Worin besteht der zentrale Konflikt während der Römischen Bischofssynode? Zugeständnisse an den „Zeitgeist“ oder Bewahrung der verbindlichen Glaubenslehre? In der journalistischen Berichterstattung kann man diese Alternative in verschiedensten Varianten nachlesen.
Das offizielle Thema „Familie“ erscheint da manchmal wie eine zufällige Bühne für den kirchenpolitischen Richtungskampf. Der ist aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eigentlich entschärft, wenn nicht sogar entschieden (Vgl. im Buch den Beitrag von Christian Bauer). Die zentrale Selbstdefinition der Kirche lautet seither: Treue zum Evangelium und Treue zur Gegenwart sind eben kein Nullsummenspiel. Christliche Identität entsteht immer neu im offenen Kontrast dieser doppelten Treue. Der schöne und oft so falsch verstandene Begriff für diesen innovativen Prozess der praktischen Traditionsbildung lautet: Pastoral. Ein wirklich pastorales Lehramt müsste die Wahrheit der christlichen Tradition also gar nicht gegen die konkreten Existenz- und Glaubenserfahrungen im Heute verteidigen. Vom christlichen Archiv her ist Tradition nicht die Norm, der man sich nur noch unterwerfen kann. Sie ist die Erkenntnis-Ressource, um die oft auch verborgene Kraft des Evangeliums im Heute zu entdecken. Die Frage ist also nicht allein, worauf legt uns die Tradition fest, sondern welche Horizonte eröffnet sie für das Leben in der Gegenwart.
Pastorale Realitäten sind selbst theologische Orte und können zu wirklichen dogmatischen Neuentdeckungen führen.
Deshalb reicht es hierzulande einfach nicht, das dogmatisch immer schon Gewusste nur etwas sanfter und moderner zu verkünden. Pastorale Realitäten sind selbst theologische Orte und können zu wirklichen dogmatischen Neuentdeckungen führen. Es gibt hier eine theologische Einspruchsfunktion von Erfahrungen, in denen Menschen um ihre Würde ringen. Wenn sie in ihren intensiven Nah-Beziehungen mit Gefährdungen und Scheitern konfrontiert sind und wenn sie darin zugleich neue Formen des Gelingens erproben und entdecken. Diese Erfahrungen ans Licht zu bringen und in ihrem dogmatischen Gewicht stark zu machen, weil es letztlich auch die eigenen Erfahrungen sind oder sein könnten, das ist die Aufgabe pastoraler Theologie. Es braucht gerade in Familienfragen den Ortswechsel der Kirche von einer weltanschaulichen Normalisierungsagentur hin zu einer risikobereiten Solidaritätsagentur. Denn in den kleinen Geschichten der Gegenwart steht das auf dem Spiel, was uns in den großen Erzählungen der Tradition zugesagt ist.
Spielräume für eine zugleich kreative und treue „Neuerfindung“ des Evangeliums am Ort des wild bewegten Doing family von heute
Der französische Dominikaner und Konzilstheologie Marie-Dominique Chenu (1895-1990) hat es einmal zukunftsweisend auf den Punkt gebracht: „Es geht nicht einfach darum, das Wort Gottes in der Übersetzung von vorfabrizierten Ausdrücken unter geschickter Anpassung neu zu sagen, sondern in der wild bewegten Begegnung mit den Menschen von heute unablässig zu ‚erfinden’“ (Chenu, Marie-Dominique, Von der Freiheit eines Theologen. M.-Dominique Chenu im Gespräch mit Jacques Duquesne, Mainz 2005, 156).
Das ist also das Thema der Bischofsynode: Es geht um Spielräume für eine zugleich kreative und treue „Neuerfindung“ des Evangeliums am Ort des wild bewegten Doing family von heute. Wer an Perspektiven und Argumentationen auch über die römischen Beratungen 2015 hinaus interessiert ist, wird in diesem Buch sicherlich fündig.
Bauer, Christian / Schüßler, Michael (Hg.), Pastorales Lehramt? Spielräume einer Theologie familialer Lebensformen, Ostfildern 2015. (Mit Beiträgen der Herausgeber sowie von Stefanie Klein, Rainer Bucher und Ottmar Fuchs).