Was gewinnt Entwicklungspolitik, die sich über ihre eigenen Grenzen Rechenschaft ablegt? Einen neuen Blick auf religiöse Gemeinschaften. Wilhelm Gräb über den Essay „Über Leben in planetarischen Grenzen“ von Wolfram Stierle.
Es ist das Kleinste unter den Ministerien, vertritt aber die höchsten Ansprüche und begegnet den größten Erwartungen. Von „Entwicklungshilfe“ redet heute kaum noch jemand. Es geht um wirtschaftliche Zusammenarbeit, vor allem aber um nachhaltige Entwicklung. Die Transformation zur Nachhaltigkeit, die alle zu leisten haben, die armen wie die reichen Länder – und die reichen vielleicht sogar mehr – bestimmt heute die Agenda der deutschen Entwicklungspolitik.
Dazu hat jetzt Wolfram Stierle ein Buch vorgelegt wie man es von einem ranghohen Mitarbeiter des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wohl kaum erwarten konnte. Vermutlich zeigt es aber gerade deshalb, wie gut es der Politik tut, wenn sie zu einer ebenso mutigen wie konstruktiven Selbstkritik fähig ist. Als Leiter der Stabsstelle „Werteorientierte Entwicklungspolitik“ wagt es Stierle, einen Schritt hinter den Entwurf der Programme, für deren Entwurf er in seiner amtlichen Funktion mit verantwortlich zeichnet, zurückzutreten, um sie einer kritischen Revision zu unterziehen.
konstruktive Selbstkritik
Im Hintergrund dieser kritischen Durchsicht der staatlichen Entwicklungspolitik in Deutschland stehen die 2015 von den UN beschlossenen und bis 2030 global zu erreichenden Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs). Dass dies gelingt, dazu will auch das BMZ erklärtermaßen beitragen. So ehrenwert solch ein Vorhaben erscheint, die Frage ist dennoch, ob sich die Entwicklungspolitik damit nicht ganz gewaltig überfordert. Um besser zu erkennen, was realistischer Weise erreicht werden kann und worauf die eigenen Kräfte zu konzentrieren wären, scheint Stierle jedenfalls eine kritische Selbstbegrenzung der (Entwicklungs)Politik dringend geboten!
Stierle stellt sich energisch dem Paradigmenwechsel im Verständnis von Entwicklung, den die SDGs fordern. Er nimmt zunächst die Kritik auf, die an „Entwicklungshilfe“ und „Entwicklungszusammenarbeit“, ja am Konzept von „Entwicklung“ überhaupt, seit langem und von den verschiedensten Seiten geäußert wird. Die „lange Geschichte der Kritik“, die die deutsche Entwicklungspolitik seit ihrem Beginn in den 1960er Jahren begleitet, wird in Erinnerung gerufen. Sie zeigt, dass nicht nur die alte „Entwicklungshilfe“ hochproblematisch ist, auch die Betonung von Zusammenarbeit und Partnerschaft hat es im Grunde nicht geschafft, die Asymmetrie zwischen entwickelten und unterentwickelten, helfenden und der Hilfe bedürftigen, gebenden und nehmenden Ländern zu überwinden. Die Eurozentrik des Entwicklungsdenkens ist unbestreitbar. Immer wieder scheint die der europäischen Aufklärung entstammende, Perfektibilitätsvorstellungen verhaftete Geschichtsteleologie durch. Ihr wollen die „Post-Development“ Ansätze entkommen, ohne dass ihnen dies bislang auf der politischen Bühne gelungen wäre.
Asymmetrie zwischen entwickelten und unterentwickelten, gebenden und nehmenden Ländern nicht überwunden
All den Kritikern und Kritikerinnen der Entwicklungspolitik gibt Stierle recht. Und dennoch plädiert er dafür, dass es mit „Entwicklung“ und Entwicklungspolitik weitergehen muss. Nun erst recht, nach der Auflage der SDGs! Jetzt ist Entwicklungspolitik ganz neu und in einem bisher nicht formulierten Ausmaß gefordert, denn alle Länder dieser Erde sind zu Entwicklungsländern geworden. Überall sind grundlegende soziale, ökonomische, ökologische und kulturelle Transformationen einzuleiten, sollen die Nachhaltigkeitsziele erreicht werden.
In Frage steht nicht, ob es nachhaltige Entwicklung braucht, sondern ob und wie Entwicklungspolitik zu ihr beitragen kann. Kann staatliche Entwicklungspolitik Transformation? Kann das Politik überhaupt – die weltgesellschaftliche Wende hin zu einer nachhaltigen ökologischen und ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung organisieren? Wie müsste eine solche Politik aussehen? Wer übernimmt für sie die Zuständigkeit?
Um ein Moratorium in der Entwicklungspolitik zur kritischen Diskussion dieser Fragen geht es Stierle. Deshalb lässt er auf den Durchgang durch die „lange Geschichte der Kritik“ bisheriger Entwicklungspolitik eine noch viel „grundsätzlichere Kritik“ folgen. Er spricht die Widersprüche und Aporien in den Zielsetzungen und Strategien der Entwicklungspolitik an, die offenen Fragen, für die keine befriedigenden Antworten in Aussicht stehen. Wie etwa soll die Forderung nach allseitigem Wirtschaftswachstum mit der nach einer Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen vereinbar werden? Wie lässt sich Armut messen? Macht Globalisierung reich oder arm? Wie eigentlich geht Demokratieförderung? Warum erscheinen die Menschenrechte vielen immer noch als eine westlich-imperiale Bedrohung? Ist Hilfe von außen, auch wenn sie sich als „Hilfe zur Selbsthilfe“ deklariert, nicht grundsätzlich problematisch? Auf alle diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten.
Kann staatliche Entwicklungspolitik Transformation?
Der Paradigmenwechsel, den die SDGs der Entwicklungspolitik abverlangen, ist fundamental, die Transformation, die sie fordern, höchst anspruchsvoll und komplex. Kein Bereich staatlicher Politik kann diese Aufgabe allein schultern, ja die Frage ist, ob staatliche Politik nicht überhaupt an ihre Grenzen gerät. Das gilt es zu sehen. Politik ist nicht das Ganze und nicht alles ist Politik. Will Politik den Anspruch auf Transformation hin zur Nachhaltigkeit aufrechterhalten und sie sollte das tun, dann muss sie über sich selbst hinausgehen. Die Transformation, die sie sich auf die Fahnen geschrieben hat, braucht mehr als Politik! Sie braucht Werte, sie braucht Moral und vor allem auch die Religion.
Transformation braucht Werte, Moral und vor allem auch die Religion.
Die „Kompetenzen“, die Stierle der Entwicklungspolitik abfordert, sind deshalb nicht solche des zielorientierten Machens, Konzeptionierens und Organisierens. Er provoziert die problemverschärfende Reflexion auf die sozialen und kulturellen Kontextbedingungen, unter denen ihre Arbeit steht. Es gilt zu sehen, dass jede entwicklungspolitische Maßnahme ambivalente Folgen hat. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr und gut. Die „multiple modernities“ sind zu berücksichtigen, mit ihren je unterschiedlichen kulturellen Leitvorstellungen, Moralen und Wertorientierungen. Insbesondere ist die ungeheure Bedeutung zu erkennen, die Moral und Werte, Religion und Religionen in gesellschaftlichen Umbrüchen zukommt. Wenn es um Transformation zur Nachhaltigkeit geht, dann sind wir zudem immer auch selbst gefragt, nach unseren eigenen Vorstellungen vom Leben, unseren Einstellungen zum Leben, ob wir selbst bereit sind, unser Verhalten in den verschiedenen Lebensbereichen zu ändern.
In der „Religions- und Wertekompetenz“ sieht Stierle den größten Nachholbedarf, soll es zu einer „nachhaltigen Entwicklungspolitik“ kommen. Entwicklungspolitik muss in Sachen Religion und Werte urteilfähig werden, denn auch Religionen sind in ihren sozialen und kulturellen Wirkungen ambivalent und ihre Werte höchst fluid. Auf der Basis eines kompetenten religiösen Werturteils sollte Entwicklungspolitik dann aber in der Lage sein, religiöse Akteure als mögliche Kooperationspartner bei der Verwirklichung der Ziele nachhaltiger Entwicklung zu gewinnen.
religiöse Akteure als mögliche Kooperationspartner gewinnen
In diesem Zusammenhang verweist Stierle darauf, dass das BMZ 2016 auf Initiative von Bundesminister Gerd Müller ein Ressort „Religion und Entwicklung“ eingerichtet hat und Forschungsaufträge zur Generierung entsprechender Wissensproduktion und Urteilskompetenz vergibt. Zudem ist das unter Leitung des BMZ stehende, inzwischen global operierende internationale Netzwerk „Partnership on Religion and Sustainable Development“ (PARD) entstanden. PARD hat es sich zum Ziel gesetzt, staatliche Politik mit zivilgesellschaftlichen und religiösen Entwicklungsakteuren ins Gespräch zu bringen und gemeinsame Projekte zu ermöglichen.
Eine nachhaltige Entwicklungspolitik, so lässt sich das Fazit dieser kritischen Studie formulieren, verlangt die Einsicht in ihre Grenzen. Nachhaltige Entwicklungspolitik ist auf die Berücksichtigung von Faktoren und die Kooperation mit Akteuren angewiesen, die jenseits der Zuständigkeit und Einflussmöglichkeiten staatlicher Politik liegen. Sie lebt, so könnte man in Anlehnung an das berühmte Böckenförde-Diktum auch sagen, von Voraussetzungen, die zu schaffen nicht in ihrer eigenen Macht liegen. Diese betreffen vor allem anderen die Bildung von Wertorientierungen und Weltsichten, von moralischen Einstellungen und Lebenshaltungen wie sie in religiöser, moralischer und weltanschaulicher Sozialisation, Kommunikation und Interaktion geschieht.
Nachhaltige Entwicklungspolitik verlangt die Einsicht in ihre Grenzen.
Die Bedeutung religiöser, moralischer und weltanschaulicher Überzeugungen ist nicht nur, wie Stierle hervorhebt, für die Länder des globalen Südens zu konstatieren. Dort allerdings ist es offenkundig, dass sich die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht nur zu ihrer Religionszugehörigkeit bekennt, sondern ihnen aus dieser auch ihre Lebensenergie und ihre handlungsleitenden Überzeugungen zuwachsen. Eine werteorientierte Entwicklungspolitik muss daher, will sie in Kooperation mit den Menschen vor Ort verfolgt werden, die Religionsgemeinschaften an vorderster Stelle einbeziehen.
Die Rede von säkularen Gesellschaften, in denen die Religion ihre formative Kraft in der Bildung von Wert- und Sinnorientierungen verloren habe, bedarf aber auch im Blick auf den deutschen und europäischen Kontext dringend der Korrektur. In Entsprechung zu den „multiple modernities“ wäre auch von den „multiple secularities“ zu sprechen. Die Bindung an die traditionellen religiösen Institutionen, die Großkirchen vor allem, ist zweifellos schwach geworden. Das bedeutet aber nicht, dass die durch sie überlieferten Wert- und Sinnorientierungen sich aus der gesellschaftlichen Kommunikation verloren haben. Unübersehbar sind zudem die religiösen Verpflichtungs- und Motivationspotentiale im Engagement der ökologischen Bewegungen und auch der Menschenrechtsbewegungen. Eine werteorientierte, nachhaltige Entwicklungspolitik, das schärft Stierle energisch ein, ist überall sowohl auf den kritischen Diskurs wie die konstruktive Kooperation mit religiösen Akteuren und ihren sich mehr oder weniger säkular definierenden Partnern angewiesen.
Wolfram Stierle, Über Leben in planetarischen Grenzen. Plädoyer für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, Oecom Verlag München 2020.
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Prof. Dr. Wilhelm Gräb ist Leiter des Forschungsbereichs Religiöse Gemeinschaften und nachhaltige Entwicklung in der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung 2016 Professor für Praktische Theologie war.