30 Jahre „Friedliche Revolution“: Lena Steinjan macht auf einseitige Narrative aufmerksam und fordert umfassendere und differenziertere Erinnerungserzählungen.
Wer im Rampenlicht steht, stellt oft – gewollt oder ungewollt – alle anderen in den Schatten. Geblendet von der Helligkeit des Scheinwerfers wird das Publikum blind für alles, was sich im Zwielicht oder im Dunkeln befindet. Zeitungen, Magazine, Filme, Romane (…) aber natürlich auch wissenschaftliche Publikationen bieten die Bühne für die Erinnerungserzählungen über die geschichtlichen Ereignisse, die heute meist als „Wende“, „Mauerfall“ oder „Friedliche Revolution“ bezeichnet werden. Ihre Autor:innen sind gleichzeitig die Beleuchterinnen, Bühnenbildner, Regisseurinnen und Requisiteure. Sie ernennen die Hauptrollen, bestimmen den Handlungsort und setzen ausgewählte Ereignisse in Szene. Sie wählen eine Erzählperspektive und bieten dem Publikum Deutungsmöglichkeiten an. Geschichtsschreibung ‒ ob medial oder wissenschaftlich ‒ ist also immer Konstruktion und kommt nicht ohne Exklusion aus: Niemand kann Geschichte allumfassend erzählen.
Protestantische Revolution, Wiedervereinigung, …
Niemand kann Geschichte allumfassend erzählen.
Wenn sich die Inszenierungen unterschiedlicher Autor:innen bei aller Verschiedenheit in den Details stark ähneln, kann man dies als Narrativ bezeichnen. In Bezug auf das Ende der DDR gibt es zwei sehr dominante Erinnerungsnarrative: Das der „Protestantischen Revolution“ und das der „Wiedervereinigung“. Ich möchte im Folgenden einige Schlaglichter aus kirchenhistorischer und diskursanalytischer Perspektive auf diese beiden Deutungsmuster werfen, um ihr Ausblendungspotential sichtbar zu machen.
Der Mauerfall – von Pfarrern gemacht?
Juni 2019 ‒ Ich schlage die Zeitung auf, auf dem Titelblatt ein Artikel über Pfingsten. Da steht dieser Satz, mittendrin im Text: „Der Mauerfall war ein Pfingstwunder, von Pfarrern gemacht.“[1] Mir entfährt ein leiser Seufzer. Da ist es wieder, das Narrativ von der Revolution, die aus den Kirchen kam. Genauer gesagt aus der evangelischen Kirche, der in der DDR eine zweifellos größere politisch-gesellschaftliche Relevanz zukam als der katholischen Kirche. Dieses Narrativ ist eng mit dem Erinnerungsort Nikolaikirche in Leipzig und ihrem Pfarrer Christian Führer assoziiert.
die „Gruppe der 20“
Ein anderes Beispiel: Der jugendliche Ich-Erzähler in Peter Richters Roman 89/90 erfährt am Tag nach der Demonstration vom 8. Oktober 1989 in Dresden in der Schule von einem eingekesselten Demonstrationszug, aus dem die „Gruppe der 20“ entstand. Diese Gruppe, so wird es beschrieben, bestand aus „zwanzig Männern, die meisten irgendwie bei der Kirche beschäftigt“[2]. Die Kirche wird im Anschluss als evangelisch-lutherische Kirche spezifiziert. Hier zeigt sich, dass das Narrativ von der „Protestantischen Revolution“ in der literarischen Freiheit des Romans die Oberhand über die historische Korrektheit gewinnt. Die „Gruppe der 20“ bestand nämlich keineswegs nur aus Männern und die wenigsten von ihnen waren bei der evangelischen Kirche angestellt. Die Initiatoren der Gruppe waren Frank Richter und Andreas Leuschner, zum damaligen Zeitpunkt katholische Kapläne.
im Schatten der Pfarrer
Während in der evangelischen Kirchengeschichte das Narrativ der „Protestantischen Revolution“ seit langem als historisch unzutreffend gilt, ist doch mein Eindruck, dass es sich in den medialen Diskursen einer großen Beliebtheit erfreut. Deshalb möchte ich hier einige blinde Flecken dieses Narrativs aufzeigen:
Im Schatten der evangelischen Pfarrer stehen gleich mehrere Gruppen: Pfarrerinnen, Frauen allgemein, evangelische Gläubige, katholische Geistliche, katholische Laien und die große Gruppe nicht-christlicher Menschen. Wer kennt schon Hans-Friedrich „Friedel“ Fischer, der in den 1980er Jahren katholischer Jugendseelsorger in Leipzig war und von Anfang an die Friedensgebete in der Nikolaikirche mitorganisierte? Oder wieviel ist allgemein bekannt über das Engagement der über 40 evangelischen und katholischen Frauen, die 1990 als Abgeordnete in die erste freigewählte Volkskammer einzogen? Es wird deutlich: Man muss die Pfarrer schon auf ein sehr hohes Podest stellen, um einen so großen Schatten erzeugen zu können, der alle diese Menschen im Dunkeln stehen lässt.
Das Narrativ von der evangelischen Kirche als Revolutionsbereiterin blendet zwei weitere wichtige Punkte aus: Es vermittelt ein Bild einer geschlossen agierenden Kirche und marginalisiert die innerkirchlichen Konflikte um die Formel der „Kirche im Sozialismus“ und im Umgang mit oppositionellen Basisgruppen. Andererseits exkludiert es die Vielzahl anderer Faktoren: Die Flucht und Ausreise tausender DDR-Bürger:innen, die Ereignisse in den sozialistischen Nachbarländern, den politischen Kurs Gorbatschows, den finanziellen Bankrott der DDR …
Leipzig, Berlin, Dresden … und Halle a.d.S., das Eichsfeld, …
Das Scheinwerferlicht der überregionalen Medien richtet sich entweder auf Leipzig (Friedensgebete und Montagsdemonstrationen) oder auf Berlin (Alexanderplatz und Mauerfall). Andere Orte schaffen es höchstens in den Lokalteil. Aus katholischer Sicht wären das Eichsfeld, Halle an der Saale (u.a. Aktionskreis Halle) oder Dresden (Ökumenischer Friedenskreis) interessant. Und was ist mit Plauen im Vogtland und zahlreichen anderen kleineren Städten, Gemeinden und Dörfern? Es ist an der Zeit, dass 30 Jahre nach den Ereignissen der Friedlichen Revolution auch die unbekannten Orte ins richtige Licht gerückt werden.
Szenenwechsel: Das „Wiedervereinigungsnarrativ“, deutlich dominant in politischen Diskursen, impliziert einen geradlinigen und alternativlosen Weg von den anfänglichen Rufen „Wir sind das Volk“ zu der späteren Forderung „Wir sind ein Volk“. Allerdings blendet es andere Konzepte aus, wie zum Beispiel die von manchen Bürgerrechtler:innen favorisierte Alternative einer demokratisch erneuerten DDR. Ebenso bleibt der oftmals schwierige und bis heute unabgeschlossene gesellschaftliche Transformationsprozess unberücksichtigt. Auch die Geschichten derer, die 1989 nicht auf die Straße gegangen sind, geraten aus dem Blick. Es entstehen Leerstellen in der Erinnerungskultur, blinde Flecken, die in manipulierender Art und Weise von Blendern okkupiert werden können (man denke nur an den Landtagswahlkampf in Sachsen und Brandenburg).
Die Einblendung vernachlässigter Erinnerungserzählungen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Am Beispiel der Wiedervereinigung lässt sich der gesellschaftlich wichtige Aspekt von Narrativen verdeutlichen: Sie sind sinn-, gemeinschafts- und identitätsstiftend. Sie reduzieren komplexe Sachverhalte auf ein verständliches Maß und machen politische Entscheidungen und historische Ereignisse plausibel. Spaltendes Potential entfalten sie hingegen, wenn einzelne von ihnen den Diskurs bestimmen und infolgedessen die Leerstellen zu groß werden.
Die Einblendung vernachlässigter Erinnerungserzählungen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Verantwortung dafür liegt nicht allein in den Händen der Politik, der Wissenschaft oder der Medien. Sie liegt auch bei allen Zeitzeug:innen, die ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen sollten, denn Erinnerung lebt vom Erzählen. Sie liegt weiterhin bei den Kirchen und anderen gesellschaftlichen Kräften, die Raum für Erinnerungsgemeinschaften bieten können. Schlussendlich liegt sie beim Publikum selbst, das beim Betrachten der Narrative auf eine entspiegelte Brille setzen sollte, die Blendungen vermeidet und den Blick für blinde Flecken schärft.
[1] Evelyn Finger, Sturm und Feuer, in: Die Zeit Nr. 24 vom 6. Juni 2019, S. 1.
[2] Peter Richter, 89/90, München: Luchterhand 2015, S. 182.
Autorin: Lena Steinjan, Doktorandin am Institut für Katholische Theologie an der TU Dresden und Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, untersucht die Rolle katholischer Frauen in der Friedlichen Revolution 1989 mit diskursanalytischem Blick.
Bild: Alexander Dummer, www.unsplash.com