Mit dem Projekt „Bildstörungen“ gehen die Berliner Theologinnen Karoline Ritter und Katharina von Kellenbach den Mustern öffentlicher Kommunikation nach, in denen sich christliche Judenfeindschaft und israelbezogener Antisemitismus verbinden und in Vorstellungen und Denkmuster einschleichen.
Das Projekt „Bildstörungen“ der Evangelischen Akademie zu Berlin wird seit 2020 vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein finanziert, um antisemitische Zerrbilder von Juden:Jüdinnen an den christlichen Wurzeln zu stören und zu entstören. Es geht um judenfeindliche Bilder, die sich in Jahrhunderten christlicher Auslegungen biblischer Texte verselbstständigt haben: Juden:Jüdinnen als Feind:innen Jesu, als Verschwörer (Hohepriester) und Verräter (z.B. Judas und die Jerusalemer Menschenmenge).
Die „Lehre der Verachtung“
verzerrt nicht nur
die jüdische Tradition
Die „Lehre der Verachtung“, wie das der jüdisch-französische Historiker und Holocaustüberlebende Jules Isaac nannte, ist tief in christlicher Theologie verankert und schafft Stereotype einer alten, fanatischen Gesetzesreligion, die einem Gott der Rache huldigt, sich als auserwähltes Volk dünkt, und ein Land aneignet, um die Bewohner:innen zu unterdrücken und auszurotten. Diese Bilder werden in Predigten, Kunst, Musik, und Literatur reproduziert und verfestigen Vorurteile von Juden:Jüdinnen als hartherzig und geldgierig, rachedurstig und überheblich, heuchlerisch und grausam. Den meisten ist nicht bewusst, dass es sich hier um Zerrbilder handelt. Antisemitismuskritik ist jedoch nicht nur Kritik sondern die Neuentdeckung der innerjüdischen Verweise und vielschichtigen Bedeutungen der „guten Nachricht“. Die „Lehre der Verachtung“ verzerrt ja nicht nur die jüdische Tradition sondern auch die christliche Botschaft! Im Rahmen des Projektes laden wir monatlich online zu einer antisemitismuskritischen Bibelauslegungsreihe ein, in der renommierte und junge Exeget:innen alternative Auslegungen vorlegen. Die Vorträge sind auf Webseite der Evangelischen Akademie zu Berlin abrufbar https://www.eaberlin.de/antisemitismuskritische-bibelauslegungen/).
Bilder, die auf Motive
christlicher Judenfeindschaft zurückgreifen
Das Projekt produziert auch einen Podcast, dessen dritte Staffel sich—nach dem 7.Oktober 2023—mit israelbezogenen Antisemitismus beschäftigt. Denn was den Diskurs maßgeblich beeinflusst, ist die Fülle an Bildern, die seither die Timelines in den sozialen Medien bestimmt und auch die mediale Berichterstattung begleitet. Darin finden sich unter anderem Bilder, die auf Motive christlicher Judenfeindschaft zurückgreifen, wofür mit den Mitteln antisemitismuskritischer Theologie sensibilisiert werden kann. Wir verfolgen vier bildreiche Schlagworte, die immer wieder im Kontext des sog. Nahostkonfliktes auftauchen.
Bilder von Jesus
als palästinensischem Baby
Oft wird zum Beispiel von Israel als „Kindermörder“ gesprochen, was unserer Meinung nach, den Vorwurf des Gottesmordes aufruft. In den sozialen Medien kursierten Bilder, besonders zu Ostern und zur Weihnachtszeit, von Jesus als einem palästinensischen Baby, in eine Kufiyeh gewickelt, der in den Trümmern Gazas zur Welt kommt. Dieses Bild wurde von presstv.ir, einer iranischen Webseite unter der Überschrift: „What would Jesus say to Israel’s genocidal war?“ weiterverbreitet. Auf der Plattform X tauchten Bilder des gekreuzigten Jesus auf, ebenfalls mit einer Kufiyeh bedeckt, unter dem Spruch: „They killed him again“.
Jesus als Jude
Christliche Bildtraditionen machen es leicht, Jesus von Nazareth als einen nicht-jüdischen Palästinenser zu akkulturieren und die Schuld an seinem Tod bei den Juden:Jüdinnen zu suchen. Rezipiert und verbreitet werden solche Bilder auch von progressiv-säkularen und muslimischen (Iran!) Medien und Personen. Solche Bilder werden eingesetzt, um Israel zu dämonisieren, sie tragen hingegen nichts dazu bei, politisch angemessen über diesen schrecklichen Krieg zu sprechen. Für die „Bildstörungen“, die wir in den Podcastfolgen entwickeln, nutzen wir Nathan Sharanskis Drei-D-Regel, um zu diskutieren, ob bestimmte biblische Geschichten und Bilder dazu dienen, Israel zu dämonisieren, zu delegitimieren, und mit doppelten Standards zu arbeiten. Die Bildstörung dieser wirkmächtigen Auslegung der Passionsgeschichte besteht darauf, die Passion des Juden Jesus von Nazareth nicht als Folge jüdischer Machtgier und Perfidie darzustellen, sondern als Konsequenz römischer imperialer Willkürherrschaft. Jesus hat als Jude gelitten und starb als Jude.
Es gibt in der Bibel
keine Helden
Eine weitere Folge behandelt die Geschichte von David und Goliath, dessen Steinschleuder zu einem Symbol des palästinensischen Widerstandes geworden ist. Aber wer ist hier eigentlich der Hirtenjunge, der mit ein paar Kieselsteinen gegen den schwer gerüsteten Riesen antritt? Brauchen wir nicht eine genauere politische Analyse, um die spezifischen Interessen und Strategien verschiedener Akteure (Israel, Hamas, Gaza, Iran, Hezbollah, Libanon, Huthi, UN, USA, Ägypten, Deutschland—die ja alle nicht monolithisch agieren) zu verstehen? Im Bild wird die Geschichte verkürzt, um die Guten von den Bösen, und die Ohnmächtigen von den Mächtigen zu unterscheiden. Auch hier wird David seiner Jüdischkeit enteignet. Zudem, und darin besteht die Bildstörung, eignen sich biblische Geschichten nicht zur Heroisierung. David ist eine schillernde Persönlichkeit, ein Held, der doch zutiefst problematisch und fehlbar bleibt. Es gibt in der Bibel keine Helden, Unschuldige, Gute, sondern immer nur Menschen die vor Entscheidungen gestellt werden, deren Konsequenzen sie nicht absehen können. Dieses Verständnis entspricht auch der politischen Komplexität des Nahostkonflikts viel eher.
ein Spukbild
jüdischer Rachelogik
Ein drittes Beispiel: Die Sprachfloskel von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die regelmäßig in den Medien auftaucht, um vor „Vergeltungsschlägen“ und „Racheakten“ zu warnen—übrigens nur im Krieg zwischen Hamas und Israel, nicht zwischen Russland und der Ukraine. Das ist ein Beispiel für Nathan Sharanskis Prüfkriterium des „Doppelstandards“. Hier wird das Bild eines jüdische Gottes der Vergeltung aufgerufen, von der sich die christliche Religion des Friedens und der Versöhnung abheben will. Diese Fehlinterpretation beginnt in der Bergpredigt und missversteht das Talionsprinzip im Buch Exodus: ein an Richter adressiertes, Entschädigungsprinzip, mit dem Konflikte juristisch beigelegt werden sollen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hat noch nie körperliche Racheakte legitimiert, sondern einen Grundsatz für finanzielle Entschädigungsleistungen aufgestellt, die von einem Gericht auferlegt werden. Erst antijüdische Auslegungen haben daraus das Spukbild jüdischer Rachelogik (gegenüber christlicher Friedensliebe in problematischer Absetzung von den jüdischen Wurzeln) geschaffen.
Komplexe Fragen der Verantwortung
Im Kontext des Gazakrieges fragen wir, wie denn ein Frieden in Gerechtigkeit aussehen könnte. Was bedeutet es, einen Waffenstillstand zu fordern, solange Raketen fliegen, Geiseln festgehalten und die Verantwortlichen für die Vergewaltigungen und Massaker vom 7. Oktober 2023 gefeiert werden? Worin besteht unsere Pflicht, Täter:innen zur Rechenschaft zu ziehen und Opfer angemessen zu entschädigen? Was bedeutet das für die unermesslichen Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza? Welche Entschädigungsleistungen gebührt ihnen? Fragen der Verantwortung, Sühne und Entschädigung bleiben hochaktuell—und erheblich komplexer als es Schlagworte wie „Genozid“ und „Siedlerkolonialismus“ vermuten lassen.
Christliche Botschaft,
die sich nicht als besser darstellt.
Das Projekt Bildstörungen will die Logik christlicher Theologie verändern, die Bibel als jüdische Schriften wieder entdecken, und Jesus von Nazareth als jüdischen Mann, der als Beschnittener selbstverständlich in die Synagogen geht, zum Pessachfest nach Jerusalem pilgert, und mit seinen jüdischen Kolleg:innen, u.a. mit Pharisäern und Schriftgelehrten, über das gottgefällige Leben und die richtige Auslegung der Gebote streitet. Wir möchten eine christliche Botschaft, die sich nicht immer als besser, neuer, menschenfreundlicher, toleranter, gnadenreicher, verheißungsvoller als die „alte“ jüdische Botschaft darstellt, sondern solidarisch und mit Respekt über ihre jüdische und muslimische Geschwisterreligion spricht.
Die Veröffentlichung der dritten Staffel kann hier https://www.instagram.com/projektbildstoerungen/ und hier www.eaberlin.de/bildstoerungen-podcast nachverfolgt werden.
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Katharina von Kellenbach, Prof. em. Dr., war Lehrstuhlinhaberin für Religionswissenschaft am St. Mary’s College in Maryland und verantwortet heute als Projektreferentin die „Bildstörungen“ der Evangelischen Akademie Berlin.
(Bild:Copyright bei EAzB/Karin Baumann )
Karoline Ritter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Ev.-Theol. Fakultät der Universität Greifswald und Mitarbeiterin bei dem Projekt „Bildstörungen“ der Evangelischen Akademie Berlin.
(Bild: Gina Heitmann)
Foto: Anton Nazaretian / unsplash.com