Menschen mit geistiger Behinderung die Bildungsfähigkeit abzusprechen, ist angesichts zunehmender nationalsozialistischer Ideologien eine existenzielle Bedrohung für die Personen wie für den Wert unserer Gesellschaft. Theresa Stommel stellt sich dieser Gefahr mit ihrem Bildungsverständnis und einer bildungsphilosophischen Ausarbeitung des Staunens entgegen.
Bildung ist eine der wichtigsten Ressourcen gegenwärtiger Gesellschaften. Bildung verspricht Wachstum, Unabhängigkeit, Sicherheit, soziale Mobilität und gesellschaftlichen Wandel. Sie ist damit ein wesentlicher Faktor für die individuelle und gesellschaftliche Lebensqualität. Nicht grundlos ist Hochwertige Bildung auf Rang vier der insgesamt 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Weltgemeinschaft für eine bessere Zukunft platziert. Bildung ist mit dem normativen Anspruch verbunden, ein gutes Leben zu ermöglichen. Und hierfür sind bestimmte Basiskompetenzen, die sog. literacies, wie etwa das Lesen und Rechnen, aber auch digitale Kompetenzen von Bedeutung.
Entsprechend erschüttert zeigen sich (Bildungs-)Politik und eine breite Öffentlichkeit angesichts der Veröffentlichung der Ergebnisse der achten PISA-Erhebung im Dezember des vergangenen Jahres. Dokumentieren die Ergebnisse also eine weitere deutsche „Bildungskatastrophe“?1 Ganz gleich, ob auf diese Frage nun eindeutig zu antworten ist, oder nicht, zeigt die PISA-Studie bildungsbezogene Ambivalenzen in besonderer Schärfe auf, die sich zwischen (ökonomischen, sozialen, politischen) Versprechen und Hoffnungen einerseits und fehlenden Kompetenzen, (Bildungs-)Krisen und Mangel andererseits aufspannen. Dieser Ambivalenz entsprechend, werden gegenwärtige Bildungsdiskurse lautstark und disziplinübergreifend wie öffentlich geführt.
Ge-hindert, be-hindert, vergessen.
Vergessen werden dabei aber häufig Personen, die aufgrund von Vorurteilen bezüglich ihrer individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen an Bildung, Kompetenzerwerb und damit letztlich an ihrer gesellschaftlichen Teilhabe ge- bzw. be-hindert werden. Diese Personen sollen hier im Begriff Menschen mit geistiger Behinderung erfasst werden. Menschen mit geistiger Behinderung teilen Exklusionserfahrungen in nahezu allen Lebensbereichen wie Bildung, Freizeit oder Arbeit und sind von sozialen Ausgrenzungspraktiken betroffen. Der individuelle Kompetenzerwerb lässt sich bei Menschen mit geistiger Behinderung mittels output-orientierter Testverfahren nicht unmittelbar nachweisen. Das führt nicht selten zu einer Vernachlässigung der Personengruppe im Bildungsdiskurs bis hin zu Rückschlüssen, die hinsichtlich der allgemeinen Bildungsfähigkeit der Personengruppe pauschal gezogen werden.
Während also der ‚PISA-Schock‘ in der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte vornehmlich die (begründete) Sorge betrifft, zukünftige Generationen könnten gesellschaftlichen Krisen und Transformationen wegen mangelnder Basiskompetenzen nicht (mehr) hinreichend konstruktiv begegnen, hat die Studie im Kontext von geistiger Behinderung weitere, gravierende Konsequenzen. Nicht selten führt etwa eine durch PISA befeuerte Reduzierung des Bildungsbegriffs auf die Ausbildung und den Zuwachs (schrift-sprachlicher) Kompetenzen dazu, dass Menschen mit geistiger Behinderung die universale Bildungsfähigkeit abgesprochen wird. Und das wiederum stellt eine existenzielle Bedrohung für die Personengruppe dar, insofern das Absprechen der Bildungsfähigkeit in Zeiten des Nationalsozialismus als Legitimation zur Vernichtung von Menschen mit Behinderung diente. Diese Tatsache ist vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen und einer internationalen Zunahme rechter Ideologien besonders alarmierend.
Menschen wird die universale Bildungsfähigkeit abgesprochen.
Die Absprache der (vermeintlich) universalen Bildungsfähigkeit des Menschen mit entsprechenden Konsequenzen kann allzu leicht vorgenommen werden, wenn Kompetenzerwerb mit Bildung gleichgesetzt wird. Dabei bleibt allerdings weitgehend unbeachtet, dass Bildung als philosophisch begründetes Konzept weit mehr Dimensionen umfasst, als im Begriff der Kompetenz zum Ausdruck kommt. Die vermutlich bekannteste Figur der deutschen Bildungsgeschichte, Wilhelm von Humboldt, beschreibt Bildung im Sinne des wahren Zwecks des Menschen als die „höchste und proportionirlichste“ Entfaltung aller „Kräfte zu einem Ganzen“2 Damit meint Bildung bei Humboldt nicht allein die Ausbildung von Lese-, Rechtschreib- und Rechenfähigkeiten, sondern darüber hinaus die Entfaltung der „geistigen, körperlichen und emotionalen Vermögen des Menschen wie Vernunft, Einbildungskraft, Vorstellungskraft, Urteilskraft, körperlich-praktische Kraft und Handlungskraft“.3 Und hierfür bedarf es wiederum der Auseinandersetzung und Wechselwirkung mit der Welt, um das Leben in dieser Welt bestmöglich gestalten zu können.
In Anlehnung an Humboldts Sprachtheorie bestimmt zudem Hans-Christoph Koller Bildungsprozesse im Gegensatz zu Lernprozessen als „Prozesse höherer Ordnung […], bei denen nicht nur neue Informationen angeeignet werden, sondern auch der Modus der Informationsverarbeitung sich grundlegend verändert“.4 Koller beschreibt Bildung „als […] Prozess der Erfahrung […], aus dem ein Subjekt ‚verändert hervorgeht‘“(ebd., S. 9.), wobei dieser „Veränderungsvorgang […] nicht nur das Denken, sondern das gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selber [betrifft]“ (ebd.). Im Bildungsprozess verändern sich laut Koller (sprachliche) Strukturen des Welt- und Selbstbezugs durch negative Erfahrung, durch Erfahrung des Fremden bzw. damit zusammenhängend durch Irritation, Scheitern und Zweifeln.
Menschen mit geistiger Behinderung durchleben Erfahrungsprozesse, in denen sich Welt- und Selbstbezüge verändern. Sie sind Teil der Welt bzw. in der Welt. Zugleich sind sie über das Medium des Leibes in relationaler Verbundenheit zur Welt und damit Widerfahrnissen notwendigerweise ausgesetzt. Menschen mit geistiger Behinderung sind somit von der universalen Annahme menschlicher Bildungsfähigkeit nicht ausgenommen, obschon es ihnen häufig aufgrund von Zuschreibungen und Vorurteilen an Bildungs- und Teilhabechancen fehlt.5
Im Antworten entsteht Neues.
Wird Bildung allgemein als verändernder Erfahrungsprozess begriffen, dann erscheint die Erfahrung des Fremden für jene Prozesse besonders bedeutsam zu sein. Hierin tritt ein Phänomen hervor, dem sich Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie des Fremden anzunähern versucht: Das Fremde übersteigt nach Waldenfels die bekannten und unhinterfragten Strukturen des Alltäglichen, es zerstört etablierte Horizonte. Dabei berührt, verlockt, affiziert es; das Fremde fordert uns – vor dem Hintergrund des anthropologischen Grundmotivs der Responsivität – zu etwas auf. 6 Mit Edmund Husserl beschreibt Waldenfels das Fremde überdies durch seine Art der Zugänglichkeit: Das Fremde ist nicht nur unbekannt, es erscheint „als das originär Unzugängliche und originär Unzugehörige; es tritt auf in einer besonderen Art von Bezug, der durch einen gleichzeitigen Entzug charakterisiert ist“.7 Und damit stellt sich die Frage: „Wie können wir auf das Fremde eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkung, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen?“8
Als mögliche Umgangsformen mit dem Fremden beschreibt Waldenfels die Aneignung oder Abwehr und schließlich ein kreatives „Antworten auf den Anspruch des Fremden“.9 Im kreativen Antworten wird das Fremde als Fremdes anerkannt, es wird also weder ausgeschlossen und bekämpft, noch vereinnahmt und sich zu eigen gemacht. Und weil im Antworten beim Anspruch des Fremden, also beim Anderen und damit nicht bei sich selbst begonnen wird, handelt es sich um ein kreatives Antworten. Kreatives Antworten ist ein solches, in dem wir „erfinden, was wir antworten, nicht aber das, worauf wir antworten“10 Und dabei ist „die Antwort […] als Antwort kreativ“, weil im produktiven Antworten das Paradox einer kreativen Antwort erscheint, „in der wir geben, was wir nicht haben“. 11
Im Antworten entsteht Neues, weil sich in der Erfahrung des Fremden etablierte Horizonte auflösen und sich darin neue Perspektiven eröffnen. Und die darin begriffene Veränderung lässt sich als Bildungsprozess begreifen. Diese Erfahrung ist aber weder bestimmten sozialen Gruppen vorbehalten noch bedarf es hierfür bestimmter (sprachlich-funktionaler) Kompetenzen. Bildung meint dann etwa das Erfahren von etwas, das affiziert, berührt und verlockt, wie etwa die Erfahrung von Klang, die ein Hinhören provoziert, durch das sich neue musikalische Horizonte eröffnen und sich der etablierte Bezug zur (musikalischen) Welt und zum Selbst neu ordnen kann.
Das Fremde zeigt sich im Erschrecken wie im Erstaunen.
Und wenn die Erfahrung von etwas, das sich unserem Zugriff entzieht, das gewohnte Horizonte übersteigt und ein kreatives Antworten provoziert, Bildungsprozesse nicht nur anstößt, sondern diese Erfahrung selbst als Bildungsprozess begriffen wird, dann scheint ein weiteres anthropologisches Grundmotiv auf, das von bildungsbezogener Bedeutung ist. Laut Waldenfels hat das Fremde eine ambivalente Wirkung. Das Fremde zeigt sich im Erschrecken ebenso wie im Erstaunen. Dabei ist es vor allem das Staunen, das aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften bildungstheoretisch relevant ist. Durch das Staunen können Bildungsprozesse angestoßen, befördert und produktiv begleitet werden.
Das Staunen ist ein elementares Phänomen, dem sich schon die alten philosophischen Texte zuwenden. So bestimmen Platon und Aristoteles den Affekt als den Anfang der Philosophie. Auch die christliche Theologie bezieht sich vielfach auf den Affekt, z.B. in den Psalmen. Gestaunt wird hier über die Größe Gottes ebenso wie über Gottes Schöpfung: „Wie Werke des Herrn sind groß, zum Staunen für alle“ (Ps 111, 2). Und schließlich ist es die Ästhetik, die das Staunen säkularisiert und in den entsprechenden Diskursen fest verankert. In Bezug auf Bildung und Bildungsprozesse wird das Staunen bislang allerdings wenig diskutiert. Doch vor dem Hintergrund der Phänomenologie des Fremden zeigt sich: Im Staunen kommt das Fremde in uns bzw. im leiblichen Hier zum Ausdruck.
Ein anfängliches Erstaunen, Ergriffen- und Überwältigt-Sein – etwa in der beschriebenen Klangerfahrung – wandelt sich im Staunen als kreative Antwortform in eine leiblich gegebene Antwort. Diese leibliche Antwort zeigt sich etwa im offenen Mund, in weit aufgerissenen Augen, im starren Blick, in Gänsehaut, in Ausrufen wie wow, oh und ah. Damit beschreibt Staunen ein Übergangsphänomen, das sich zwischen Anspruch, kreativem Antworten und gegebener Antwort bewegt. Das Staunen ist zudem mit einem besonderen Zeiterleben verbunden. Im Staunen (er-)öffnen sich Zeit-Räume, die Raum für Veränderung und damit für Bildung schaffen. Im Staunen eröffnen sich Perspektiven, das Unerwartbare wird im Staunen als nun Mögliches erkennbar. Als kreative Form des Antwortens lässt sich die Erfahrung des Fremden, die sich im Staunen zeigt, als Bildungsprozess begreifen, der durch das Staunen verstärkt wird. Und dieses Staunen beginnt anderswo, es zeigt sich also nicht nur als Übergangs-, sondern auch als Schwellenphänomen, das sich zwischen dem leiblichen Hier und der damit relational verbundenen Welt aufspannt. Staunen bereitet Freude und macht das Leben schön.12
Bildung als Widerfahrnis
Und weil das Staunen schließlich – wie auch die Erfahrung des Fremden und die darin implizite Veränderung – keiner anthropologischen Engführung unterliegt, ist ihm besondere Bedeutung mit Blick auf Fragen nach Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung bzw. inklusiver Bildung zuzuweisen. Das Staunen als elementar-anthropologischen Affekt anzuerkennen, bestärkt das Argument, dass Bildung ein Widerfahrnis ist, in dem sich Neues in der Zerstörung des Etablierten konstituiert. Bildung ist diesem radikalen Verständnis nach kein eigenaktiver Vorgang und nichts willentlich Herbeizuführendes. Bildung braucht Zeit, impliziert Veränderung und lässt sich als Prozess vermutlich selten durch eine am Output orientierte Erhebung (empirisch) nachvollziehen. Das Staunen verweist auf das bzw. den Anderen, dessen Funke uns erstaunen lässt, und in uns Feuer fangen kann.
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Dr. Theresa Stommel lehrt und forscht zu Fragen der Bildungs- und Erziehungsphilosophie, kultureller Teilhabe und Didaktik im Kontext geistiger und komplexer Behinderung an der Universität zu Köln. Ihre Dissertation ist unter dem Titel Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung, 2023 im transcript Verlag Bielefeldt erschienen.
Bild: Skizze „Staunen“ von Sébastien Le Clerc, Caracteres des passions gravés sur les desseins de l‘illustre Mons.r le Brun; Buchcover
- Picht, G. (1964). Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Walter Verlag. ↩
- Humboldt, W. von (2002). Schriften zur Anthropologie und Geschichte. In A. Flitner (Hg.), Werke in fünf Bänden (4., korrigierte und mit einem neuen Nachwort versehene Aufl., Band 1). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. 1, S. 64. ↩
- Brinkmann, M. (2020). Bildung, Reflexion, Übung. In L. Küster (Hrsg.), Prendre la parole. Reflexive und übende Zugänge zum Sprechen im Französischunterricht (S. 16–31). Hannover: Klett Kallmeyer, 2020, S. 16. ↩
- Koller, H.-C. (2012). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer, S. 15. ↩
- Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder. (2022). Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz. Dokumentation Nr. 231 – Januar 2022. Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 – 2020; Stommel, T. (2023a). Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger und schwerer Behinderung. Bielefeld: transcript, S. 12–15. ↩
- Vgl. Waldenfels, B. (1987). Ordnung im Zwielicht (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp. ↩
- Waldenfels, B. (1997). Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 27. ↩
- Waldenfels, B. (2006). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9. ↩
- Waldenfels, 1997, S. 50. ↩
- Waldenfels, 2006, S. 67. ↩
- Waldenfels, 1997, S. 53. ↩
- Stommel, T. (2023b). ›Staunen ist wie das Salz im Bildungsprozess‹. Zum Verhältnis von Bildung, Staunen und Lebensfreude und seine Bedeutung für inklusive Bildung. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 99(4), 513–528. ↩