Geschickt orchestriert präsentierten am 18. März Rechtsanwalt Björn Gercke und sein Team ihr Gutachten zum Umgang der Verantwortlichen im Erzbistum Köln mit Fällen von sexuellem Missbrauch im Zeitraum 1975 bis 2018. Thomas Schüller fasst zusammen und ordnet ein.
Seit Kardinal Rainer Woelki ein erstes Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) unter Verschluss nehmen und durch Gerckes Studie ersetzen ließ, traten Tausende Katholiken*Innen aus ihrer Kirche aus, weil sie die Nichtveröffentlichung des WSW-Gutachtens und den offenkundigen Missbrauch des Betroffenenbeirats durch Kardinal Woelki als schweren Vertrauensbruch verstanden. Diese Vertrauenskrise wird noch lange nachwirken und zur Folge haben, dass viele Gläubige im Erzbistum Köln dauerhaft in Distanz zu ihrem Erzbischof bleiben werden.
Der Prüfauftrag
Ihren Prüfungsauftrag hat Gerckes Kanzlei in zwei von drei Punkten eingelöst: Die Gutachter untersuchen – handwerklich solide nach beiden Rechtskreisen (staatliches Strafrecht und kirchliches Strafrecht) – pflichtwidriges Verhalten der Verantwortlichen, und sie können trotz defizitärer Akten in 24 von 236 „Aktenvorgängen“ insgesamt 75 Pflichtverletzungen identifizieren. Die Pflichten betreffen 1. Aufklärungspflicht, 2. Anzeige-/Informationspflicht, 3. Pflicht zur Sanktionierung, 4. Verhinderungspflicht, 5. Pflicht zur Opferfürsorge (S. 274). Mit diesem plausiblen Raster können den früheren Kardinälen Joseph Höffner und Joachim Meisner, ihren Generalvikaren Norbert Feldhoff, Dominik Schwaderlapp und Stefan Heße, dem früheren Personalchef Ansgar Puff, dem Offizial Günter Assenmacher und der namentlich nicht genannten langjährigen Justitiarin des Erzbistums Köln Pflichtverletzungen nachgewiesen werden.
Den dritten Aspekt des Prüfungsauftrags aber, das Handeln des Bistumsverantwortlichen am Selbstverständnis der Kirche zu messen, lösen die Gutachter nicht ein, weil sie dieses Selbstverständnis der Kirche auf den Katechismus (KKK) und – in einem Zirkelschluss auf die Missbrauchsordnung vom 1.1.2020 reduzieren, die jedoch auch als Rechtsgrundlage herangezogen wird. Außer einem Bibelzitat kommt die Hl. Schrift als Grundurkunde des Glaubens und zentrale Referenz aller kirchlichen Vollzüge nicht zur Sprache.
Der Untersuchungsgegenstand
Untersuchungsgegenstand sind allein die vom Erzbistum Köln bereitgestellten Akten, die nach Aussage der Gutachter hochgradig defizitär, lückenhaft und nur bedingt tauglich sind für eine fehlerfreie Rechtsmäßigkeitskontrolle. Die Gutachter geben selbstkritisch zu Protokoll: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch bei den begutachteten Fällen Intransparenz zur Fehlerquelle wurde.“ (S. 729) Zu gut Deutsch: Die Ergebnisse des Gutachtens sind angesichts der unsicheren Aktenlage selbst nur bedingt valide. Von einer überzeugenden Rechtsmäßigkeitskontrolle im Gutachten kann demnach keine Rede sein. Dies gilt umso mehr, als man der Befragung des langjährigen Generalvikars Feldhoff fassungslos entnehmen kann, dass von einer ersten Teilvernichtung der Missbrauchsakten, die der Codex in bestimmten Zeitintervallen vorschreibt, das entsprechende Protokoll mit summarischer Auflistung der Namen der Beschuldigten und der ihnen gemachten Vorwürfe nicht mehr auffindbar ist. Diesen schon für sich genommen skandalösen Sachverhalt nehmen die Gutachter wie beiläufig zur Kenntnis, ohne ihn weiter zu kommentieren.
Für die Erhebung wurden alle noch lebenden Verantwortungsträger von den Gutachtern persönlich befragt und mit den Vorwürfen gegen sie konfrontiert. Deren Einlassungen sind in das Gutachten eingepflegt. Man vermisst aber die Wiedergabe der Stellungnahmen im Wortlaut als Appendix an das Gutachten, was nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern auch ein methodischer Mangel ist. Wie man dies besser hätte handhaben können, zeigt das WSW-Gutachten für das Bistum Aachen.
Mit wem nicht gesprochen wurde
Die Gutachter unterließen es überdies, zum Beispiel mit Christa Pesch und Oliver Vogt zu sprechen, die im Zeitraum 2010 bis 2018 Ansprechpartnerin für die Opfer sexualisierter Gewalt bzw. Präventions- und später Interventionsbeauftragter waren – in jener Zeit also, als die meisten Anzeigen beim Erzbistum eingingen, und 2015 die Interventionsstelle gegründet wurde, die den gesamten Aktenbestand zu Missbrauchsvergehen übernahm. Diese beiden Personen hätten den Gutachtern als Ohren- und Augenzeugen sehr detailliert berichten können, wie sich die damals Verantwortlichen verhalten haben. Gerckes Einlassung, eine solche Befragung hätte die auf den Akten basierende Untersuchung empirisch verfälscht, ist leicht als Ablenkungsmanöver zu enttarnen: Wenn doch die Akten so defizitär geführt waren, wie die Gutachter es darlegen und wortreich beklagen, dann müssen diese Defizite in der Aktenführung potenziell zu mindestens genauso verfälschten oder jedenfalls bedingt aussagekräftigen Ergebnissen führen. Von daher hätten die Gutachter zwingend mit den beiden zentralen Zeitzeugen der jüngsten Bistumsgeschichte reden müssen. Dies nicht getan zu haben, ist ein schwerer methodischer Mangel, der den Gutachtern anzulasten ist.
Systemische Ursachen oder systembedingte Zusammenhänge
Bei der Auswertung des erhobenen Befundes scheuen sich die Gutachter, von systemischen Ursachen für Vertuschung zu sprechen, sondern nur von systembedingten Zusammenhängen. Da Themen wie Zölibat, Homosexualität oder der Ausschluss der Frauen von den Weiheämtern nur mittelbare Bezüge zu den untersuchten Fällen aufwiesen und keine juristischen Kategorien seien, sei auf deren Thematisierung grundsätzlich verzichtet worden (S. 721). Auch Aspekte wie männerbündische Systeme oder klerikaler Korpsgeist (Begriffe im WSW-Gutachten zum Bistum Aachen) entzögen sich der Kenntnis der Gutachter und lägen außerhalb ihres juristischen Kompetenzbereichs (S. 722). Damit sind alle in der MHG-Studie ermittelten wesentlichen Ursachen für sexuellen Missbrauch mit vordergründig juristischen Begründungen ausgeblendet. Das passt perfekt ins Konzept des Kölner Kardinals, der weder in diesem Kontext noch auf dem „Synodalen Weg“ über solche Themen reden mag, von echten Reformen ganz zu schweigen. Sexueller Missbrauch wird in der Gutachter-Perspektive zu einer allein juristischen Angelegenheit diminuiert, bei der moralische und theologische Anfragen keine Rolle spielen dürfen.
Das „anwenderfeindliche Kirchenrecht“ …
Bei der Analyse der Ursachen für die Pflichtverletzungen setzen die Gutachter einen altbekannten Trick ein, indem sie das kirchliche Strafrecht als eine „anwenderfeindliche Rechtsordnung“ (S. 756) bezeichnen. Sie werden nicht müde, diese kirchenrechtlichen Normen als in sich widersprüchlich, inkonsistent, untauglich, nicht bekannt und nur schwer anwendbar zu erklären. Beweise für diese These bleiben sie weitgehend schuldig. Man fragt sich, wie die beiden zugezogenen Kirchenrechtler (Hellmuth Pree und Stefan Korta) diese Passagen im Gutachten durchgehen lassen konnten. Sie beteiligen sich damit an einem beliebten Bashing des päpstlichen Gesetzgebers und der diözesanen Gesetzgeber, die in einer solchen Karikatur – tumben Toren gleich -– nicht in der Lage sind, anwendbare und kohärente strafrechtliche Normen zu erlassen.
Keine Frage: Es gibt wie bei den staatlichen strafrechtlichen Normen auch bei den kirchenrechtlichen Strafrechtsnormen die immer gegebene Notwendigkeit, komplexe Normtexte nach c. 17 CIC auszulegen. Und ja, die Gutachter identifizieren sachlich zutreffend Widersprüche zwischen den Leitlinien der deutschen Bischöfe seit 2002 und den päpstlichen Normen seit 2001 (SST), die auf Weisung von Papst Benedikt XVI. 2010 auch veröffentlicht wurden. Vielleicht hätte Gercke einmal die Rechtsanwälte und ihre Kanzleien aus dem Köln-Bonner Raum nennen sollen, die bei der rechtlich in der Tat defizitären Abfassung der Leitlinien den Verband der Deutschen Diözesen (VDD) entsprechend berieten und die jetzt sinnigerweise mit dafür sorgten, das Münchner Gutachten in der Versenkung verschwinden zu lassen.
… entschuldigt die Rechtsanwender?
Nachdem das Mantra des anwenderfeindlichen Kirchenrechts ausführlich repetiert worden ist, malen die Gutachter sodann auch noch ein gar erbärmliches Bild vom Wissensstand der Verantwortlichen im Erzbistum: Weder Kardinäle noch Generalvikare noch Offiziale oder Personalverantwortliche hätten wirklich Kenntnis von diesen, ach, so furchtbaren Normen gehabt; niemand habe sie in ihre Leitungsaufgaben eingewiesen, so dass eine fehlerhafte Rechtsanwendung gewissermaßen die natürliche Folge gewesen sei. Zuständigkeiten und Abläufe, aber auch die Nachverfolgung von Vorgängen seien stets – wenn überhaupt gegeben – im Unklaren geblieben. Dies gilt – wohlgemerkt – allerdings nur für den Umgang mit beschuldigten Klerikern. Verfahren gegen Laienmitarbeiter*Innen wurden arbeitsrechtlich und strafrechtlich stets zügig exekutiert, und hier wusste man augenscheinlich sehr wohl, wie man mit deren Taten umgehen musste.
Solche Diskrepanzen lassen weder die einschlägigen Aussagen der Verantwortlichen noch die Wertung der Gutachter als überzeugend erscheinen. Zwar werden so Pflichtverletzungen benannt, die hierfür Verantwortlichen werden jedoch im gleichen Atemzug faktisch exkulpiert. Der Mandant wird von den Anwälten geschützt, die viel Verständnis mitbringen für bemitleidenswerte Kirchenmänner, denen ihr Kirchenrecht ein immerwährendes Rätsel blieb. Kein Wort hingegen zur Gefühlskälte, der Empathielosigkeit im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt, denen Stefan Heße zum Beispiel nicht einmal die Fahrkosten für eine Befragung erstatten wollte. Zynischer und menschenverachtender als im Erzbistum Köln dürfte wohl kaum in einem anderen deutschsprachigen Bistum vorgegangen worden sein.
Persilschein für Kardinal Wölki
In das Gesamtbild passt, dass Weihbischöfe, die in Köln als Bischofsvikare Regionalbischöfe sind, als subalterne, willenlose und entscheidungsunfähige Gestalten dargestellt werden, um nur ja nicht den Eindruck zu erwecken, es treffe sie in ihrem Amt als Weihbischof irgendeine Verantwortung. Damit wird natürlich auch dem ehemaligen Weihbischof Woelki, der eben niemals Generalvikar oder Personalchef war, ein Persilschein ausgestellt. Man fragt sich bei dem Bild, das die Gutachter vom Erzbistum zeichnen, wie es dann wohl um die Verantwortung der Erzbischöfe bestellt war, eine Organisation aufzubauen, die funktioniert und rechtmäßig handelt. Ganz versteckt erinnern die Gutachter daran, dass es so etwas wie „organisationale Regeltreueverantwortung“ (S. 725) gebe, die Sache der Erzbischöfe gewesen sei. Eine Verantwortung, der sie augenscheinlich nicht sachgerecht nachgekommen sind.
Da die Gutachter nur systembedingte, systeminhärente Ursachen behandeln, fallen auch ihre Empfehlungen entsprechend eindimensional aus. Strikte Trennung von Interventionsstelle und Offizialat, eine Ombudsperson, eine Whistleblower-Hotline, neue Stellen für Opferfürsorge sowie eine stringente Kontrolle der Auflagen für überführte Täter sowie kirchenstrafrechtliche und strafrechtliche Kompetenz nach staatlichem Recht in der bischöflichen Behörde. Weiterhin werden dem Erzbistum eine bessere Fortbildung und die Implementierung anerkannter Compliance-Standards anempfohlen.
An einer einzigen Stelle – überraschend genug – tauchen dann schon fast wagemutige Beobachtungen der Gutachter auf. Fast erstaunt bemerken sie, dass die katholische Kirche wohl ein monarchisches System sei, das keine Gewaltentrennung kenne, und dass diese Phänomene wohl auch zu Pflichtverletzungen geführt haben könnten. In dieser kurzen Sequenz erreicht das Gutachten zum ersten und einzigen Mal ein akzeptables Beurteilungsniveau und eine Reflexionsebene, auf der man sich die Gutachter auf ihrer Suche nach den Ursachen für Vertuschung von sexuellem Missbrauch gern durchgängig gewünscht hätte.
Es gilt: Meldepflicht ohne Ermessensspielraum
Und Kardinal Woelki? Im dem öffentlich breit diskutierten Fall O., in dem es um den Missbrauchsverdacht gegen einen mit Woelki über Jahrzehnte befreundeten Priester geht, kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass dem Kardinal, der 2015 eine Untersuchung des Falls und die Meldung nach Rom unterließ, kein pflichtwidriges Verhalten nachzuweisen sei. In der Pressekonferenz sprach Gercke davon, dass „er und der Heilige Stuhl“ hier zur gleichen Auffassung gelangt seien. Es geht in der Tat um die Frage der Meldepflicht. Nach Ausweis aller befragten Kirchenrechtler in Deutschland ist der Sachverhalt nach dem Normwortlaut der SST klar: Es besteht eine Meldepflicht ohne Ermessensspielraum für den Diözesanbischof, auch wenn wie in diesem Fall weder eine Voruntersuchung nach c. 1717 CIC und damit auch ein eventueller Strafprozess noch ein außergerichtliches Verwaltungsverfahren gegen den Beschuldigten durchgeführt werden kann, etwa aufgrund einer Erkrankung des Betreffenden. Im Entlastungsurteil der Gutachten wird das eben Gesagte in aller Deutlichkeit klar: Ein beauftragter Anwalt schützt seinen Mandanten und gibt und eine kirchenpolitisch erwünschte Rechtsauskunft, die allem Anschein nach auch von höchster Stelle in Rom mit einem gnädigen Placet versehen wurde.
Selbst die Geste des Aufklärens – theatralisch und in sich rechtsvergessen
Die Inszenierung des Freispruchs war ebenso theatralisch wie der Showdown, in dem Woelki als schonungsloser Aufklärer gegen die Vertreter der dunklen Seite der Macht auftrat: Der amtierende Kölner Kardinal beurlaubt auf offener Bühne seinen Offizial und einen Weihbischof, noch ohne das Gutachten gelesen und sich eine eigene Meinung vom Sachverhalt gebildet geschweige denn die Betroffenen angehört haben zu können, bevor er diese Sanktion ausspricht. Dann kommt es wie auf einem kommunistischen Parteitag zur Abrechnung mit den Vorgängern. „Nichts geahnt“ (ein infames Zitat Kardinal Meisners aus dem Jahr 2015 zu seinem Wissen um Missbrauch im Erzbistum) gehe nun nicht mehr. Um den eigenen Kopf zu retten, bricht Woelki mit seinem Mentor, dem er seine gesamte kirchliche Karriere verdankt.
Aber halt: Als Geheimsekretär, Direktor im Theologenkonvikt und Weihbischof war Woelki von Anfang an ein getreuer Diener seines Herrn und Meisner. In wie vielen internen Runden muss er von Missbrauchstaten erfahren und das „systembedingte“ Vertuschen durch seinen Vorgänger klaglos mitgetragen haben? Selbst aus dem Gutachten tritt einem dieses Mitwissen entgegen. Woelki war eine tragende Säule und treuer Vasall im System Meisner. Das mag man juristisch nicht einfangen können, zumindest nicht wenn man den advokatischen Winkelzügen des Gutachtens Glaubens schenken darf. Aber wo bleibt der Seelsorger, der Priester und Bischof Rainer Woelki? Wo bleiben sein Gewissen und seine moralische Verantwortung?
Kein Wort dazu bisher. Nicht im Gutachten und nicht von ihm. Seine Pflicht? Im Amt bleiben und Verantwortung übernehmen – „für das, was ich in Köln begonnen habe: die schonungslose Aufklärung“. Mit diesem Wort Woelkis in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ist alles gesagt. Und das Projekt Aufarbeitung erledigt. Genau wie Kardinal Rainer Woelki, auch wenn er das vermutlich nicht weiß.
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Thomas Schüller ist Professor für Kirchenrecht an der WWU Münster. Bild: R_by_Rike – pixelio.de