„Volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig“ – so sei die VUCA-Welt. Frederike van Oorschot blickt kritisch auf ein Basis-Tool von Kirchenentwicklung.
„Volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig“ – diese Welt- und Gesellschaftsbeschreibung begegnet mir derzeit häufig, wenn ich mich mit Kirchenvertreter*innen befasse, die sich – freiwillig oder dienstlich – mit den Veränderungsprozessen in den christlichen Kirchen beschäftigen.[1] Diese Beschreibungen des sogenannten VUCA-Modells bilden die Folie vor der gefragt wird, wie Kirche sein muss, werden soll, um in dieser Welt bestehen zu können. Die Beschreibung lohnt daher einen vertieften theologischen Blick: Wo und wie ist eigentlich „Kirche in der VUCA-Welt“? Dazu drei Gedanken.
1. Kirche ist nicht Teil der VUCA-Welt und muss insofern ihre spezifischen Herausforderungen (auch) in Spannung zu ihrer Umwelt bearbeiten.
Meiner Beobachtung nach ist das, was wir heute Kirche nennen, nur in Teilen und sehr wenig „volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig“: Wir haben es mit einer Institution zu tun, deren Zuschnitt aus dem 17. Jahrhundert stammt, deren Organisationsform im 19. Jahrhundert geprägt wurde und die bisher wie wenig andere ohne Druck von außen diese Form hat beibehalten können. Wir haben es in den Gemeinden – soweit ich es sehe – vor allem mit Menschen zu tun, denen Beständigkeit, Tradition und Gewohntes wichtig ist. Vielleicht auch schlicht deshalb, weil die meisten anderen schon lange die Kirche verlassen haben.
Die Erwartungen an die Kirche sind vielfach traditionsorientiert – man könnte auch sagen: rückwärtsgewandt.
Und damit verbunden: Die Erwartungen an die Kirche sind vielfach traditionsorientiert – man könnte auch sagen: rückwärtsgewandt. Wenigstens die Kirche soll doch bitte bleiben, wo und wie sie ist – wenn schon der Rest der Welt sich ändert. Ob, wo und wie Kirche Teil der VUCA-Welt ist – ob sie es mehr sein sollte oder eben nicht – und welche spezifischen Herausforderungen sich aus dieser Spannung ergeben, ist Teil der Diskussion um die Transformation der Kirche und nicht deren Voraussetzung.
2. Die Spannung der Kirchen zu ihren Umwelten ist Teil der Herausforderung zur Transformation, die jedoch nicht responsorisch bleiben darf.
Zugleich – und damit komme ich zur zweiten Überlegung – zeigt die Entwicklung der Kirche deutlich, dass Transformation nötig ist: Kein Geld, kein Personal, weniger Mitglieder. Von der Beschreibung der VUCA-Theorie, lässt sich aber eines lernen: Änderungen von außen halten nicht lange. Im Angesicht von Unsicherheit braucht es eine „Vision“ – das ist nicht mehr oder weniger als die Klarheit über das Ziel und Anliegen dessen, was man gemeinsam tut. Entsprechend gern werden derzeit Leitbildprozesse initiiert und Visionen entworfen. Meine Kirche, die Evangelische Kirche in Baden, hat für ihren derzeit laufenden Strukturprozess vier biblische Beschreibungen neu interpretiert:
Kirche ist Salz der Erde: Sie ist Kirche in der und für die Welt. Sie orientiert sich an dem, was Andere brauchen und ist mit Anderen Kirche.
Kirche ist ein Haus der lebendigen Steine: Sie ist vielfältig und zugleich stabil – und damit verlässlich. Die Steine bilden nur zusammen ein Haus. Somit sind Beteiligung und Vernetzung zentral.
Kirche ist Leib Christi: Im Zusammenspiel der verschiedenen Glieder mit ihren Aufgaben und ihrem Können bildet sich Gemeinde. Zentral sind daher Kooperation und Beteiligung, sowohl zwischen Personen als auch im Blick auf Besitz und Gebäude.
Was mir auffällt: Die neueren Kirchenbilder werden responsorisch entworfen, als Antworten auf Herausforderungen.
Kirche ist wanderndes Gottesvolk: Sie ist prozessorientiert. Es geht darum, aufzubrechen und auszuprobieren. Mitzunehmen, was guttut und liegen zu lassen, was beschwert – ressourcenorientiert wandern also. Und fehlertolerant. Was mir dabei auffällt: Diese Kirchenbilder werden responsorisch entworfen – in Antwort auf die von wem auch immer identifizierten Herausforderungen der Gegenwart. Damit wird ein Vorher-Nachher entworfen: Als ob es eine Kirche gab vor dieser Herausforderung – eine gute alte Zeit, in der alles besser war. Das ist meines Erachtens weder zutreffend noch hilfreich. Dazu eine dritte Überlegung:
3. Kirche war schon immer in der VUCA-Welt – oder war die Welt schon immer VUCA? – und kann insofern gelassen mit den Herausforderungen der Gegenwart umgehen.
Das VUCA-Modell wurde in den 1990er Jahren vom US-Amerikanischen Militär entwickelt, um die Außen- und Militärpolitik nach dem Wegfall des Ostblocks als „dem einen Feind“ neu auszurichten: Neue Sicht- und Reaktionsweisen unter den Bedingungen von Flüchtigkeit, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit mussten gefunden und umgesetzt werden. Seither hat es eine erstaunliche Karriere im Consulting, Management und eben auch in der Kirchentheorie hingelegt.
Ist und war und bleibt die Welt nicht immer VUCA?
Vor diesem Hintergrund des Modells wäre zu fragen, ob und wie VUCA nicht eigentlich der Normalzustand der Welt ist – unterbrochen durch eine scheinbar klarere Welt für ca. 40 Jahre, zumindest aus westlicher Sicht und um den Preis des Kalten Krieges, wenn man dem Modell folgen will. Also: Ist und war und bleibt die Welt nicht immer VUCA?
Für die biblischen Texte, aus denen die oben skizzierte Vision der Badischen Landeskirche entnommen sind, gilt das in jedem Fall: kämpfende Großmächte mit zunehmend militärisch ausgetragenen Konflikten – eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich – politischer Populismus – religiöse Pluralität verbunden mit wachsender Indifferenz. Das sind die Realitäten, denen sich die Jesusbewegung an ihren Anfängen stellen musste. Und sich heute in neuen Formen auch wieder stellen muss.
Biblische Texte beschreiben selbst eine Art Kirche in der VUCA-Welt.
Von daher ist der Rekurs auf die biblischen Texte nicht nur aus Gründen der Schriftautorität oder der Tradition von Bedeutung. Vielmehr beschreiben sie selbst eine Art und Weise Kirche zu sein in einer VUCA-Welt. Und beschreiben sich selbst als VUCA:
Kirche ist volatil, sagt das Bild des wandernden Gottesvolkes. Heute hier, morgen dort. Keine bleibende Stätte, zerrissene Planen, staubig und gebraucht. Müde, meckerig und erschöpft. Und dann wieder weiter – hilft ja nichts.
Kirche ist durch Unsicherheiten geprägt. Theologisch sprechen wir von der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche, wenn wir das Bild des Leibes Christi aufrufen. Wo und wer ist Kirche? Welche Aufgabe hat hier eigentlich wer? Wo und wie ist Christus Haupt der Kirche? Kann das, was Kirche ist, messbar sein? Und wenn ja, nach wessen Kriterien?
Kirche ist komplex – ein zum Teil wackeliges Gebäude aus sich bewegenden Steinen. Viele wollen der Eckstein sein, andere bleiben im Schatten und sind doch Teil der tragenden Wand. Wer wer ist, weiß keiner – das ist Anlass zu ermüdenden Streitigkeiten und so manches Haus zerbricht darunter.
Kirche und ihr Handeln ist zweideutig – es löst sich auf wie das Salz in der Suppe und wirkt auch dann, wenn es scheinbar verschwindet. Vielleicht nur dann, wenn es verschwindet und hinein diffundiert in die Welt? Wo und wie ist dann Kirche?
„volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig“ – so ist und bleibt Kirche. Von daher bleibt alles anders – mal wieder.
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PD Dr. Frederike van Oorschot ist Leiterin des Arbeitsbereichs Religion, Recht und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und Privatdozentin für Systemtische Theologie in Heidelberg.
Bild: Pete Linforth auf Pixabay.
[1] exemplarisch dazu: https://www.himmelrauschen.de/die-kirche-in-der-vuca-welt/ oder https://www.futur2.org/article/der-eigenen-sendung-folgen-kybernetische-ueberlegungen-zur-zukunft-kirchlicher-leitung/