Der in England lebende deutsche Unternehmensberater Martin Ott analysiert die aktuelle britische Situation und zeigt schockierende Kräftespiele auf.
Was für eine Woche: die Regierung schickt das Parlament einfach nach Hause, wirft 21 altvertraute Abgeordnete aus der Fraktion und der Partei (darunter den Enkel Winston Churchills), der Bruder des Premierministers, Jo Johnson, und die Arbeitsministerin Amber Rudd verlassen aus Protest gegen die No Deal Planungen das Kabinett, ein Gesetz schreibt der Regierung vor, was sie in Sachen Brexit zu tun und zu lassen hat, der Premierminister kündigt öffentlich einen Rechtsbruch an, behauptet, das Gesetz gelte für ihn nur „theoretisch,“ die Opposition arbeitet an einem Verfahren, den Premierminister dann vor Gericht zu stellen, der ehemalige konservative Oppositionsführer Iain Duncan Smith ermutigt Boris Johnson, das Gesetz zu brechen und ins Gefängnis zu gehen, um als Brexit-Märtyrer in die Geschichte einzugehen.
Boris Johnson als Brexit-Märtyrer.
Nein, wir sind nicht in Ungarn oder im stalinistischen Russland der Säuberungen, sondern im Mutterland des modernen europäischen Parlamentarismus. Eigentlich müsste es zur Zeit ein Vergnügen sein, in England zu philosophieren, folgte man Ludwig Wittgenstein: „When you are philosophizing you have to descend into primeval chaos and feel at home there“.
Es ist kein Vergnügen! Denn so langsam wird die eigentliche Agenda der Regierung unter Boris Johnson deutlich: schon lange geht es nicht mehr um „Leave“ oder „Remain“, sondern um „No Deal“ oder Landesverrat. Die Radikalisierung der britischen Politik hat begonnen! Man sollte sich keine Illusionen machen; das ist erst der Anfang. Wenn die Ähnlichkeiten zum Ende der Weimarer Republik nicht so augenscheinlich wären, bestünde weniger Grund zur Aufregung. Aus England (denn Schottland, Wales und Nordirland spielen keine Rolle, der Bruch der Union wird in Kauf genommen) soll ein Singapur Europas werden: mit geringeren Standards für Lebensmittel, Medikamente, Arbeits- und Umweltschutz, mit billigeren Löhnen für die Arbeiter*innen und Steuerfreiheiten für Reiche und Landbesitzer*innen, mit Deregulierung und einem Staatsapparat, der diesen Interessen dient. Die Strategie, um das Volk den eigenen Henker wählen zu lassen, ist aus dem Repertoire Machiavellis: das Volk gegen die Volksvertreter*innen aufhetzen, sich als Principe (Führer) und Messias des Volkes inszenieren.
England als Singapur Europas.
So wird der nächste Wahlkampf aussehen, der letzte Woche begonnen hat: Ich, Boris Johnson, gebe euch den Brexit, den ihr demokratisch gewählt habt! Seht die Verräter auf der anderen Seite, die Abgeordneten, die über drei Jahre euch das versagt haben, worauf ihr einen Anspruch habt. Die Wahlhelfer von Boris werden sein: eine zersplitterte Opposition, ein überaltertes Wahlrecht („First pass the poll“), eine digitalisierte und manipulative Kampagne mit Hilfe der sozialen Medien, eine Presse, die unter Pressefreiheit das Recht versteht, die Meinung des Besitzers und der Redaktion zu verbreiten, die Silo-Mentalität der Internetgeneration, die nur noch Menschen gleicher Ideologie mit dem versorgt, was sie hören wollen; am wichtigsten aber: ein emotionales Narrativ, das die Menschen erreicht: Ich Boris Johnson befreie euch von der nicht funktionierenden Demokratie. Deswegen stehe ich auch über dem Recht. I am on high moral ground (eine Botschaft, für die Engländer*innen besonders empfänglich sind). Ein Einzelner gegen alle, eine Person gegen das System (sei es die EU oder das eigene Parlament).
Emotionales Narrativ: ich befreie euch!
Der wichtigste Wahlhelfer aber ist Dominic McKenzie Cummings. Nach dem Studium wechselte Cummings von 1994 bis 1997 ins postsowjetische Russland und arbeitete an verschiedenen Projekten. In einem russischen Unternehmen arbeitete er für eine Gruppe, die versuchte, eine Fluggesellschaft zu gründen, die Samara in Südrussland mit Wien verbindet; nach nur einem Flug wurde das Unternehmen aufgegeben. Von 2007 bis 2014 war er Sonderberater des damaligen Bildungsministers Michael Gove, der nun im Kabinett Minister für No-Deal Planungen ist. (Der „Secretary of State for Exiting the European Union” ist Stephen Barclay.) Von 2015 bis 2016 war Cummings der Kampagnenleiter von Vote Leave, die sich gegen eine Fortsetzung der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union wandte. Im Juli 2019 ernannte ihn der neue Premierminister Boris Johnson zum Sonderberater der Regierung. Manche bezeichnen ihn nicht als Nummer 2 in Number 10, sondern die Nummer 1; ein Mann, der nie demokratisch gewählt wurde und der den formalen demokratischen Prozessen nur ein müdes Lächeln abgewinnen kann.
Müdes Lächeln für die Demokratie.
Und der Brexit: der ist eine Nebensache, um den es gar nicht mehr geht. Die Achillessehne der EU ist Irland, und genau da wird die britische Regierung einen gezielten Schlag anbringen. Beim No Deal müssen die EU und Irland Grenzkontrollen errichten, schon um den Binnenmarkt zu schützen. Der hämische Kommentar der Brexiteers: Errichtet eure Kontrollen, schützt euren Binnenmarkt; wir haben daran kein Interesse und werden alles über die Grenze lassen, was unseren Interessen nützt. Und am Ende seid ihr es, die das Good Friday Agreement und den Frieden in Irland zerstört haben. „Take back control“ war einst das erfolgreiche Motto der Leave-Kampagne. Genau das wollen sie an der einzigen Landgrenze, die sie zur EU haben, nicht tun. Was für eine Verlogenheit und Doppelbödigkeit!
Die Häme der Brexiteers: no control!
Inzwischen gehen gewalttätige und rechtsextreme Brexiteers auf die Straßen und randalieren. Die Democratic Football Lads Alliance (DFLA) ruft zu Demonstration gegen Brexitgegner*innen auf; in rechtsextremen Kanälen werden in verschlüsselten Messaging-Apps die Gegner*innn als „Verräter“ und „Abschaum“ bezeichnet. Die Botschaften lauten so: “I predict a riot, then serious civil unrest until the 31st. Protect your loved ones and property, Britain is about to go in to biblical battle. Let’s fucking smash them! Britain take to the streets!” („Ich sage einen Aufstand voraus, dann schwere zivile Unruhen bis zum 31. Dezember. Schützen Sie Ihre Lieben und Ihr Eigentum, Großbritannien ist dabei, in den biblischen Kampf zu ziehen.“ „Haut sie alle um! Großbritannien, geh auf die Straße!“)
Vorbereitet werden diese Gewalttätigkeiten im Parlament. Die Regierung benutzt die Sprache der extremen Rechten und spielt mit deren extremistischen Narrativen. Boris Johnson bezeichnete den Gesetzentwurf der Oppositionsparteien zur Verhinderung eines No Deal Brexit als einen Schritt gegen den „demokratischen Willen des britischen Volkes“. Er beschrieb das vorgeschlagene Gesetz achtmal während der Sitzung als „Kapitulationsgesetz“; genau dieser Begriff wurde von den Extremist*innen auf der Straße wiederholt. Mit der Formulierung „Kapitulationsgesetz“ und der Positionierung als „Wille des Volkes“ hat er die Brexit-Debatte nationalistisch uminterpretiert.
Die zahlreichen medialen Erinnerungen an den Ersten und Zweiten Weltkrieg und die siegreiche Rolle der Engländer, die „on high moral ground“ das Böse besiegt haben, haben die Nation ja schon seit Jahrzehnten auf diese Endschlacht vorbereitet. Das gute England ist siegreich gegen das böse Deutschland (und jetzt die böse EU). Das ist ein Narrativ für Sieger! Damit gewinnt man das Herz und die Seele der Menschen. Das haben Johnson und die Rechten verstanden; das zu akzeptieren weigern sich die Intellektuellen aller Couleurs – in UK und in Europa, die sich auf ihrem „high intellectual ground“ so im Recht wähnen.
On high moral ground – das Narrativ für Sieger!
Boris Johnson erhält erhebliche Unterstützung von rechtsextremen Persönlichkeiten, darunter die ehemalige Vorsitzende von Britain First, Jayda Fransen, die Johnson für die „Säuberung der Verräter“ in seiner Partei lobte und andere aufforderte, sich hinter ihn zu stellen. Chloe Westley, die neue digitale Beraterin von Nr. 10, lobte Anne Marie Waters eine Verbündete des rechtsextremen Aktivisten Tommy Robinson als „Heldin“. Frau Waters ist eine ehemalige britische Spitzenkandidatin von UKIP, sie war stellvertretende Vorsitzende von Pegida UK, einer rechtsextremen Anti-Islam-Organisation, an deren Gründung sie zusammen mit Robinson beteiligt war. Es war genau dieser rechtsextreme Flügel, der zunächst das Ergebnis des Referendums von 2016 gefeiert hatte, dann aber die folgenden Verzögerungen zu einer „Erzählung des Verrats durch die Eliten“ interpretierte. Deren Gefühl des Verrats wird in Wut und Gewalt ausarten. Diese Leute wollen keinen Deal. Die Auseinandersetzung über den Brexit hat die Straße erreicht.
Die rechtsextreme Erzählung des Verrats durch die Eliten.
Mitglieder der „European Research Group“ (ERG), ein Block von Hardlinern innerhalb der Konservativen) nennen sich selbst „Spartaner“. Das „spartanische“ Bild verbindet die Intellektuellen der ERG mit den Straßenprotestierenden. Anscheinend inspiriert von der Geschichte des Comics und Films „300“, der den heldenhaften Widerstand einer kleinen Gruppe spartanischer Hoplit-Krieger gegen die einfallenden Perser bei der Schlacht von Thermopylen im Jahr 480 v. Chr. darstellt, trug mindestens ein Demonstrant einen hausgemachten Hoplit-Helm, als sich die Brexit-Anhänger*innen am 29. März 2019 auf dem Parlamentsplatz versammelten, dem ursprünglichen Tag des Austritts aus der EU. In ihrer Wahrnehmung stehen die Spartaner für Kampf, Entschlossenheit, Mut, grimmige Entschlossenheit und militärische Stärke.
Der militärische Kampf der Spartaner.
Es ist die vermeintliche Feigheit gegenüber der EU, die sie zu stürzen versuchen. Aber macht die Anlehnung an die Spartaner auch Sinn? Schon Jean-Jacques Rousseau pries die Kampfkunst der Spartaner über die Dekadenz und Verweichlichung (wie er sie sah) der europäischen Aufklärung. Die große Tragödie der spartanischen Tugenden ist jedoch, dass sie zwar den Spartanern geholfen hat, Kriege zu gewinnen, aber nicht ihnen geholfen hat, „den Frieden zu gewinnen“.
Anna Soubry, die ehemalige Torry-Abgeordnete, die ihre Partei aus Protest gegen den Brexit- Kurs verlassen hat und nun zur Gruppe „Change UK“ gehört, sagte am vergangenen Wochenende, sie sei zu ängstlich, um bei einer Anti-Brexit-Kundgebung auf dem Parlamentsplatz zu sprechen, weil sie von Pro-Leave-Protestierenden der Demokratischen Football Lads Alliance (DFLA) eingeschüchtert worden sei. Sie sagte: „Ich bin Parlamentarier und habe das Recht zu sprechen, und ich sollte keine Angst haben, aber es ist sehr, sehr, sehr, sehr beunruhigend, und ich habe sehr große Angst.“
ANGST
England im Spätsommer 2019. Eine gewählte Volksvertreterin hat Angst in der Öffentlichkeit zu sprechen. Hätten Sie das vor drei Jahren gedacht? Und die Bevölkerung? Was alle eint: We are fed up with Brexit! Aber dann ist es schon aus mit der Gemeinsamkeit. Am Brexit sind nicht nur Regierungen und Premierminister*innen gescheitert, sondern auch Freundschaften und Ehen. Im Curryclub unseres Dorf heißt es jetzt nicht mehr „Don’t mention the war!“ (da ich als Deutscher dabei bin), sondern: „Don‘t mention Brexit!“. Im Club sind 4 gegen den Brexit, 6 für den Brexit. Noch kochen wir miteinander! Aber das Land ist tief gespalten; egal, wie es politisch ausgeht, es ist vollkommen unklar, ob Großbritannien oder England wieder zu einer gemeinsamen Identität finden wird.
Nicht nur Anna Soubry, auch die Opposition, die Gerichte und die Bevölkerung werden Mut brauchen, um dem populistischen Kurs der Spartaner*innen etwas gegenzuhalten. Ob und wie das gelingen wird, ist vollkommen offen. Viele vertrauen auf eine Stabilität der politischen Systeme, sie hoffen insgeheim, dass Boris Johnson nur ein Spieler und kein Despot ist und im letzten Augenblick doch noch die Reißleine ziehen wird. Andere sehen das Ende der Demokratie in England schon besiegelt, die Union (aus England, Schottland und Wales) schon zerschlagen. Und da ist noch Nigel Farrage, der mit seiner Brexit-Partei die Torries und Boris Johnson vor sich hertreibt.
SCHWEIGEN
Und die Kirchen? In der Anglikanischen Kirche Englands haben seit 2016 mehrere einzelne Bischöfe in ihrer Eigenschaft als „Lords Spiritual“ sich mit Ausgewogenheit zu Wort gemeldet. Doch im Gegensatz zur (anglikanischen) Schottischen Episkopalkirche und zur (presbyterianischen) Church of Scotland – war die Church of England bisher nicht in der Lage, eine kollektive Stimme mit Autorität in das nationale Gespräch einzubringen. In der General-Synode (dem Leitungsorgan der Church of England) hat weder vor noch seit dem Referendum 2016 eine Debatte über den Brexit stattgefunden. Eine offensichtliche Erklärung für dieses Schweigen bietet sich an. Eine von dem Sozialarbeiter Greg Smith und der Soziologin Linda Woodhead durchgeführte Umfrage zum Ausgang des Referendums ergab, dass die englischen Anglikaner*innen beim Brexit genauso gespalten sind wie die allgemeine Bevölkerung, wobei 66% angeblich für „Leave“ gestimmt haben. Da fast alle Bischöfe „Remainer“ sind, hätte sich eine kollektive Intervention beim Thema Brexit als eine Brandstiftung im eigenen Haus erweisen können. Und die Katholische Kirche? Kardinal Vincent Nichols verkündete im Jahr 2018, dass der Austritt aus der Europäischen Union „komplexe Probleme schaffen“ und zu „weiterer Spaltung“ führen würde; im Jahr 2019 fügte er hinzu, dass es zwar viel Unsicherheit bei den Verhandlungen gebe, er aber „eine aufkommende Stimmung unter dem Menschen wahrnehme, man wolle sich nicht nach aussen abkapseln, sondern nach dem Brexit nach mehr Möglichkeiten suchen“.
Si tacuisses … !
Die katholische Wochenzeitung „Tablet“ positioniert sich eindeutig gegen den Brexit, wird aber in der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Den Katholik*innen hilft es auch wenig, dass der sich im Parlament auf die Bank lümmelnde Katholik Jacob Rees-Moog nicht nur der Anführer der Brexit-Hardliner ist, sondern durch seine ultrakonservativen Positionen bei Abtreibung und Homosexualität das britische Vorurteil der ewig gestrigen Katholik*innen bestätigt.
Hoffnung: Die Unvorhersehbarkeit des ovalen Rugbyballs.
Sonntag, der 8. September 2019, die neue Woche begann in Lincolnshire mit einem wundervoll sonnigen Spätsommertag; am Morgen hatte unser Sohn Rugby gespielt (Rugby wurde erfunden, damit Testosteron-gesteuerte Jugendliche ihre Aggressionen auf dem Spielfeld ausagieren können.). Ich fragte Karl McCartney, ein früheres Torry-Member of Parlament und Unterstützer der Leave-Kampagne, dessen Sohn in der gleichen Mannschaft spielt, warum denn der Rugbyball oval sei. Das komme von der Form der Schweineblase, aus der der erste Rugbyball gefertigt wurde. Die ovale Form sichert beim Spiel eine gewisse Unvorhersehbarkeit, da der Ball beim Aufprall springt, wie er will. Selbst die besten Spieler kriegen das Oval nicht immer dahin, wo sie wollen.
Mal sehen, was die nächsten Wochen bringen. Boris, der Spieler, mag Rugby, aber auch er kann nicht kontrollieren, wohin ein von ihm geschlagener Ball springt. Vom 20. September bis 2. November findet die Rugby-Weltmeisterschaft in Japan statt. Wenn das englische Team abfliegt, ist UK noch in der EU; mal sehen, wohin der Ball gesprungen ist, wenn es auf der Rückreise ist.
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Autor: Dr. Martin Ott, Potterhanworth/Lincolnshire, UK, Jahrgang 1957, Promotion in Religionswissenschaft und Ethnologie, Führungspositionen in privaten und staatlichen Organisationen sowie mittelständischen Unternehmen, Politikberatung und Management länderspezifischer Good-Governance-Projekte inkl. Private Public Partnership-Programme (Asien, Afrika und Osteueropa), Lehrauftrag University Lincoln/UK, zahlreiche Veröffentlichungen.
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