Sandra Pantenburg bilanziert in der Nachlese zu einer Fachtagung des Bistums Limburg, welche Anstösse im Kontext von spirituellem Machtmissbrauch Mut machen, den Blick zu heben.
„Z lebte 10 Jahre lang in einer Gemeinschaft. Er musste Tag und Nacht arbeiten, bekam nie Freizeit, seine gesamte Kommunikation wurde kontrolliert, er durfte keinen persönlichen Austausch pflegen, und das alles aus Liebe zum göttlichen Herzen Jesu.“[1]
„Niko, der seit einigen Jahren Bruder in der Gemeinschaft war und sich mitten im Noviziat befand, hatte von seiner Schwester einen von ihr selbst gestrickten Schal geschenkt bekommen. Da er nur wenig Kontakt zu seiner Familie haben durfte, war dieser Schal für ihn ein besonders kostbares Geschenk. […] Als der Novizenmeister, der zugleich Nikos geistlicher Begleiter und Beichtvater war, von diesem Schal erfuhr, forderte er umgehend, dass Niko diesen Schal abzugeben habe, und zwar mit der Begründung, dass der Schal nicht dem in der Gemeinschaft üblichen Stil entspräche und dass er seine Anhänglichkeit an seine leibliche Familie förderte, von der Niko sich im Noviziat zu lösen habe. Niko übergab seinem Oberen den Schal.“[2]
Schilderungen wie diese machen deutlich, dass spiritueller Missbrauch vorkommt. Inzwischen ist auch hinlänglich bekannt, dass dieser vielfach sexualisierter Gewalt vorausgeht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das große Interesse an einer Fachtagung über „spirituelle Autonomie“, die im Dezember 2022 vom Bistum Limburg in Kooperation mit RUACH bildung der ordensleute im Haus am Dom in Frankfurt veranstaltet wurde. Annähernd 100 Personen gingen der Frage nach, wie ein „Blickwechsel“ hin zu (mehr) spiritueller Autonomie gelingen kann. Mit Hilfe vielfältiger Methoden versuchten die Teilnehmenden, eine inhaltliche Annäherung und Ausdruck für das, was sie bewegt, zu finden. „Es ist wie ein Küken, welches gerade dabei ist, die zu enge Schale von innen mit dem Schnabel aufzubrechen. Risse sind bereits deutlich erkennbar.“ So die Eindrücke einer Teilnehmerin am Ende der Tagung.
Der Wunsch nach mehr spiritueller Autonomie ist nicht neu[3], aber deren Verbindung zu missbräuchlichen Strukturen im geistlichen Bereich zeigt eine neue Dimension und Dringlichkeit.
„Eine positive Vision aus der Kammer des Schreckens heraus entwickeln.“ (Julia Knop)
Im Eröffnungsvortrag markierte Julia Knop (Erfurt), dass es eine fertige Definition oder gar ein Patentrezept zur Erlangung der Souveränität im Glauben nicht geben könne. Vielmehr sprach sie von persönlichen Erfahrungen, von Momenten der Erschütterung, die für sie zu „befreienden Momenten“ wurden, und ermutigte damit dazu, sich erschüttern zu lassen und lange eingeübte kirchliche Verhaltensmuster zu hinterfragen, ob sie weiterhin tragen, lebensdienlich und glaubensförderlich sind.
Joachim Negel (Freiburg CH) machte auf das anthropologische Spannungsfeld der Autonomie aufmerksam: Ist man wirklich das Gesetz seiner Selbst als „nomos-tuos“? Ist nicht vielmehr der Mensch von Beginn an nicht autonom? „Ich bin mir selbst gegeben. Ich habe mich nicht geboren, ich finde mich vor….“ bot Negel dem Publikum nachdenklich als Aussage an. Sich zu den eigenen Vor-Gaben dankbar und kritisch zu verhalten, deren Reichtum zu entdecken und darüber zur eigenen Stärke zu gelangen, sei ein Weg hin zu einer „anderen Autonomie“.
hohe Abhängigkeit von Personen des Vertrauens
Ingrid Kamps (Aachen) richtete den Blick aus psychotherapeutischer Perspektive hauptsächlich auf die Begleitenden. Sie erlebe in ihrer Praxis, dass die Sehnsucht der Menschen nach Selbstoptimierung, Spiritualität und Achtsamkeit, verbunden mit der Frage nach einer besseren Zukunft, enorm gestiegen sei. Allerdings könne der Mensch ohne Zugehörigkeit, Wertschätzung und Annahme nicht leben. In der Suche nach Realisierung dieser Bedürfnisse entwickle sich häufig eine hohe Abhängigkeit von Personen des Vertrauens, die damit eine enorme Macht erhalten. Ohne ein gutes inneres Gleichgewicht, eine gute „Psychohygiene“, komme die begleitende Person nicht aus. Kamps warb für regelmäßige Supervision, Austausch und Intervision, um sich selbst und den Einsatz von Macht gut zu reflektieren.
Um der Thematik wohltuend begegnen zu können, lud Annette Jantzen mit einem zwinkernden Auge auf mehrere Coffee to go mit Gott[4] ein.
Durch die Redebeiträge eines eher nachdenklich gestimmten Plenums wurde die Vielfalt, aber auch die biographische Bedingtheit der Frage nach „spiritueller Autonomie“ deutlich. Drei große Themenbereiche kristallisierten sich im Tagungsverlauf heraus:
1) Die Kirche als Institution oder als offener Raum?!
Vielen scheint naheliegend, die Institution Kirche zu verlassen, um endlich autonom zu sein. Dies ist allerdings nicht in jedem Fall zielführend oder befriedigend. Dass eine Frage wie: „Ist Kirche etwas, das ich von meinem Glauben sauber abgrenzen kann?“ klar verneint werden muss, ist einleuchtend. Aber wo und wie können trotzdem Grenzen gezogen werden? Was und wie kann man der zeitweise gefühlten institutionellen Übermacht entgegensetzen? Dem immer wieder neuen Aushandeln dieser Verhältnismäßigkeit kommt eine bedeutsame Rolle zu. Eine Teilnehmerin entwickelte dazu ihre These des Blickwechsels: „Wir reden immer von Autonomie. Ist nicht eine gelingende Spiritualität das Wichtigste, aus der heraus sich die Autonomie wie eine Frucht entwickelt?“
vielfältige Räume öffnen
Die Kirche ist mehr als ein „Bekenntnisverein“ von Erlerntem. Sollte ihr nicht vielmehr die Aufgabe zukommen, vielfältige Räume zu öffnen? Innerhalb dieser Räume sind dann keine fertigen Glaubensprodukte abrufbar, nein, in ihnen wird Glaube be- und erzeugt. „In diesen Räumen muss ein Aushandlungsprozess mit Gott möglich sein, was mein Leben sein soll.“ So ein Teilnehmer des Podiums. „Verantwortungsvolle Leitung muss sich daher fragen, wie wirksam, aber auch wie kritikfähig sie ist.“
2) Eigenverantwortung übernehmen
Eine Gefahr besteht durchaus darin, den Kopf mit der Frage „Was darf man überhaupt noch?“ resigniert in den Sand zu stecken. Es war jedoch zu viel Aufbruchstimmung im Raum spürbar, als dass Resignation als reale Lösung in Frage gekommen wäre. Vielmehr rückte der Aspekt der Eigenverantwortung in den Fokus. Diese gehöre konstitutiv zu Autonomie bzw. Selbstbestimmung. Die „Kultur des (Ab-)Wartens“ gelte es zu verändern und mutig zu handeln. Dabei sei Kreativität eine gute Ratgeberin, um eigene spirituelle Kompetenz zu entwickeln und neue Handlungsspielräume zu entdecken.
Autonomie als Frucht gelungener Spiritualität
Trial-and-Error ist selbstverständlich Bestandteil dieses Prozesses, ebenso wie das Durchhalten der Übungsphase, denn die derzeit entstehende Suchbewegung sei mit Fingerübungen vergleichbar. Sie sind schlichtweg zu absolvieren, bevor man von Virtuosität sprechen könne. Für diese Fingerübungen sollte sowohl einzeln als auch in Gemeinschaft Verantwortung übernommen werden, um in künstlerischer Freiheit, Klang und Schönheit herauszubilden. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass die ernsthafte Frage: „Was heißt spirituelle Autonomie für mich und mein Arbeitsfeld?“ bereits ein Schritt zur Eigenverantwortung ist. Diesen Schritt habe jede:r mit der Anmeldung zur Tagung vollzogen.
3) Die relationale Seite der Autonomie
Es mag widersprüchlich klingen, aber „Autonomie ist immer Relation“. Die Vision einer neuen Art Kirche zu sein, kann nur relational, gemeinschaftlich verwirklicht werden. Dazu braucht es Räume der Begegnung und des Vertrauens, in denen ein ehrliches, vielleicht auch unbequemes Feedback möglich wird; Räume, in denen Spiritualität eine persönliche, neue Qualität gewinnt; Räume, in denen experimentiert werden darf und das Individuum immer mehr zu Authentizität findet, aus der heraus der Mensch wahrhaft „Ich“ sagen kann.
Christliches Leben geht nur in Gemeinschaft.
Dass Autonomie nie ohne Relation Bestand haben kann, ist eine Weisheit, die im Kontext von Ordensgemeinschaften besonders deutlich wird. Denn diese wissen: ohne geistliche Führung oder Begleitung, also ohne Vorbilder, geistliche Mütter und Väter, kann man einen geistlichen Weg nicht beginnen und nicht gehen. Christliches Leben geht nur in Gemeinschaft, also auch mit denen, die vor mir diesen Weg gegangen sind. Was die Gemeinschaft der Kirche von anderen gemeinschaftlichen Angeboten unterscheidet, ist letztlich eine Frage der Ekklesiologie.
4) Persönliches Resümee
Endlich Subjekt eines Prozesses sein!
Um angesichts der Vielschichtigkeit des Themas der spirituellen Autonomie sprach- und handlungsfähig(er) zu werden, müssen wir uns in eine neue Aufmerksamkeit einüben. In Gesprächen am Rande der Tagung, ließen viele Teilnehmer:innen durchblicken, dass es sie positiv motiviert, als Subjekt eines (lebens-)wichtigen Themas betrachtet zu werden, sich gegen ein teils lähmendes kirchliches Gießkannenprinzip zu wehren und dem auf der Spur zu sein, was lebendigen, hoffnungsfrohen, persönlichen Glauben ausmacht: Hineinzuwachsen in das Freisein vom äußeren Zwang und das Freisein für das, was das Selbst als das Gute erkennt und will.[5] Was die Terminologie betrifft, so bevorzuge ich es, von souverän glauben[6] zu sprechen, denn souverän Glaubende können anders Kirche sein bzw. können zu einer anderen Kirche führen. Und „Kirche sein“ geht nie ohne die Anderen.
Zum Aufbruch gehört auch Abschied
Ich sprach bereits von der kraftvollen Aufbruchstimmung, die in den Reflexionen zur spirituellen Autonomie spürbar wurde. Gleichzeitig bedeutet es, von so manchem Abschied zu nehmen. Julia Knop sprach von Unlearnings: „You must unlearn what you have learned“, lautet ein Buchtitel.[7] Verhaltensmuster, Glaubenssätze und alles was mit „das war schon immer so…“ beschrieben wird, gilt es aufrichtig anzuschauen und sich ggfs. von so manchem zu verabschieden. Dieser Abschied betrifft durchaus auch den Umgang mit der Heiligen Schrift. Wie sehr haben sich Wirkungsgeschichte und Predigten, Bilder und moralische Forderungen in den Köpfen der Menschen festgesetzt, so dass auch die biblischen Texte in ihrer Autonomie bedroht sind.[8]
in Austausch und Begleitung sein
Solche Aufbrüche zu mehr Leben und Authentizität können zutiefst erschüttern und bestehende Vorstellungen über den Haufen werfen. Dann ist es m.E. umso bedeutsamer, in Austausch und Begleitung zu sein. Hier kommt die Forderung nach Räumen zur Geltung, in denen man nicht nur Rezipient:in ist, sondern eigene Erfahrungen wertvoll einbringen kann und diese ihren Platz haben.
Es ist bereits da….
Es wäre verwegen zu meinen, dass es irgendwann die Lösung geben wird. Wir sind eben Menschen auf dem Weg der Sehnsucht! Ich bin jedoch persönlich beeindruckt, wie groß die Zahl derer ist, die sich immer wieder in und für ihre Kirche aufmachen und wie sehr in Momenten, wie bei der Tagung, Gemeinschaft spürbar wird; Gemeinschaft, die bereits Teil der gesuchten neuen Lebens- und Glaubensräume ist. „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,19) Aus der Evaluation der Tagung wurde deutlich, dass das Thema weiter ausgefaltet und seine Bedeutung für die unterschiedlichsten Bereiche aufgegriffen werden muss. Das Bistum Limburg kommt dem nach mit einem Projekt zur „Theologie angesichts des Missbrauchs“ in Kooperation mit Lehrstühlen der Goethe-Universität und der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt.
Sandra Pantenburg war Mitglied der AG „Spirituelle Autonomie fördern – Spirituellen Missbrauch verhindern“, welche im Rahmen des diözesanen MHG-Projekts „Betroffene hören – Missbrauch verhindern“ unter der Leitung von Samuel Stricker ein Konzept zur Förderung der spirituellen Autonomie erstellt hat, woraus die Tagung erwachsen ist.
Beitragsbild: ©stocksy/Giorgio Magini
Foto der Autorin: privat
[1] Klaus Mertes SJ, Ethische und theologische Beurteilung, in: Zum Umgang mit geistlichem Missbrauch, Fachtagung der Pastoralkommission (III), der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste (IV) und der Jugendkommission (XII) am 31.Oktober 2018 im Erbacher Hof, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2018, 35-45, 37f.
[2] Doris Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2019, 132.
[3] Bereits Martin Luther verfasst die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.
[4] Ab 01.03.2023 erhältlich: Coffee to go mit Gott , Echter-Verlag.
[5] Vgl. Jürgen Werbick, Theologie anthropologisch gedacht, Freiburg i. Br. 2022, 50.
[6] So der Vorschlag von Julia Knop in ihrem Vortrag „Souveränität im Glauben“.
[7] William Irwin: The Ultimate Star Wars and Philosophy – You Must Unlearn What You Have Learned, Hoboken, United States, 2017.
[8] Aus der Workshopbeschreibung von Margareta Gruber OSF zu diesem Thema: „Welche Frau fühlt nicht die Kränkung, wenn sie das Evangelium von Maria und Martha hört? Wer zuckt nicht zusammen, wenn der Glaube eines Abraham vor Augen gestellt wird, der einem unverständlichen, grausamen Gott scheinbar willenlos gehorcht?“