Bildung verändert. Dass Bildung auch Gewalt zurückzudrängen vermag und den Frauen Freiheit ermöglicht, zeigt das Projekt des Jesuit Worldwide Learning. Ein persönlicher Bericht aus Bamyan in Afghanistan von Peter Balleis SJ.
„In Bamyan sind die Menschen freier“, so die Aussage einer Studentin in Herat, einer alten traditionsreichen Stadt an der Seidenstrasse im Westen Afghanistans nahe der Grenze zum Iran. Die Studentin machte mit Jesuit Worldwide Learning (JWL) ein akademisches Online-Studium und erwarb in diesen Tagen ein Diploma in Liberal Arts mit der Regis Universität in Denver, Colorado. Sie studiert zusammen mit fast 400 StudentInnen aus über 40 Ländern im virtuellen Klassenzimmer und besucht mit ihnen online die gleichen Kurse. Darunter sind auch über 30 StudentInnen in Bamyan. Bamyan liegt einige Hundert Kilometer von Herat entfernt im Zentralmassiv von Afghanistan, einem Hochtal umgeben von Fünftausender-Berggipfeln. Bamyan wurde im Jahre 2001 international bekannt, als die Taliban vor den Augen der Weltbevölkerung die beiden größten Buddha-Statuen, aus dem Stein des Berges gehauen, in die Luft sprengten und das Weltkulturerbe bis in die Seele der Menschen in Bamyan zerstörten.
Bamyan: Hier überblickten einst die beiden grössten, von den Taliban zerstörten Buddha-Statuen das Hochtal.
Nur 200 Meter entfernt von der leeren Grotte im Berg, wo einst der Weibliche Buddha stand, und die wie leere Augenhöhlen das Hochtal überschaut, befindet sich das Lernzentrum, in dem täglich hunderte junge Frauen und Männer die Kurse des Jesuit Refugee Service (JRS) und das akademische Online-Studium mit JWL besuchen.
Vielleicht ist es mehr als nur ein Zufall, dass die lokale Regierung dieses Gebäude für die Bildungsarbeit von JRS und JWL zur Verfügung stellt. Im Kontext der Geschichte von Bamyan hat es eine tiefere Bedeutung, die ich mit den zentralen Begriffen von Bildung und Befreiung sowie unter der Perspektive der Frauen beleuchten möchte.
Weisheit und Toleranz sind Werte, für die die Buddha-Statue stand und steht.
Die JWL Online-StudentInnen machen ein breit aufgestelltes Grundstudium von 45 Kredits in Liberal Arts, also ein geisteswissenschaftliches Grundstudium. Dazu gehört auch ein Kurs mit dem Titel „Weltreligionen“. Interessanterweise wird gerade dieser Kurs immer wieder bei Interviews von StudentInnen als ein sehr besonderer Kurs erwähnt, unabhängig ob die StudentInnen Christen in Africa, Buddhisten in Myanmar oder Muslime im Irak und Afghanistan sind. Allen Studierenden öffnet dieser Kurs in neuer Weise die Augen für andere Religionen und ermöglicht eine Wertschätzung der anderen und größere Toleranz. Weisheit und Toleranz sind Werte, für die die Buddha-Statue stand und steht. Religiöse Intoleranz, Blindheit und Unwissenheit haben die Taliban dazu bewogen, das Symbol der Offenheit und Toleranz, den weiblichen Buddha, zu zerstören. Gewalt ist per se blind und dumm. Es ist den Taliban nur zum Teil gelungen, denn in den Herzen und der Kultur der Hazara, die Schiiten sind, lebt eine größere Offenheit weiter. Bei den Hazara gibt es keine verschleierten Mädchen und Frauen. In Bamyan sind die schiitischen Frauen im öffentlichen Leben freier als im sunnitischen Herat, wo die Mädchen nur im Klassenzimmer von JWL ihren Umhang ablegen. Das Curriculum von JWL stärkt die Werte der Offenheit und Toleranz, wie sie in der Tradition des Buddhismus (vor der Islamisierung) prägend waren.
Gewalt ist per se blind und dumm.
Die Taliban haben beide Buddha-Statuen, den männlichen und den weiblichen Buddha zerstört. Ihr religiös überhöhter Extremismus richtete sich jedoch immer stärker gegen die Frauen als gegen die Männer. Mädchen war der Schulbesuch in der Talibandiktatur verboten. Aber die Zerstörung des weiblichen Buddhas zerstörte auch den männlichen Buddha, nicht nur physisch, sondern auch in tieferem Sinn. Die Unterdrückung der Frauen ist auch schädlich für die Männer. Mit JWL studieren in den fortgeschrittenen Englischkursen und im akademischen Studium mehr Mädchen als Jungs. Diese jungen Frauen sehen ihre Chance in der Bildung, die ihren Müttern veweigert war. Die Mütter mancher dieser Mädchen sind nur ein Jahr oder nie in die Schule gegangen. Deshalb stehen sie ganz hinter dem Studium ihrer Töchter und waren stolz, als die ersten 7 Studentinnen und 5 Studenten am 1. März das Diploma in Liberal Arts in Bamyan erhielten. Ein Traum, der ihnen verweigert war, ist in ihren Töchtern Wirklichkeit geworden. Ein schon betagter Vater eines Studenten sagte, dass er blind war und nicht möchte, dass sein Sohn in dieser Blindheit lebe. Keine Bildung und kein Wissen zu haben, ist für ihn wie die Blindheit: Sie hält die Menschen unfrei. Jede Diktatur, nicht nur die der Taliban, kontrolliert das Wissen der Menschen, manipuliert die Wahrheit und unterdrückt und blendet die Menschen mit dem Instrument der Unwissenheit.
Jede Diktatur, nicht nur die der Taliban, kontrolliert das Wissen der Menschen.
Am Tag nach der Graduierungsfeier in Bamyan fuhren wir mit einer Gruppe von Studentinnen zu einem Skihang auf 3000 m, an dem die Männer einen Abfahrtslauf veranstalteten. Skifahren war bislang die Domäne der Männer. Drei junge Frauen hatten schon vor einiger Zeit mit dem Skifahren begonnen, völlig ungewohnt und undenkbar vor 5 Jahren. Es kam auch eine Gruppe weiterer Studentinnen mit, die noch nie auf Skiern standen. Wir hatten zusätzliche Skier vom Skiclub Bamyan dabei, und alle probierten es aus, rutschten mutig zum ersten Mal auf den Brettern den Hang hinunter. Sie hatten ihren Spass und sie werden es wieder tun. Der Skiclub der Frauen von Bamyan war geboren. Es ist dieses Selbstvertrauen, das in den jungen Frauen im Studium wächst, die Erkenntnis, ihren männlichen Kommilitonen gegenüber gleichgestellt zu sein. Im JWL Computerlabor sind Studentinnen und Studenten ungezwungen und respektvoll zusammen.
Der Ski-Club der Frauen von Bamyan war geboren.
Nach dem Skifahren trafen wir uns am Spätnachmittag noch mit dem Fahrradclub der Mädchen. Viele junge Frauen müssen oft über eine Stunde zu Fuss laufen, um in des Lernzentrum von JWL zu kommen. Die Jungs nehmen das Fahrrad oder manche auch des Moped. So entschied sich eine Studentin vor 2 Jahren, das Fahrradfahren zu lernen. Sie wurde von den Jungs im Dorf beschimpft und mit Steinen beworfen. Ihr Vater jedoch, der selber Imam ist, versicherte ihr, dass es keine Stelle im Quran gäbe, die den Mädchen und Frauen das Fahrradfahren verbieten würde. Sie blieb standhaft, fuhr mit dem Fahrrad und brachte anderen Mädchen das Fahrradfahren bei. Der daraus entstandene Fahrradclub der Mädchen gewann schon einen Preis bei einem Rennen in Kabul. Die junge Frau sagte, dass sie auf dem Fahrrad die Freiheit spüre, dorthin zu fahren, wohin sie möchte.
Die Studentinnen von JWL sind Vorreiterinnen einer sanften Befreiung der Frauen aber auch der Männer. Im Studium gewinnen sie das Selbstbewußtsein, mit dem Sie den Mut haben zu jenen Veränderungen, die ihnen helfen. Das kritische Denken, das mit dem Grundstudium in Liberal Arts gefördert wird, läßt sie Fragen stellen und manche unterdrückende Tradition verändern. Es ist keine militante und gewaltsame Veränderung, wie jene der Taliban, denn Gewalt ist nicht befreiend sondern unterdrückend, sie ist dumm und hält dumm. Befreiung kann nur sanft sein, ja, vielleicht kann man sagen, mit weiblicher Sanftheit befreiend. Die Studentinnen machen ihre männlichen Kommilitonen nicht herunter, sie wollen nur gleiche Rechte und Chancen haben. Indem sich die jungen Frauen durch kritisches Hinterfragen und neues Handeln sanft von ihren eigenen Unfreiheiten befreien, befreien sie auch ihre Brüder, die verantwortlich sind für die unterdrückenden Verzerrungen. Es hat wohl einen tiefen Sinn, dass es in Bamyan immer eine Statue des männlichen und eine des weiblichen Buddhas in Komplementarität gab. Es ist nicht einfach, beide Statuen aus dem zerbröseltem Stein neu aufzurichten, aber es ist möglich und noch wichtiger die Werte einer toleranten und freien Kultur in den Herzen und Köpfen der neuen Generation in Bamyan aufzurichten.
Indem sich die jungen Frauen durch kritisches Hinterfragen und neues Handeln sanft von ihren eigenen Unfreiheiten befreien, befreien sie auch ihre Brüder, die verantwortlich sind für die unterdrückenden Verzerrungen.
In Bamyan sind die Menschen freier und in Bamyan sind die Menschen auch friedlicher. Während in anderen Teilen Afghanistans noch die blinde Gewalt herrscht, besteht in Bamyan und an manch anderen Orten in Afghanistan, aber auch in den Lernzentren von JWL in Herat, Gibrael und bald Sheikmiran in der Daikundi Provinz wie in Bamyan ein friedlicher Raum, in dem sich durch Bildung eine sanfte Befreiung vollzieht. Das ist die Generation, die Afghanistan in wenigen Jahren lenken wird, so die Hoffnung von JWL. Es werden vor allem die Frauen sein, die diese Befreiung ihrer selbst und ihrer Brüder bewirken.
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Text und Bilder:
Peter Balleis SJ, Executive President des Jesuit Worsldwide Learnings (JWL)