Im Dezember wird erstmalig ein Musiker mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Bob Dylan wird für die Schöpfung eines neuen poetischen Ausdrucks in der amerikanischen Gesangstradition geehrt. Der Theologe und Dylan-Kenner Knut Wenzel stellt das Poetische des Folksängers heraus und geht auf die Religiosität seines Werkes ein. Die Musiklegende sei ein ortloser Pilger, der sich am Absoluten abarbeitet.
„Lyrics zwar, doch keine Lyrik“. Der entscheidende Vorbehalt gegen die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Bob Dylan zielt auf die Güte des Werks, seine Preiswürdigkeit. Nur Lieder, nicht einmal Gedichte (zu schweigen von Romanen): eine literatur-geschichtsvergessene Abwertung des Liedhaften. Es ist genuine Vorstellung der Romantik, in genau umgekehrter Wertung das Gedicht vom Lied her zu denken. Das Lied ist flüssiger, aber auch ursprünglicher – nicht weil es aus dem Volk käme, sondern weil es näher beim Klang ist, beim bloßen Klang. Für William Wordsworth ist der song durch den sound bestimmt; die Transformation des Liedhaften ins poem wird weniger als Übersetzung gedacht denn als composition.
Es ist unbestreitbar, dass Bob Dylan auch Gedichte im strikten Sinn geschrieben hat – in diesem Sinn der Transformation von sound in composition. Als eindeutiger Gestus weist in diese Richtung, wenn er frühen Alben Texte beigibt, die weder auf diesen Schallplatten noch sonstwo je gesungen worden sind. Nur haben diese Gedichte wie überhaupt sein Gesamtwerk die Geschichte der amerikanischen Lyrik der Moderne zur Voraussetzung – und das heißt, auf einer anderen Spur als die des Imaginismus eines Ezra Pound, die Rück-Blendung der composition ins Liedhafte: durch Walt Whitman vor allem, aber auch Carl Sandburg und die Beat Poets; Allen Ginsberg wurde ihm zum Freund und über viele Jahre hinweg zum literarischen Mentor. Noch die lyrics (!) zum Album Empire Burlesque von 1985 legte Dylan Ginsberg zur Expertise vor. Was nebenbei unter Beweis stellt, wie ernst es Dylan mit dem Dichten ist.
Die ins Wesen des Poetischen treffende Frage lautet: wie aus dem Tanz das Lied, aus dem Lied das Gedicht hat werden können.
Lyrik also: Wird jedoch Dylans Werk nur unter dem Vorzeichen von lyrics gelten gelassen, wird es, innerhalb der Poetik der Romantik, in eine gegenüber dem noch so ambitionierten Gedicht sehr viel profundere Sphäre eingeordnet, auf die jeder Dichter sich zurückzubeziehen hat. Im Lied wird die Sprache nicht auf die Bedeutung ihrer Worte zurückgeführt, sondern auf den Klang in einem emphatischen Sinn: auf die Musik – Now I wish I could write you a melody so plain / That could hold you dear lady from going insane / That could ease you and cool you and cease the pain / Of your useless and pointless knowledge (aus Tombstone Blues von dem Album Highway 61 Revisited, 1965). Wenn dies wiederum nach einer Idee der Romantik klingt, dann nicht ohne Grund. Ist doch der Pop, durch alle seine Spielarten hindurch, eine zutiefst romantische Unternehmung: Last night the wind was whisperin‘, I was trying to make out what it was / Last night the wind was whisperin‘ somethin‘ – I was trying to make out what it was / I tell myself something’s comin‘ / But it never does (aus Lonesome Day Blues vom Album Love And Theft, 2001). Wer also Dylan als bloßen Liedtexter und ‑sänger abwerten will, wertet ihn im romantischen Paradigma auf. Dylan selbst hat sich ohnehin stets als Song-and-Dance-Man bezeichnet. Und es ist überhaupt die ins Wesen des Poetischen treffende Frage, wie aus dem Tanz das Lied, aus dem Lied das Gedicht hat werden können, aus der Polka das Poem.
Das Versprechen, als könnte in der Musik Wirklichkeit selbst sprechend präsent werden.
Das Poetische erhält im Licht dieser Frage eine Durchlässigkeit – wie ein fein gewobener Schleier, der zeigt, indem er verhüllt – auf noch eine ganz andere Dimension, und diese ist unverzichtbar zum Verständnis des Werks von Bob Dylan. Wenn sich im Lied die Gegründetheit der Sprache in der Musik offenbart, wird in eins damit die Heraufkunft der Bedeutung aus dem Un-Bedeutenden ersichtlich. Denn Sprache ist System und Praxis zeichenvermittelter Bedeutung. Musik aber ist, so Theodor W. Adorno, Sprache, die nicht bedeutet; sie verweist auf nichts, ist selbst ihre Bedeutung. Die un-bedeutende Sprache ist aber Sprache des Absoluten: die Sprache, in der die Nicht-Identität von sprachlichem Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit aufgehoben scheint, als könnte in der Musik Wirklichkeit selbst sprechend, vollkommen präsent werden – auch wenn auch in Musik dies unterm Vorbehalt des Scheins geschieht, als Versprechen.
Wo das Wort übers Lied Kontakt zum bloßen Klang unterhält, ist es offen auf das Absolute.
Es ist das lyrische Register der Sprache – da, wo das Wort übers Lied Kontakt zum bloßen Klang unterhält –, wodurch sie nach unten, unterhalb aller Diskurse, allen Funktions-Sprechs, allen Alltagsgeredes, offen ist auf das Absolute. Let’s try to get beneath the surface waste, girl (aus Don’t Fall Apart On Me Tonight vom Album Infidels, 1983). Das Absolutheitsfundament der Sprache ist abgründig. Der Sarkasmus, mit dem Dylan sich dem nähern kann, ist ein im Modus des Pop vorgetragener Ausdruck der Diskretion gegenüber dem Absoluten: Inside the museums, Infinity goes up on trial / Voices echo this is what salvation must be like after a while / But Mona Lisa musta had the highway blues / You can tell by the way she smiles (aus Visions Of Johanna vom Album Blonde On Blonde, 1966)
Die Gestalt, die Dylans Religiosität entspricht, ist die des HoboPilgrim: Pilger ohne Obdach und ohne angebbares Ziel.
Die lyrics nicht nur Bob Dylans, sondern der Pop-Musik, sind bis auf die linguistischen Knochen durchtränkt mit religiöser Motivik und Metaphorik. Dies aber nicht deswegen, weil die Musiker sich im Sinn eines bestimmten Religionsbekenntnisses als gläubig verstehen würden; die Religionshaltigkeit von Pop-lyrics gilt unabhängig von dieser Frage. Abgesehen von historischen Gründen – die amerikanischen Kirchenliedsammlungen des 19. Jahrhunderts sind der Folk Music Reservoir für Imaginationsstoffe im selben Maß wie es in Europa die Märchensammlungen sind – liegt das vor allem daran, dass die Religionssemantik das vorzügliche Instrument zur sprachlichen Bearbeitung eines jeden Bezugs zum Absoluten ist. In diesem Sinn der Bearbeitung – der Abarbeitung am Absoluten – ist das Werk Bob Dylans durch Religiosität bestimmt. There’s nothing ‚round here I believe in / ’Cept you, yeah you / And there’s nothing to me that’s sacred / ’Cept you, yeah you (aus Nobody ’Cept You, von 1973). Diese Religiosität geht jeweiligen manifesten Religionsbekenntnissen voraus. Dylan ist deswegen auch durch so manches Religionsfeld hindurch gegangen. Die seiner Religiosität entsprechende Gestalt ist die des HoboPilgrim: Pilger ohne Obdach, ohne angebbares Ziel, höchstens unterm Zeichen des schlechthin heterotopischen „Orts“: Trying to get to Heaven, before they close the door (der gleichnamige Song auf dem Album Time Out Of Mind von 1997).
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Knut Wenzel ist Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
In diesen Tagen erscheint eine erweiterte Neuausgabe seines Werkes HoboPilgrim. Bob Dylans Reise durch die Nacht (Grünewald 2016). Außerdem ist Knut Wenzel Herausgeber von Code of the Road. Dylan interpretiert (Reclam 2013).
Bild: Cover von Bob Dylan, Lyrics. Sämtliche Songtexte 1962-2012, übersetzt durch Gisbert Haefs (erscheint im Dezember bei Hoffmann und Campe).