Eine Ode an die Schwimmnudel oder warum wir für das Abstandhalten ein neues Wort brauchen. Juliane Link reflektiert ihre Erfahrungen mit dem Abstandhalten und betrachtet mit neuen Augen die „Noli me tangere“-Szene von Fra Angelico.
Nach einem Jahr mit Corona ist mir klar: Auf Dauer will ich es wieder kuschelig. Ich will in Berlin in überfüllten Bars sitzen und in meinem Lieblingscafé den letzten Platz ergattern, ich will mich beim Tanzen dem Durcheinander unkoordinierter Körper überlassen und in das Gewusel auf dem Mauerparkflohmarkt eintauchen. Ich will ein großes Picknick auf irgendeiner öffentlichen Wiese, einen Geburtstag mit vielen Umarmungen und einen Stehplatz in einem ausverkauften Konzert. Ich will meine Nichten knuddeln und am Sonntag mit ganz Berlin am See liegen und ich will noch in diese S-Bahn passen, in der sich die Leute schon bis zur Tür drängen. Ich will mit ein paar hundert Zuschauer*innen am Ende eines Theaterabends klatschen und ich will bei einer Demo in einer Menschenmenge das Gefühl haben, dass wir viele sind. Ich will das Berlin zurück, das ich so sehr mochte, ich will wieder Gründe haben, in dieser Stadt zu leben.
Irgendwann soll es wieder so sein, aber nicht um den Preis, den wir jetzt dafür zahlen müssten. Jetzt geht es darum – immer noch darum –, die Distanz zu wahren.
Andere Körperabstände
Letztes Jahr, als das mit den 1,5 Metern noch ganz neu war, habe ich oft an meine Zeit in Marseille gedacht, wo ich zwei Semester studiert habe. In den ersten Monaten in Marseille fühlte ich mich fremd und seltsam aggressiv. Irgendwann wurde mir bewusst, woran es lag: Die Menschen um mich waren andere Körperabstände gewöhnt und kamen mir im Supermarkt oder auf der Straße für mein Empfinden zu nah. Ich fühlte mich bedrängt, dabei war ich gar nicht gemeint, ein Passant war nur auf gewohnte Weise an mir vorbeigegangen.
Das war 2009. Zwölf Jahre später gilt auch in Marseille, was fast überall auf der Welt zur neuen Norm geworden ist: Abstand halten. Als ich im März 2020 in Berlin durch die Straßen ging und mir Menschen auswichen, fühlte ich mich für Momente so fremd wie damals in Marseille. Dazu kam keine Aggression, sondern eher etwas wie Unsicherheit oder Traurigkeit. Denn das umgekehrte Phänomen ist eingetreten: Die Distanzzonen zwischen mir und den anderen haben sich vergrößert. Mittlerweile habe ich mich so sehr daran gewöhnt, dass ich es als aufdringlich oder achtlos empfinde, wenn mir jemand im öffentlichen Raum näher kommt als unbedingt nötig.
Brauchen wir nicht nur den Abstand, sondern auch ein neues Wort?
Zu Beginn des ersten Lockdowns stand ich einmal in Schöneberg in der Schlange vor einer Bäckerei. Ihre Betreiber*innen kommen wie viele meiner schönsten Erinnerungen aus dem Mittelmeerraum. Der Gehsteig vor dem Laden war in Wartezonen eingeteilt. Im Schaufenster hingen Hinweisschilder mit der freundlichen Aufforderung „Bitte Abstanden“. Das Wort hat mir gefallen. „Abstanden“ statt „Abstand halten“, das ist nicht nur kürzer formuliert, auch treffender. Abstand halten, das klingt nach „Regeln einhalten“, „sich zurückhalten“, „anhalten“, „aushalten“, „durchhalten“. „Abstanden“ dagegen hört sich an, als ginge es um eine echte Tätigkeit, nicht nur um ein Vermeiden von Nähe, sondern um ein Verhalten, das sich gestalten lässt. „Abstanden“ das klingt nach einem neuen Stand, nach einer neuen Weise, zueinander zu stehen. Und vielleicht brauchen wir dafür ein neues Wort?
Die Schwimmnudel-Challenge
Wie Abstanden gehen kann, habe ich von Renate gelernt. Sie ist Pfarrerin und hat im Sommer für ihre Gemeinde Schwimmnudeln gekauft. Nicht, um für den Seniorenkreis Wassergymnastik anzubieten, sondern weil die handelsübliche Schwimmnudel 160 Zentimeter misst. „Lieber zehn Zentimeter zu viel als zu wenig“, sagte Renate und hielt die Schwimmnudel zwischen uns. So könne sie Grüppchenbildung nach dem Gottesdienst unterbinden, „ich gehe einfach mit der Schwimmnudel dazwischen“. „Mir würde das schwer fallen“, dachte ich, „zur Ordnungshüterin habe ich mich noch nie berufen gefühlt.“ Aber auch ich brütete über einem Hygienekonzept für unsere Gemeinde, das sich nicht im Aufstellen von Desinfektionsmittel erschöpfen, sondern wirklich dazu beitragen sollte, dass unsere Räume ein sicherer Ort sind.
Das Schwimmnudelexperiment hat mir gezeigt, wie wenig ich mich beim Abstanden auf mein Bauchgefühl verlassen kann. Ich war erstaunt darüber, wie groß die Entfernung von 1,5 Metern wirklich ist, als wir uns an den Enden der Schwimmnudel aufstellten. Die tatsächliche Distanz war fast doppelt so groß wie angenommen. Dabei geht es beim Abstanden nicht um gefühlte Distanzen und um das Ungefähre. So schmerzlich es ist, ich tue gut daran, mich zu Zeiten einer Pandemie an einer Schwimmnudel zu orientieren statt an meiner Intuition.
Nicht nur Zurückhaltung, auch Zuneigung.
Dass Abstandnehmen nicht bloß ein Ausweichen ist, das erzählt die „Noli me tangere“-Szene im Johannesevangelium, in der Christus Maria Magdalena mit seinem „Halte mich nicht fest“ zum Abstanden auffordert. Von allen Darstellungen, die ich kenne, mag ich am liebsten das Fresko von Fra Angelico in einer Mönchszelle in Florenz, das Maria Magdalena mit ausgestreckten Armen zeigt. Ihre Geste hat etwas Freilassendes, als hätte sie soeben ein Kind losgelassen, das seine ersten Schritte geht. In dieser Geste zeigt sich das Potential eines Abstandshaltens, das nicht nur Zurückhaltung, sondern vor allem Zuneigung zum Ausdruck bringt. Der Auferstandene entfernt sich schwebend in Richtung Bildrand, die durchbohrten Füße berühren kaum noch die Blumenwiese. Im Abschied scheint den beiden etwas eröffnet. Wie oft ist mir die Leichtigkeit, die mir diese Darstellung vermittelt, im Umgang mit den Kontaktbeschränkungen abhanden gekommen. Dabei kann ich mich jetzt, wo der Impfstoff da ist, besser in Maria Magdalena versetzen als je: in diesen Zustand, in dem so vieles, wonach ich mich sehne, in der Luft hängt, zwischen einem „nicht mehr“ und einem „noch nicht“.
Das Abstanden kostet uns mehr als ein bisschen Disziplin.
Psycholog*innen empfehlen, statt von „social distancing“ von „physical distancing“ zu sprechen und den Abstand, den wir körperlich halten, nicht als sozialen Rückzug zu verstehen, schließlich können wir unser Sozialleben ins Digitale verlegen oder bei abstandswahrenden Spaziergängen emotionale Nähe erleben. Aber nach einem Jahr mit Corona wissen wir auch, dass das Abstanden uns mehr kostet als ein bisschen Disziplin. Es ist zu einem Privileg geworden, mit einem oder mehreren Menschen zusammenzuleben und liebevolle Berührungen auszutauschen. Wir wissen von Singles, die Depressionen bekommen haben, von obdachlosen Menschen, deren prekäre Lage sich deutlich verschlechtert hat, und von Demenzkranken, die an Kummer gestorben sind, weil sie die Abwesenheit ihrer Angehörigen nicht verkraftet haben. Wir laufen Gefahr, uns im Abstandhalten noch weiter von denen abzuwenden, die zutiefst einsam sind und, ohne es zu wollen, zu Unberührbaren werden. Das sollten wir nicht zulassen. Zwischenmenschliche Berührung ist eine Weise, uns in der Welt zu verorten, wir brauchen sie. Nicht umsonst spricht Christus sein „Noli me tangere“ zu einem Zeitpunkt, an dem das irdische Leben hinter ihm liegt.
Schwimmhilfen
Auch das mag ich an Renates Schwimmnudel: dass ich etwas in der Hand habe, konkret und sinnlich, auch wenn es nur ein Stück Schaumstoff ist. Die Schwimmnudel dient eigentlich als Schwimmhilfe. Als Kind habe ich mich beim Training für das Seepferdchen an ihr festgehalten, um nicht unterzugehen. Sie begleitete mich durch eine Phase, in der ich keine blutige Anfängerin mehr war, aber auch noch nicht richtig schwimmen konnte. Mit ihr lässt sich die Entfernung messen zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“. Der absurde Anblick der Schwimmnudel in Renates Büro ist für mich zum Symbol für das Abstanden geworden, mit dem wir ein Gesundheitssystem über Wasser halten, das kollabieren würde, könnte sich das Virus ungebremst ausbreiten. Man kann annehmen, dass Maria Magdalena sich von Christus distanziert hat, weil sie keine Wahl hatte. Oder man kann annehmen, dass sie im Loslassen zu einer inneren Freiheit fand, die sich manchmal beim Fasten auftut, wenn es uns gelingt zu glauben, dass unser Verzicht etwas bewirkt. Aber dass Maria ihren geliebten Meister in Fra Angelicos Version ziehen lässt, ohne auch nur mit der Stirn zu runzeln, hat mit ihrer Hoffnung zu tun, anders kann ich mir es nicht erklären. Und auch wenn diese Hoffnung sich nicht messen lässt, überschreitet sie ohne Zweifel die Länge einer Schwimmnudel und übersteht die Dauer einer Pandemie.
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Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: Ausschnitt aus Fra Angelico „Noli me tangere“, Fresko in einer Klosterzelle in San Marco, wikipedia.