In einem Brief an Jesus formuliert eine Gewaltüberlebende ihre Gedanken. Bekenntnis und Sehnsucht, ins Wort gebracht an diesem Karfreitag, gerichtet an den Menschensohn, auf dem Weg nach Golgotha.
Jesus,
Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben (Joh 4,14a) ist ein mir wichtig gewordener Satz. Denn er zeigt mir, dass meine Sehnsüchte durch Hinwendung zu dir erfüllt werden können. Denn DU willst uns geben, was wir brauchen, aber DU überlässt uns dabei die Entscheidung, ob wir dein Wasser auch trinken.
Wie oft höre ich auf, davon zu trinken, habe ich wieder Durst angesichts der furchtbaren Dinge, die in der Welt geschehen. Oft bin ich aufgewühlt, ist mein Herz zwiegespalten, ohnmächtig und hilflos gewesen in meinem Leben. So oft dachte ich, dass mein Durst nach Gerechtigkeit und meine Sehnsucht nach Trost und Heilung, ob all dem, was meinen Brüdern und mir in unserer Kindheit angetan wurde, wohl nie gestillt werden wird. Jahrelang litt ich darunter, daß mich Stimmen, Klänge in bestimmten Situationen triggerten und ich ungewollt aggressiv auf Menschen reagierte, es anders machen wollte, aber nicht konnte. So oft entfernte und entferne ich mich von DIR, schaffte und schaffe es nicht in DEINER Liebe zu bleiben. Bis heute erscheint es mir darum wundersam, das ich trotz allem als Kind fähig wurde, DIR mein Leid zu klagen, ins Herzensgebet zu gehen und meine Gaben für Andere einzusetzen.
Jesus, ich weiß, wir Gewaltüberlebende sind alle verschieden und jeder von uns geht anders mit den uns sinnlos zugefügten Wunden um. Ja es kommt sogar vor, daß wir uns gegenseitig verletzen, z.B., weil diejenigen, die in der Kirche bleiben und von da versuchen Veränderungen herbeizuführen, von anderen wegen ebendieses individuellen Verarbeitungsweges verurteilt werden. Wir sind da wie alle Menschen eine heterogene Gruppe mit völlig unterschiedlichen Ansichten und Wegen.
So schaffen es die Einen, ihre Kraft für die Aufarbeitung einzusetzen, und andere, wie ich es bin, suchen nach Wegen, wie uns konkret in der Gegenwart geholfen werden müsste und welche Art der Theologie und Seelsorge nötig ist: Eine traumasensible!
Dabei gibt es tragfähige Entwürfe [1], aber sie sind noch – von einigen Ausnahmen abgesehen – so gut wie gar nicht im Blick der Bischöfe.
Jedem kann passieren, was uns geschah
Wie gut weiß ich um die Mühsal und Trippelschritte im Prozess des Verarbeitens der sinnlos erlittenen Wunden, wie der Ängste. Gerade darum verstehe ich die Ängste und Sehnsucht nach höchstmöglicher Sicherheit von Menschen, die zwar keine Gewaltüberlebenden sind, sich aber betroffen zeigen. Denn auch ich sehne mich danach. Ich verstehe auch jene, die darum die Lehre so belassen wollen, wie sie ist. Aber eben wegen meiner Verletzungsgeschichte weiß ich:
Diese Angst lügt und eine hundertprozentige Sicherheit im Leben gibt es nicht. Jedem kann passieren, was uns geschah. Wir Gewaltüberlebenden erinnern zudem schmerzlich alle Menschen daran, sind dadurch „Systemstörer“ und das ist so schwer zu ertragen. Da ist es leichter, es zu negieren, den Kopf in den Sand zu stecken oder sich um andere Probleme zu kümmern. Es ist leichter über uns, als mit uns zu sprechen und sich zu überlegen, wie konkret geholfen werden könnte.
Ich würde diesen Menschen so gerne erklären, wie schwer es ist, die erlittenen Wunden vernarben zu lassen, wie schwer, wenn nicht fast unmöglich es ist, DICH angesichts dieser sinnlos erlittenen Wunden in mir und bei anderen zu suchen. Wie sehr das Gefühl da sein kann, dass DU in Ihnen getötet wurdest, wie es bei der Gedenkfeier in Hildesheim letztes Jahr ein Gewaltüberlebender sagte. Kaum ist es für solche vorstellbar, dass DU ja doch in uns mitgelitten hast und mitleidest, wie ich es gnadenvoller Weise eines Tages für mich wahrnehmen durfte.
Dich in mir zu suchen…
Am schmerzhaftesten war für mich die Einsicht: Entscheidender für die eigene Heilung und Wandel ist es, bei mir anzufangen, DICH in mir zu suchen, als zu versuchen, vom Täter Einsicht, Reue und Wiedergutmachung zu erhalten. Denn die ist im Grunde nicht zu erwarten und tun mir darum nur wieder weh.
Der Schlüssel bist DU, der DU mir hilfst, meinen mühsamen und schmerzhaften Verarbeitungs- und Loslassprozess zu gehen, zu dem DU mich immer wieder behutsam einlädst.
DU weißt genau, was ich als Traumatisierte brauche, wie sehr ich als Gewaltüberlebende immer wieder mit falschen Schuldgefühlen ringe und mich nach einer Beichte sehnte. Denn aufgrund der Tatsache, dass mein „Täter“ hauptsächlich eine Frau war, entwickelte ich ein schwieriges Verhältnis zu meinem eigenen Geschlecht. Ich brauchte Jahrzehnte, um ein vertrauensvolles Verhältnis zu anderen Frauen wie zu mir selbst zu entwickeln.
Das war und ist der Knackpunkt!
Ich war so dankbar, als ich dann auf einen Priester traf, der vorsichtig und mit viel Einfühlungsvermögen begann, mich zu begleiten und mir half zu erkennen, dass es falsche Schuldgefühle waren, ich also dafür keine Beichte brauchte!
Nun erlitt ich psychischen Missbrauch durch eine Nonne, blieb verschont von sexuellem Missbrauch, bekam aber mit, wie mein eigener Bruder dies wohl einmal erlitt und wie er sich veränderte: die Angst, das Misstrauen, er jeglichen Glauben verlor …
Fiktive Schuldgefühle als falsche identifizieren…
Wie teuflisch mag es für die Männer sein, die trotz allem ebenso noch versuchen an DIR festzuhalten, die auch fiktive Schuldgefühle entwickelten und diese beichten möchten? Wie problematisch und unmöglich ist es für diese, sich an einen Mann wenden zu müssen, um das Sakrament der Beichte zu erhalten? Wurde doch mit dem Missbrauch das Vertrauen in das männliche Geschlecht auf so teuflische Weise zerstört. Schwester Kluitmann sagte es klar bei der letzten Synodalversammlung: „Missbrauchsbetroffene wünschen sich sehr häufig Liturgie von Frauen, Predigt von Frauen, die Möglichkeit von sakramentaler Beichte bei einer Frau!“ [2] Wohl genau deswegen!
Darin sehe ich einen Hauptgrund, warum Frauen die Erteilung des Sakramentes der Beichte ermöglicht werden muss!
Eine gut ausgebildete Seelsorgerin und Begleiterin könnte helfen, wieder Vertrauen in das eigene Geschlecht zu fassen und ihnen mit einem behutsamen „Beichtgespräch“ helfen, die fiktiven Schuldgefühle als falsch zu identifizieren. Aber das ist den meisten versperrt. Sie haben es um ein Vielfaches schwerer als ich, ihren Verarbeitungsweg zu gehen!
So viele Verletzungen und Verwundungen bei Gewaltüberlebenden, aber auch bei Frauen sind geschehen und geschehen noch, die nicht heilen können, weil die Kirche sich dem nicht genug stellt. Gewaltüberlebende wurden noch nicht genug mit einbezogen und es wird ihnen nach wie vor kaum geholfen. So vieles ist beim Synodalen Weg auf den Tisch gelegt und offenbart worden.
Wann, Jesus, begreifen endlich mehr Bischöfe und mehr Kardinäle, dass es neben der Aufarbeitung, dem Bekämpfen der systemischen und individuellen Ursachen darum gehen muss, das die Kirche sich wieder auf ihre ureigenste Aufgabe besinnen muss?
Ein Ort für den inneren Heilungsweg zu sein!
Bischof Heiner, in dessen Bistum ich lebe und mit dem ich schon sprechen konnte, bekräftigte erst kürzlich erneut [3], daß ihm die Ergebnisse und die Umsetzung der Beschlüsse des synodalen Weges am Herzen liegen. Das macht mir Hoffnung.
Auch darum hoffe ich, dass uns Gewaltüberlebenden, uns Frauen und so vielen anderen von der Kirche Verletzten doch noch in dieser Welt Gerechtigkeit und Heilung widerfahren wird und wir nicht damit warten müssen, bis wir dann bei DIR sind.
In Liebe verbunden
Deine suchende wie auch findende
Martha
[1] Siehe dazu M. Pflaum: Für eine Traumaexistentiale Theologie, Norderstedt 2020; A.Stahl: Traumasensible Seelsorge, Stuttgart 2019; S. Bobert: Fremder Schuld geopfert sein in: Wege zum Menschen 56, 421-435; www. Gottes-suche.de
[2] Gesagt am 2. Tag der letzten Synodalversammlung 2023
[3] https://www.bistum-hildesheim.de/fileadmin/dateien/PDFs/Pressetexte/Brief_des_Bischofs_zum_Synodalen_Weg.pdf
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Martha Marens (Pseudonym) war Lehrerin und ist ehrenamtlich als Kantorin und Organistin im Bistum Hildesheim tätig.
Bild: Dieter Schütz / pixelio.de