuscoranicum.de/de/verse-navigator/sura/93/verse/1/commentary
und https://corpuscoranicum.de/de/verse-navigator/sura/94/verse/1/commentary
- Haiku: Japanisches Kurzgedicht aus drei Zeilen aus 5-7-5 Silben. Da jedoch japanische Silben nicht den deutschen Silben entsprechen, ist es inzwischen legitim, die Silbenzahl als Richtwert, nicht aber als ehernes Gesetz zu betrachten.
- ‘Physical theatre’ ist eine Form des Theaters, in der als Kommunikation nicht die Sprache, sondern die Ausdruckskraft des Körpers genutzt wird.
- ‚Physical acts‘ ist die physische Handlung, die in ‚physical theatre‘ zum Vorschein kommt. Sie muss die Worte nicht kommentieren oder verstärken, sondern sie begleitet sie, stellt sie in ein neues Licht.
Weitere Literatur
- Tolou Khademalsharieh und Dirk Harms: Bibliodrama „End and Beginning. A dive into the Sura 82 of the Quran“ – Ein Gespräch hinter den Kulissen; in: TEXTRAUM. Bibliodrama Information, Beiheft: Online Bibliodrama, 27. Jahrgang, Ausgabe 55, November 2021, Hg. v. Gesellschaft für Bibliodrama e.V., S. 29–30.
Die Autorinnen und Autor:
Dr. des. Tolou Khademalsharieh ist Islam-Theologin, promoviert an der Uni Paderborn im Bereich der Koranexegese.
Dirk Harms ist ausgebildet als Theaterpädagoge (BuT) und Bibliodramaleiter (GfB) und wurde qualifiziert in Körper- und Bewegungstherapien. Er ist zudem evangelischer Theologe.
Dr. Katrin Visse ist katholische Theologin und Islamwissenschaftlerin. Sie ist Referentin für Islam und Theologie an der Katholischen Akademie in Berlin.