feinschwarz.net dokumentiert Norbert Mettes Statement auf dem Symposion „Bildung – Gesellschaft – Religion“ am 24. Januar 2015 in der Karl Rahner Akademie in Köln aus Anlass des 80. Geburtstags des einflussreichen Theologen und Pädagogen.
„Warum verzichtet man mit Rücksicht auf ungeborene zukünftige Generationen auf eigene Vorteile und Lebenschancen? Warum behält man die, die wegen ihres Versuches, unbedingte Solidarität zu leben, vernichtet worden sind, in Erinnerung und gibt doch den eigenen, bedrohten Versuch nicht auf? Ist in der eigenen solidarischen Praxis ein Protest gegen die endgültige Zerstörung des anderen enthalten und darüber hinaus die Behauptung, der andere sei unbedingt bejaht, auch im Tod? Und zugleich die Behauptung, dieses Bejahtsein gelte auch für einen selbst, ihm verdanke sich die eigene Praxis? […] Sich solche Fragen nicht ausreden zu lassen, sie – mit dem Risiko, ohne Trost zu bleiben – zumindest offen zu halten, wäre ein konstitutives Element von Bildung.“ (332f)[1]
Fragen: nicht religiös, aber grundlegend für Religionen.
Mit seinem Insistieren darauf, dass es elementar zur Bildung dazugehöre, sich solchen Fragen auszusetzen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen – Fragen, die als solche nicht schon religiös sind, die aber grundlegend gerade für Religionen geworden sind –, wendet sich Helmut Peukert gegen zwei Seiten: zum einen gegen die Verfechter eines funktionalen Bildungsverständnisses, das sich vom Nützlichkeitsdenken leiten lässt und eine Beschäftigung mit Fragen, die prinzipiell unlösbar sind, für eine vergeudete Zeit hält; zum anderen gegen die Religionsfunktionäre, die meinen, aufgrund von vermeintlichen göttlichen Offenbarungen über die Antworten auf solche Fragen immer schon Bescheid zu wissen, und sich deswegen berufen und befugt fühlen, möglichst alle Menschen gemäß ihrer Überzeugung zu indoktrinieren.
Zwischen diesen beiden Extrempositionen bewegt sich eine ganze Reihe von Auffassungen darüber, was Bildung mit Religion zu tun habe und umgekehrt. In der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft stellt seit einiger Zeit, grob kann man sagen: seit dem Ende der so genannten „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, das Thema „Religion“ weithin – von Ausnahmen abgesehen – gewissermaßen ein Tabu dar. Der Säkularisierungsthese folgend wird eine Beschäftigung damit für überflüssig gehalten, weil das Ende der Religion absehbar sei und folglich für die künftigen Generationen keine Rolle mehr spiele.
Diese Entwicklung wird nicht zuletzt deswegen gut geheißen und unterstützt, weil die Religion sich im Laufe der Geschichte immer wieder als eine Instanz erwiesen habe, die das Mündigwerden der Menschen eher verhindert als gefördert habe. Erst neuerdings wird in Anbetracht des Aufwachsens der jungen Generation in einer multikulturellen und damit zugleich multireligiösen Gesellschaft das Thema Religion für die Erziehungswissenschaft wieder stärker relevant.
Umgekehrt wird von theologisch-religionspädagogischer Seite gern darauf gepocht, dass – nicht zuletzt mit Verweis auf die religiösen Wurzeln des Bildungsbegriffs – eine Bildung ohne Religion unvollständig bleibe. Damit wird u.a. bildungspolitisch die unersetzbare Stellung des Religionsunterrichts im schulischen Fächerkanon begründet und eingefordert – bisweilen mit recht plakativ formulierten Slogans wie „Kinder nicht um Gott betrügen!“ Im Unterschied zu Verhältnisbestimmungen von Bildung und Religion, in denen davon ausgegangen wird, dass es sich dabei um jeweils eigenständige Größen handelt, die es dann zueinander in ein Verhältnis – oder Unverhältnis – zu setzen gilt, geht Peukert einen anderen Weg – in gewisser Weise dem von Friedrich Schleiermacher in seinen Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern vergleichbar, wenn auch in seiner theoretischen Fundierung anders akzentuiert.
Interaktionstheoretischer Ansatz: Grund- und Grenzerfahrungen herausarbeiten.
Während Schleiermacher bewusstseinsphilosophisch den eigenen und unabhängigen Status von Religion bzw. genauer: eines religiösen Bewusstseins neben der theoretischen und der praktischen Vernunft aufzuweisen bemüht war, setzt Helmut Peukert interaktionstheoretisch an und arbeitet mithilfe der Analyse der Struktur intersubjektiven Existierens Grund- und Grenzerfahrungen heraus, die sich im Laufe der menschlichen Entwicklung einstellen und deren Weise, wie sie sich ausformen, durch den jeweiligen soziohistorischen Kontext mitbedingt ist. Das lässt sich besonders einprägsam anhand der Vorgänge rekonstruieren, die sich in den elementaren Erziehungs- und Bildungsprozessen abspielen.
Entwicklung als Wechsel von Stabilitätsperioden und kritischen Phasen struktureller Transformation.
„Die konstruktivistische Entwicklungspsychologie“, so führt Helmut Peukert dazu aus, „hat herausgearbeitet, dass das Kind an seiner Entwicklung von Anfang an aktiv beteiligt ist und dass sich Entwicklung nicht als stetiges Wachstum, sondern als Wechsel von Stabilitätsperioden und kritischen Phasen struktureller Transformation vollzieht. […] Der Beginn solcher Transformationen ist jeweils die Erfahrung, dass die bisher erworbene Handlungsfähigkeit bei der Begegnung mit neuen sozialen und sachbezogenen Handlungsbereichen nicht mehr ausreicht. Dies ist eine Erfahrung von eigenen Grenzen, von Leiden an Gegebenem und an sich selbst. Entwicklungserfahrungen sind verschärfte Erfahrungen von Kontingenz und von Freiheit, von Beschränkung und von neuen Möglichkeiten, deren Sinn erst erkundet werden muss und durch die man über sich hinaus ‚provoziert‘, hervorgelockt und begeistert werden kann. Zugleich ist es ein Prozess, der mit Angst verbunden ist. Denn man muss die ganze vertraute Welt und ihre Logik, ja das vertraute eigene Selbst verlassen, sich immer wieder neu finden und erfinden und zugleich die Beziehung zu Anderen und damit die Welt insgesamt neu konstruieren.“ (274)
Wie letzterer Hinweis deutlich macht, spielt in diesem Prozess die Entwicklung des Verhältnisses zu anderen Menschen eine entscheidende Rolle. Helmut Peukert berichtet dazu: „Kleinstkinder können sich noch nicht vorstellen, dass andere Menschen eine andere Vorstellung von der Wirklichkeit und andere Intentionen haben als sie selbst. Die sprichwörtlich ‚schwierigen‘ Zweijährigen haben dann zwar gelernt, dass Andere Intentionen haben können, die sich von den eigenen unterscheiden, sie werden aber von dem Zwiespalt zerrissen, mit Anderen in Harmonie leben und zugleich eigene Intentionen verfolgen zu wollen. Sie müssen mit dem Bezug zu Anderen und deren Andersheit zugleich das eigene Selbst neu konstruieren. Diese Aufgabe wiederholt sich auf immer komplexeren Stufen bis hin zu einer Perspektive, die niemanden mehr ausschließt. Sie markiert überhaupt die Aufgabe gemeinsamer menschlicher Existenz.“ (275)
Bildungsprozessen, so verstanden als Freiheitsprozessen, wohnen somit normative Dimensionen inne. Unter Bezugnahme auf Kant hat Peukert die entsprechende Ethik, auf der Bildung in Theorie und Praxis aufruht, als „Ethik intersubjektiver Kreativität im Horizont einer universalen Solidarität“ bestimmt und ausgearbeitet. Das Prinzip von Bildung deckt sich somit mit dem Prinzip einer humanen Gesellschaft: „In endlicher Freiheit so zu existieren, daß man versucht, im eigenen produktiven Handeln anderen zu eigenständiger, kreativer Entfaltung zu verhelfen und so eine gemeinsame kommunikative Welt aufzubauen, in der Regeln für das Zusammenleben aller gefunden und dadurch Lebensmöglichkeiten für alle unter einer transformationsfähigen demokratischen ‚Verfaßtheit‘ der Gesellschaft gesichert werden können.“ (43)
Kann ein Rückgriff auf religiöse Traditionen Sinnvolles beisteuern?
Die Frage ist, ob zur Realisierung dessen ein Rückgriff auf religiöse Traditionen überhaupt etwas Sinnvolles und Hilfreiches beisteuern kann. Mithilfe von zwei Argumentationssträngen, die sachlich zusammengehören, geht Helmut Peukert diese Frage an. Auf der einen Seite rückt nach ihm von einem radikalen Durchdenken der Freiheitsthematik her die fundamentale Ambivalenz menschlichen Existierens in den Blick, die darin besteht, „sich einfach in seiner faktischen Existenz gegeben zu sein, ohne über den Grund dieses Gegebenseins verfügen zu können, und doch bei allen Beschränkungen des eigenen Bewusstseins und der eigenen Situation, sich unbedingt zu dieser Existenz verhalten zu müssen“ (277). Diese fundamentale Erfahrung kann dazu führen, an dem Bemühen, man selbst sein zu wollen, zu verzweifeln, oder auf eine Selbstbehauptung bedacht zu sein, die rücksichtslos den eigenen Willen durchsetzt.
Gewinnt man für sich selbst etwas im Einsatz für den Anderen?
Es ist zumindest eine Grenzerfahrung, die die Frage aufwerfen lässt, ob es sich überhaupt lohnt, sich auf eine freiheitliche und solidarische Praxis einzulassen. Gewinnt man für sich selbst etwas, wenn man sich aus einer moralischen Gesinnung heraus für den Anderen einsetzt – zumal überhaupt nicht sicher ist, dass dieser Einsatz von dem Anderen anerkannt, sondern zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt wird? Für Kant kommt es hier zu einer Antinomik der praktischen Vernunft.
Nach Lawrence Kohlberg drängt sich spätestens auf dem postkonventionellen Niveau des moralischen Urteils die Frage auf, warum man überhaupt moralisch sein solle. Für beide ist diese radikale Grenzerfahrung, die durch die Tatsache der bestialischen Vernichtung von Menschen im Verlauf der Geschichte nochmals verschärft wird, der Punkt, der, wenn nicht Verzweiflung und Resignation das letzte Wort behalten sollen, „zu der Frage nach einer voraussetzenden vollkommen schöpferischen Freiheit“ (277) und nach einer die Prinzipien der Gerechtigkeit gewährleistenden Instanz führt, also zur Frage nach Gott.
Auf der anderen Seite – und dies ist der zweite erwähnte Argumentationsstrang – sind es gesellschaftstheoretische Analysen, die nach Helmut Peukert in aller Klarheit vor Augen führen, dass krisenhafte Tendenzen in Ökonomie, Politik und Wissenschaft seit längerem aufgrund ihrer einseitigen Orientierung an Fortschritt und Machtsteigerung sich dermaßen steigern, dass sie über kurz oder lang auf die totale Selbstdestruktion der Menschheit und des Erdballs hinauslaufen, wenn nicht bewusstseinsmäßig und praktisch eine radikale Kehrtwende in Richtung einer kommunikativen Vernunft vollzogen wird. Gerade die Bildung steht in dieser Situation vor der großen Herausforderung, die Menschen zu einer entsprechenden not-wendigen Transformation sowohl des je individuellen Bewusstseins und Lebensstils als auch der Gesellschaft zu befähigen. Beschwörend kennzeichnet Helmut Peukert die sich dringendst stellende Aufgabe wie folgt:
„Die bedrohte gemeinsame Existenz verlangt eine Transformation des Bewußtseins und des Handelns. Eine Herausforderung zur Humanität ist diese Situation insofern, als sie zu einer universalen solidarischen, anamnetisch und proleptisch solidarischen, ihrer tödlichen Endlichkeit bewußten Existenz provoziert. Deshalb geht es ihr um den Entwurf einer humanen Kultur auf einer neuen Stufe, auf der gemeinsames und individuelles Leben in seiner Endlichkeit auf einer neuen Stufe von Bewußtsein ermöglicht wird.“ (Helmut Peukert, 300) Angesichts der Tatsache, dass das Überleben der menschlichen Gattung insgesamt auf dem Spiel steht, ist ein Ausweg nur mit allen gemeinsam zu finden. Neben den neuzeitlichen humanistischen Denkströmungen sind es die überkommenen großen Weltreligionen – wie Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Christentum und Islam sowie weitere spirituelle und mythische Traditionen –, in denen, wenngleich nicht unstrittig, das Bewusstsein von der Einheit der Menschheit stark ausgeprägt war und ist.
Nach Helmut Peukert ist es eine Anstrengung wert, im pädagogischen Handeln „Traditionen daraufhin abzuhorchen, was von ihren Verheißungen noch nicht eingelöst ist, mit seinem ganzen Dasein auszugreifen auf etwas, was noch nicht ist und nicht einfach in unserer Macht steht“ (305), und sie im Dialog zwischen den Generationen produktiv weiterzuschreiben. So bergen etwa Judentum und Christentum eine prophetische Tradition in sich, „die den Anspruch der von ihr vertretenen Sache im Widerspruch zu destruktiven Mechanismen formuliert und gerade so Leben auf Zukunft hin ermöglichen will“ (304) und die von daher angesichts der derzeit vorherrschenden Mentalität als „produktive Antitradition“ eingebracht werden kann. Allerdings darf nach Helmut Peukert nicht außer Acht bleiben, dass auch der Religion bzw. den Religionen – als Institutionalisierung des religiösen Bewusstseins – eine Ambivalenz innewohnt.
Statt produktiv-transformatorisch können sie auch aus bestimmten Interessen heraus regressiv in Anspruch genommen werden, statt von ihnen her prophetisch-kritisch den Status quo auf seine Menschenfreundlichkeit hin zu befragen, können sie zu seiner Affirmation und Legitimation benutzt werden, indem er mit „höheren Weihen“ versehen wird. Aktuell sind es neokonservative und neoliberale Denkgebäude, die Religion auf diese Rolle zu verpflichten versuchen. „Kontingenzbewältigungspraxis“ zu sein, wird ihr angesonnen. Helmut Peukert beschreibt und kommentiert dieses Ansinnen wie folgt: „Kontingenzbewältigung im Sinn technologischer-zweckrationalen, an Gesetzen orientierten Handelns ist das Ziel desjenigen Aufklärungsprozesses, in dessen Verlauf alltagsweltlich eingespielte Deutungssysteme durch technokratisch orientierte Naturwissenschaften und sozialtechnologisch verwertbare Gesellschaftswissenschaften abgelöst werden.
Wider die funktionale Reduktion der Religion auf Kontingenzbewältigungspraxis.
Das Endergebnis dieses Prozesses ist schließlich, dass alles das und nur das, was in dieser Weise nicht zu bewältigen ist, der Religion zur Bewältigung zugewiesen wird. Sie hat dann das nicht zu Bewältigende zu bewältigen. Religion wird zur paradoxen ‚Kontingenzbewältigungspraxis‘; sie hat technologische Restprobleme zu lösen, die technologisch gerade als nicht lösbar definiert worden sind.“ (270f) Diese funktionalistische Aufgabenbestimmung lässt Religion zu etwas werden, was mit den sonst gebrauchten rationalen Problemlösungsverfahren nichts zu tun hat. Aber da die auf diese rationale Weise nicht lösbaren Restprobleme bleiben werden, wird Religion auf Dauer gebraucht werden; sie ist so gesehen „aufklärungsresistent“.
Es ist nicht zu übersehen, dass eine solche kompensatorisch-therapeutisch wirkende Religionsform dem Bedürfnis vieler Menschen, irgendwie ihr Leben angesichts der Unübersichtlichkeiten und Unsicherheiten bewältigen zu können, entgegenkommt. Zugleich liegt in der Prognose, dauerhaft zu bestehen, auch eine gewisse Attraktivität für die betroffenen Religionen, die ihnen so zugewiesene Funktion zu übernehmen, womit sie allerdings dem religionskritischen Verdacht Nahrung geben, sie würden Ohnmachtserfahrungen der Menschen zur Stabilisierung eigener und politischer Macht ausbeuten (vgl. 333). Soll dieser Religionstheorie, die auf eine Stabilisierung des kontingenten Status quo hinausläuft, eine Alternative entgegengesetzt werden – die nicht zuletzt der eigentlichen Grundstruktur der historisch gewordenen Religionen Rechnung trägt –, so steht sie nach Helmut Peukert vor folgenden Anforderungen:
„Sie müßte ausgehen von der Frage, wie Subjekte in einer bestimmten gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation in Interaktion Identität – mit Kierkegaard gesprochen: die Möglichkeit ihres Selbstseins – finden können. Dabei müßte sie auf die systemischen Verformungen von Identitäten aufmerksam sein, zugleich aber nach einer Praxis fragen, die diese Verformungen überwinden kann. Damit würde ein neuer Begriff von Praxis eingeführt. Praxis hieße dann, unter erfahrenen und erlittenen, die eigene Lebenswelt deformierenden systemischen Widersprüchen und damit unter Entfremdung auf eine nicht entfremdete Lebensform hin verändernd zu handeln, auf eine Lebensform hin, in der Identitäten gemeinsam gefunden werden können, so daß mit den Verhältnissen sich Subjekte ändern können und mit den Subjekten Verhältnisse. Diese Art von Praxis wäre im Kern selbst ein transformatorischer Lernprozeß. Kennzeichnend für diesen Ansatz wäre, daß er die […] Paradoxie kommunikativen Handelns (sc. die sich aus der negativen Erfahrung heraus einstellt, dass Menschen, die entsprechend der Grundnorm kommunikativen Handelns solidarisch zu leben bemüht waren, von Anderen verletzt und vernichtet worden sind, NM) offenhält und diejenigen Handlungen zu kennzeichnen erlaubt, die angesichts dieser Paradoxie ein Unbedingtes in intersubjektiven Handeln selbst behaupten und aus den existenzbedrohenden Mechanismen der Machtsteigerung befreien.“ (254)
Unter Maßgabe dieser Anforderungen erweist nach Helmut Peukert eine Relektüre der Zeugnisse der jüdischen und der christlichen Tradition diese in ihrem theoretischen sowie praktischen Gehalt (inwiefern dies auch für andere Religionstraditionen gilt, wäre zu prüfen). Folgendes Zitat macht das an einem für Helmut Peukert besonders zentralen theologischen Topos fest: „Die christliche Tradition geht in der anamnetisch-solidarischen Erinnerung an Jesus von Nazareth aus von Erfahrung von Vernichtung und Rettung im Tod. Sie versucht solche Erfahrung und das Zeugnis von ihr auszulegen als Einweisung in eine Existenzform und eine Praxis, in der das Abhängigmachen der eigenen Identität vom Glück der Anderen zugleich gelebt wird als das hoffende Zugehen auf den Hort hin, der – wie Paulus in Röm 4,17f im Anschluss an das Achtzehngebet des jüdischen Synagogengottesdienstes schreibt – ‚die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft‘, an den Abraham ‚gegen alle Hoffnung, auf Hoffnung hin, glaubte‘.
Identität in einer solchen Existenzform ist nicht das Behaupten einer schon erreichten Ganzheit, sondern hoffendes Ausgespanntsein auf die Gewährung von Integrität für die Anderen und erst darin auch für sich selbst. Sie ist gegenüber einem sich selbst genügenden und behauptenden Selbstsein sich offen haltende, hoffende ‚Nicht-Identität‘.“ (283) Vor dem Hintergrund der reflexiven Durchdringung der Struktur intersubjektiven Existierens bis zu den dabei sich einstellen könnenden und sich eingestellt habenden menschheitlichen Grund- und Grenzerfahrungen hin wird es schlüssig, wenn Helmut Peukert daraus das pädagogische Fazit zieht, dass das Bildungsprojekt, „in dem es darum geht, überhaupt zu Bewusstsein und darin zu einem Verhältnis zu sich selbst, zu Anderen und zur sozialen und sachlichen Wirklichkeit zu kommen und in diesen Dimensionen handlungsfähig zu werden“ (284), unvollständig bleibt, wenn es solche Erfahrungen ausklammert.
Religiöse Urteilskraft: Ob eigene und fremde religiöse Traditionen der menschlichen Grundsituation mit ihren Grenzerfahrungen gerecht werden.
Sie sind allerdings nicht bloß als rein historische zu behandeln, wie sie sich in religiösen Zeugnissen oder anderen Überlieferungen nachlesen lassen; sondern sie sind gemeinsam daraufhin zu bedenken und zu prüfen, ob und inwiefern die Beschäftigung mit ihnen Lebensmöglichkeiten auch auf Zukunft hin erschließen lässt. Dafür gilt es nach Helmut Peukert so etwas wie „religiöse Urteilskraft“ auszubilden. „Gemeint ist damit“, so erläutert er, „zunächst eine Urteilskraft darüber, ob eigene und fremde religiöse Traditionen und Praktiken der menschlichen Grundsituation mit ihren Grenzerfahrungen gerecht werden oder ob sie diese Grundsituation rein illusionär oder ideologisch verschleiern und entschärfen, etwa nur Techniken der psychischen Stabilisierung für den ökonomischen Konkurrenzkampf anbieten oder menschliche Ohnmachtserfahrungen zum Erhalt der Macht religiöser Institutionen ausbeuten.
Religiöse Bildung zielt somit nicht auf die bloße Reproduktion überlieferter religiöser Lebensformen. Vielmehr gehört zu ihr gerade auch deren Kritik und Dekonstruktion.
Negativ ginge es also um die Identifizierung von reflexionsabweisendem Fundamentalismus und Fanatismus, positiv um die Fähigkeit darüber, ob angesichts der Grenzerfahrungen menschlicher Existenz sowie angesichts all dessen, was wir über unsere Wirklichkeit wissen, bestimmte religiöse Traditionen als so vertretbar erscheinen, dass sie auch für ‚religiös Unmusikalische‘ zumindest verständlich sind. Und dies in einer Interpretation auf die aktuelle Situation hin, die sich rapide wandelt und auf sehr verschiedene Weise interpretiert werden kann.“ (287) Religiöse Bildung zielt somit nicht auf die bloße Reproduktion überlieferter religiöser Lebensformen. Vielmehr gehört zu ihr gerade auch deren Kritik und Dekonstruktion, weil nur so die Heranwachsenden die Möglichkeit erlangen, diese Überlieferungen aus ihrer Perspektive heraus so zu rekonstruieren und zu verändern, dass sie darin eine sinnvolle Grundlage für ihre eigene Lebensgestaltung sowie für ein zukunftsträchtiges Zusammenleben mit den Anderen zu erblicken vermögen – oder auch nicht – und die von ihnen getroffene Option begründen können (vgl. 289).
Auch die Religionen müssen sich dem aussetzen, was für den kulturellen Tradierungsprozess von einer Generation an die nächste insgesamt gilt, nämlich dass es jeweils der letzteren zukommt, Wirklichkeit neu zu schaffen und eine Kultur jeweils neu zu erfinden – in der Formulierung von Jerome Bruner: „to recreate reality – to reinvent culture“ (vgl. 95, 275). „In der solidarischen Suche“, so sei Helmut Peukert ein letztes Mal zitiert, „nach einer gemeinsamen Welt, in der Differenzen geachtet werden, die aber gleichwohl einen universalen Horizont mit Lebensmöglichkeiten für alle aufspannt, können sich Erziehungswissenschaft und Theologie in ihren zentralen Intentionen treffen.“ (289)
Als Religionspädagoge bleibt mir abschließend nur zu bemerken, dass noch viel zu tun ist, um den hier vorgetragenen programmatischen Entwurf zum Verhältnis von Bildung und Religion von Helmut Peukert im Einzelnen durchzudeklinieren. Die Ausarbeitung eines hermeneutischen und in Zusammenhang damit didaktischen Instrumentariums für die entsprechende Interpretation und Vermittlung religiöser Aussagen (vgl. 286) steckt noch in den Anfängen. Dass er dazu grundlegende Anstöße und weiter zu denkende Impulse gegeben hat, dafür ist Helmut Peukert große Anerkennung zu zollen und herzlich zu danken.
[1] Alle Seitenangaben beziehen sich auf Ottmar John, Norbert Mette (Hg.), Helmut Peukert. Bildung in gesellschaftlicher Transformation, Paderborn 2015.
(Text: Norbert Mette; Bild: Lupo/ pixelio.de Bücherstapel)